Deutsch-sowjetische Begegnungen

1951

Es war der erste sonnige, aber dennoch kühle Tag im März des Jahres 1951.

Ich stiefelte die Straße, die mehr Feldweg war, von Rothausen in Richtung Mendhausen, dem Nachbarort in der DDR, entlang. Durch den Regen der letzten Tage hatte sich der Weg durch das Grabfeld, dem Land um Bad Königshofen an der Grenze Bayerns zu Thüringen, in einen Streifen knöcheltiefen, zähen Lehms verwandelt, der in dicken Ballen an den Stiefeln kleben blieb. Die "Zonengrenze", wie nicht nur wir Zöllner sie nannten, war zu dieser Zeit zwar durch Barrieren von dicken Baumstämmen auf den Straßen gesperrt. Sonst war die Grenze aber nur durch rot-weiß gestrichene Pfähle gekennzeichnet, die in etwa 100-Meter-Abständen in die Erde gerammt worden waren - und deshalb schlecht erkennbar.

Als ich mich einer dieser Barrieren näherte, tauchte jenseits davon plötzlich ein Sowjetsoldat auf.

Überraschung! Seit mehr als einem Jahr war kein Sowjetsoldat einem Zöllner auf weniger als 200 Meter nahe gekommen. Wir waren damals in feldgraues Tuch gekleidet, das sich von der ehemaligen deutschen Wehrmachtsuniform, bis auf die Rangabzeichen, kaum unterscheiden ließ. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Sowjetsoldaten nur bayerische Grenzpolizisten gesehen, die dunkelgrüne Jacken und schwarze Hosen trugen. Die Männer in den anderen Uniformen, deren Farbe und Schnitt den meisten von ihnen aus dem Krieg wohlbekannt und zum Teil mit schlechten Erinnerungen verknüpft war, ließen sie wohl zurückschrecken.

Wie sehr verwunderte es mich deshalb, als der Soldat in erdbrauner Uniform mir zuwinkte und rief: "Komm!"

Wie sollte ich mich der neuen Situation stellen? Angst zu zeigen erschien mir angesichts der freundlichen Einladung ziemlich lächerlich. Meine durch Luftwaffenhelferzeit und die nachfolgenden, nicht immer "angenehmen" Begegnungen mit tschechoslowakischen Staatsorganen gestählte Psyche machte mich sorglos genug, auf dem Mann hinter der Barriere zuzugehen.

Er war augenscheinlich unbewaffnet. Nach seinem Aussehen war er höchstens 18 bis 20 Jahre alt. Als ich vor ihm stand, bemerkte ich, dass sein Karabiner mit eingeklapptem Bajonett an die Barriere gelehnt war. Für mich ein beruhigendes Gefühl, hatte ich doch unter meinem Lodenumhang meine Pistole, Marke FN, Kaliber 7,65, griffbereit.

Wir standen uns gegenüber und lächelten uns an. In welcher Sprache sollten wir uns verständigen? Worüber sollten wir reden? Wer hat welche Absichten? Da half eine anscheinend angeborene und deshalb instinktive Geste: Man biete einem Fremden, dessen Absichten man nicht kennt, als Zeichen eigener friedlicher Absichten ein Geschenk an. So war es auch hier. Fast gleichzeitig mit ihm, der ein von grobem Papier umhülltes Päckchen aus seiner Hosentasche zog, holte ich meine Tabaksdose mit Feinschnitttabak und Zigarettenblättchen heraus und bot meinem Gegenüber an, sich eine Zigarette zu drehen. Er lehnte mit einer Geste ab und hatte im Gegenzug aus seiner Hosentasche eine zusammengefaltete Zeitungsseite heraus gezogen. Daraus riss er ein rechteckiges Stück. Einen Teil des Namens der Zeitung konnte ich lesen: "Kras". Es war wohl das Titelblatt der "Krasnaja Swjesda" (Roter Stern), der sowjetischen Armeezeitung. Aus einem Papierpäckchen schüttete der Kamerad von der anderen Feldpostnummer eine undefinierbare grüne Masse in seinen Zeitungsfetzen, rollte ein zigarrendickes Würstchen und bot es mir an. Für sich formte er aus Zeitungspapier eine kleine Tüte, drehte sie am unteren Ende zusammen, füllte sie mit dem grünen Zeug und biss die Tüte am unteren Ende ab. Nun ähnelte sein Werk einer kleinen Tabakspfeife.

Leicht beleidigt, weil mein Geschenk abgelehnt worden war, wartete ich nun gespannt auf das Anzünden seiner Rauchwerke. Ein Stückchen schwammartiger Ingredienz, ein grauer Stein und ein einem abgebrochenen dicken Bleistift ähnelndes Gerät aus Eisen oder Stahl sollten wohl Feuer erzeugen. Mehrmalige Versuche führten zu keinem Ergebnis. Es war ihm peinlich, wie seine Miene zeigte.

Schon damals waren in Mitteleuropa Benzinfeuerzeuge seit Jahren im Gebrauch. Also zündete ich die Rauchwerke des jungen Mannes mit meinem Feuerzeug an. Da glänzten die Augen des Jungen und er gab den ersten Satz von sich: "Maschinka charascho" (Maschine gut). Ich wollte seiner Freundlichkeit begegnen und bedeutete ihm, dass ich ihm die "Maschinka", die damals 1,60 DM kostete, schenken wolle. "Nix" war seine Reaktion. Er zog aus der Brusttasche seiner Jacke einen 2 DM-Schein - den es damals noch gab - und reichte ihn mir über die Barriere. Das Feuerzeug wechselte seinen Besitzer.

Das Eis war gebrochen, nur die Verständigung war immer noch schwierig. Ich kramte meine marginalen, vor langen Jahren in der Schule und während meines dreijährigen Aufenthalts im Reichsprotektorat Böhmen und Mähren erworbenen Tschechischkenntnisse aus meinem Gedächtnis und siehe da, es funktionierte sogar einigermaßen. Ich erfuhr von ihm, dass er 18 Jahre alt sei, aus Charkow in der Ukraine komme und viel Heimweh habe. Von der dreijährigen Dienstzeit in der Roten Armee habe er gerade ein halbes Jahr abgeleistet. An Urlaub sei nicht zu denken.

Irgendwie war mir klar, dass diese "freundliche" Begegnung nicht von dem jungen Soldaten initiiert worden sein konnte. Ich vermutete, sein Kommandant müsse, vielleicht veranlasst durch den KGB, dieses Treffen absichtlich herbeigeführt haben, um Informationen über die "andere Seite" zu gewinnen. Mein Gesprächspartner, der auf seiner Bluse einen Orden trug, war wahrscheinlich gar nicht so harmlos, wie er sich gab. Zumindest schloss ich das aus seinen Fragen.

Er fragte mich, ob ich Soldat sei. Da er das tschechische Wort "Celnik", das "Zöllner" bedeutet, nicht verstand, schüttelte ich nur den Kopf. Dann meinte er, in Rothausen seien mindestens 50 "Soldaten" stationiert. Wir waren acht "Hanseln". Schlecht bezahlt (132 DM netto monatlich) und schlecht ausgerüstet. Außer unseren Pistolen gab es nur einen halbautomatischen amerikanischen Karabiner M 42, den wir "Paula" nannten, auf der GASt (Grenzaufsichtsstelle) in Rothausen. Aber auf Seiten der Roten Armee musste der Eindruck entstehen, wir seien so viele, weil wir zu völlig unregelmäßigen Zeiten unsere Streifen begannen und beendeten, während bei den sowjetischen Grenztruppen ein starres System der Ablösung der Streifen bestand, das bei den Deutschen in der DDR inzwischen von Rostock bis zu den Gleichbergen bekannt war. Das wussten wir von den vielen "Illegalen", - Republikflüchtige - die über die "grüne" Grenze kamen und die Ablösungszeiten der Streifen der Roten Armee ganz genau angeben konnten. Die kurzen Ablösungspausen nutzten sie zum Grenzübertritt.

Weil der junge Soldat mittlerweile wohl den Eindruck gewonnen hatte, aus mir sei nichts herauszuholen, bedankte er sich nur noch freundlich für das Feuerzeug und trat den Rückzug an. Da bemerkte ich, dass er nie allein gewesen war, denn aus dem rechten Straßengraben tauchte in etwa 30 Meter Entfernung ein weiterer Sowjetsoldat mit Maschinenpistole auf.

Mehr als einen Monat später, in einer Nacht im April, begann ich morgens um 4 Uhr - wieder allein - meine Grenzstreife, die nach Dienstplan um 10 Uhr enden sollte. Im Morgengrauen zog Nebel über den Wiesen beiderseits der Grenze auf. Es war kalt in den Hügeln des Vorlandes der Rhön.

Nachdem ich mich in einem Erdbunker, den wir Zöllner etwa 50 Meter vor der Grenze auf einem Hügel in einem kleinen Wäldchen selbst gebaut hatten, aufgewärmt hatte und der Morgen graute, ging ich durch die hüfthohen Fichten ins Tal, über dem sich der Nebel langsam auflöste.

An der Grenze angekommen, tauchten plötzlich zwei Sowjetsoldaten vor mir auf. Einer von ihnen war mein Rauchkamerad von der Barriere. Er winkte mich näher. Ohne Beachtung der Grenzpfähle ging ich auf ihn zu. Er hielt mir das erworbene Feuerzeug unter die Nase und fragte: "Maschinka kaputt. Wo Stein?". Ich zeigte ihm, wie man einen neuen Feuerstein einlegt. Da mischte sich der zweite, etwas ältere Soldat in das Gespräch. Er war offensichtlich ranghöher, trug er doch einen goldenen Streifen auf seinem Schulterstück. Vor der Brust hing eine Maschinenpistole mit einem Trommelmagazin.

"Du Natschalnik, du Pistole. Wo druge Kamerad?" fragte er. Ihn zu überzeugen, dass ich kein Offizier und auch kein Kamerad in der Nähe war, stellte sich wegen der Sprachschwierigkeiten als unmögliches Unterfangen heraus. Die Situation entspannte sich allerdings schneller als gedacht, als er meine Pistole sehen wollte. Ich bedeutete ihm, dies sei nur bei einem Austausch der Waffen zu machen. Zu meiner Überraschung gab er mir sofort seine MP in die Hand, zeigte mir den Sicherungshebel und den Griff zum Durchladen der Waffe. Ich tat ein Gleiches mit meiner Pistole. Er wunderte sich ob der Handlichkeit und des kleinen Gewichts der Pistole. Insbesondere war er von der Handballensicherung der FN beeindruckt.

Als wir die Waffen zurück getauscht hatten, war die Spannung schlagartig wieder da. Er hielt mir seine MP vor die Brust und sagte: "Du russka Zona, komm Kommando!" Nach kurzer Verblüffung fiel mir seine anfängliche Frage nach dem "druge" (anderen) Kameraden ein. Ich deutete auf die nahe Fichtenschonung, sagte "Bumm", ließ ein zischendes Geräusch hören und hielt den Finger an die Schläfe. "Du smrt", sagte ich. Ich wusste, das Wort "tot" ist im Tschechischen dem Russischen sehr ähnlich. Damit hatte er wohl nicht gerechnet. Er grinste: "Nix, ich Spaß", schulterte die von uns als "Chikagoklavier" bezeichnete MP, forderte seinen Kameraden zum Mitkommen auf und beide zogen in Richtung Mendhausen ab.

Erst jetzt wurde mir bewusst, dass ich bereits etwa 20 Meter auf DDR-Gebiet stand und dass mich nur meine Geistesgegenwart vor zumindest unangenehmen Folgen bewahrt hatte.