Sehen, hören und verschweigen

Vor einigen Jahren war ich auf einer Rundreise durch Israel. Zu den Besichtigungsstätten gehörte das Holocaust-Museum "Yad Vashem". Unter den dort ausgestellten Fotos entdeckte ich das Eingangstor zum Ghetto von Krakau. Zufälligerweise stand unser Reiseleiter neben mir, ein holländischer Jude namens Ron. Ich sagte zu ihm: "Durch dieses Tor bin ich schon einmal gegangen." Er fragte mich: "Bist du Jude"? Ich: "Nein, Deutscher." Er wunderte sich und ich erzählte ihm, wie es dazu kam.

Im Jahr 1942 wurde ich auf Grund eines Gesetzes von 1936 ins Landjahr (nicht zu verwechseln mit dem "Landdienst der Hitlerjugend") geschickt. Weshalb gerade ich, habe ich bis heute nicht erfahren.

Ich lebte - besser gesagt: vegetierte - damals in dem Landjahrlager Königsberg (heute Klimkovice) bei Mährisch-Ostrau. Im August 1942, auf einer so genannten "Großfahrt" mit täglichen 50-Kilometermärschen, erreichten wir endlich unser Ziel: Krakau. Unsere Unterkunft war dort eine SS-Kaserne unterhalb des Wawels, der mittelalterlichen polnischen Königsburg.

Mir war während einiger Besichtigungsgänge in Krakau schon aufgefallen, dass in der Stadt meist ältere Frauen mit weißen Armbinden mit einem blauen Davidstern zu sehen waren. Eines Tages führte uns unser Lagerführer Behrends, ein wegen einer Verwundung in Russland nicht mehr kriegsverwendungsfähiger SS-Führer, ins jüdische Ghetto. Wir gingen durch das schon erwähnte Tor. Auf der rechten Straßenseite standen leere Häuser mit Aufschriften in einer mir bis dahin unbekannten Schrift. Die linke Straßenseite war mit einem mindestens drei Meter hohen, doppelten Stacheldrahtzaun abgesperrt. Ich - mit meinen 14 Jahren - verstand nicht, weshalb Häuser leer standen, hinter dem Zaun aber reges Leben herrschte. Deshalb fragte ich Behrends, wo denn die Bewohner der leeren Häuser geblieben seien. Seine Antwort: "Die sind in Auschwitz mit ihren Läusen gestorben." Mit dieser Antwort konnte ich in diesem Moment nichts anfangen.

Hinter einem Tor im Zaun versammelten sich nach einigen Minuten eine Menge Kinder, die uns Jungen in der ihnen wohl unbekannten Uniform (grau, mit Hakenkreuz-Armbinde) auf Kinderart neugierig bestaunten. Und dann geschah, was heute noch ein Trauma für mich ist: Plötzlich erschien eine Gruppe von Männern in Uniform, mit Schirmmützen mit gelbem Davidstern. Sie schlugen mit Knüppeln auf die neugierigen Kinder ein und vertrieben sie vom Tor. Nach diesem Vorfall glaubte ich der Lüge der Nazis vom jüdischen Untermenschen.

Erst einige Zeit später, als ich über Behrends Ausspruch über das Sterben mit den Läusen in Auschwitz nachdachte, erinnerte ich mich daran, was mir mein Vater über das Entlausen von Uniformen im Ersten Weltkrieg erzählt hatte. Man verwendete Gas!!

So hatte Behrends dafür gesorgt, daß ich als 14jähriger wohl einer der Wenigen war, die bereits zu dieser Zeit ahnten, wie in Auschwitz Menschen ermordet wurden. Meine Gedanken behielt ich für mich, denn mir hätte sowieso niemand geglaubt.

Erst als ich im Dezember 1943 aus dem Landjahr nach Hause kam, sprach ich mit meinem Onkel Josef Bachmann, der das KZ Dachau von innen kannte, über dieses Erlebnis. Er warnte mich davor, mit jemandem darüber zu reden. Ihm habe der Lagerführer des KZ Dachau bei seiner Entlassung gesagt: "Wenn du etwas von dem verlauten lässt, was du hier gesehen hast, dann wirst du wieder hier sein. Aber dann wird das Dachauer Kommissbrot zu einem Kuchen. Du weißt wohl, wie lange das dauert."

Ich habe den Rat meines Onkels befolgt und habe geschwiegen.