Das große Klauen

(US-Army 1947)

Im Gegensatz zu dem durch den Krieg zerstörten und total verarmten Restdeutschland, in dem es an allem fehlte, fehlte es bei der US-Army an nichts. Im Gegenteil. Die amerikanischen Soldaten gingen mit den vorhandenen Ressourcen recht großzügig um. Kein Wunder also, wenn Deutsche, die das Glück hatten, für diese Armee zu arbeiten, bemüht waren, wenigstens ein kleines Stück des Kuchens zu ergattern. So auch zu meiner Zeit, als ich dort tätig war.

Wie aber kommt man an das Kuchenstück? Ganz einfach: Man nimmt mit, was man kriegen kann!

Wie sollte das aber gehen, wenn der Arbeitsplatz von einem doppelten Stacheldrahtzaun umgeben ist, der von Patrouillen in kurzen Abständen bewacht und überprüft und das einzige Tor durch einen Doppelposten kontrolliert wird? Über drei Tricks - zwei davon von mir selbst erprobt - möchte ich hier berichten.

Die 6. Ordnance - Kompanie der 1. US-Division hatte auf dem ehemaligen Flugplatz der Deutschen Luftwaffe in Würzburg im Flugzeughangar eine große Autowerkstatt eingerichtet, in der ich von 1947 bis 1950 als Automechaniker, Autoelektriker und Spezialist für Tachometer - siehe auch meine Erzählung "Besuch des Generals" - beschäftigt war.

Die Werkzeuge für die Reparatur der Jeeps, GMC-Laster und Chevrolet-Sattelschlepper mussten an einer rotbraunen Tafel an jeder Reparaturbox - es gab mindestens zwanzig solcher Boxen - immer griffbereit aufgehängt werden. Jeder, der in der Werkstatt arbeitete, konnte also zugreifen. Die Folge: An jedem Abend fehlten Schraubenzieher, Seitenschneider, Flachzangen, Beißzangen und Werkzeuge jeder Art, die man für Reparaturen in Haus und Garten brauchen oder in anderen Werkstätten verwenden konnte. An Schraubenschlüsseln hat sich keiner vergriffen. Sie passten nämlich nicht zu Schraubenmuttern mit DIN-Norm, denn sie waren für die ISA-Norm der USA ausgelegt.

Alle Versuche, der Diebe habhaft zu werden, waren zum Scheitern verurteilt. Denn die an der Box Tätigen konnten sich immer auf die Zugänglichkeit zu den Werkzeugen durch jedermann berufen. Der US-Werkstattleiter Mr. Offley drohte bei jeder Betriebsversammlung, alle, die beim Werkzeugklauen erwischt würden, sofort wegen Diebstahls von Armee-Eigentum anzuzeigen, was damals von US-Militärgerichten mit mehreren Jahren Zuchthaus geahndet werden konnte. Jeden Monat müsse er für mindestens 4000,- US-$ neue Werkzeuge anschaffen. So könne das nicht weiter gehen. Den Vorschlag, verschließbare Werkzeugkästen anzuschaffen, lehnte er jedoch strikt ab. Also blieb alles beim Alten.

Auf dem Hof vor der Halle war ein unverschlossener Tankwagen geparkt, der 32.000 Liter Benzin fassen konnte. Einige Arbeitskollegen hatten bereits Motorräder im Besitz. Jeden Morgen kamen sie mit dem letzten Tropfen Benzin im Tank auf dem Hof an. (Manchmal mussten sie die Maschine wegen des leeren Benzintanks das letzte Stück des Weges schieben.) Nach Feierabend fuhren sie dann fröhlich mit vollem Tank durch das Tor...

Meine Mutter brauchte niemals einen meiner Arbeitsanzüge zu waschen. In der Halle standen abgeschnittene Ölfässer, die mit 10 bis 20 Litern Benzin aus dem Tankwagen gefüllt wurden, um darin Motoren, Getriebe und andere verölte Teile zu säubern. Das galt auch für unsere meist ziemlich verschmutzten Arbeitsanzüge. Sie wurden am Samstagvormittag - der Samstag war zu dieser Zeit noch ein Arbeitstag - in Benzin gewaschen. Am Montagmorgen waren sie wieder blitzsauber.

Nach einiger Zeit merkte Mr. Offley, dass der Benzinverbrauch alle Grenzen sprengte. Er ließ deshalb am Ablasshahn des Tankwagens ein Vorhängeschloss anbringen, dessen Schlüssel er einem Vorarbeiter übergab, dem er besonders vertraute. Von Tankwagen verstand der Mister offenbar nichts. Er hatte nämlich die unverschlossene Einfüllklappe an der Oberseite des Tanks übersehen. Gummischläuche wurden daraufhin in der Werkstatt rar. Der Benzinverbrauch wurde nicht gesenkt.

Wie aber bringt man Unmengen von Werkzeug durch das bewachte Tor, wenn des Öfteren jede Tasche zur Kontrolle geöffnet werden musste? Ganz einfach!

Damals war es auf jeder US-Army-Base Brauch, um 17 Uhr zum Einholen der Nationalflagge einen Kanonenschuss abzufeuern, dem (natürlich aus einem Lautsprecher) die Nationalhymne folgte, wenn die Flagge eingeholt wurde. Wie allgemein bekannt, wenden US-Amerikaner sich in diesem Fall, auch wenn sie Zivilisten sind, der Flagge zu und legen die rechte Hand aufs Herz. Auch in der Armee ist das ähnlich. Die Soldaten blicken auf die Flagge, stehen stramm und legen die Hand an die Mütze oder den Helm. In unserem Fall stand der Flaggenmast so, dass die Posten am Tor dem Ausgang den Rücken zuwenden mussten, wenn sie die Flagge grüßen wollten. Schon Minuten vor dieser Zeit wusste jeder von uns, wer gerade "organisiert"* hatte. Die Kollegen drückten sich hinter abgestellten Fahrzeugen so lange herum, bis der Kanonenschuss ertönte. Dann begann der Ameisenzug der "Organisierer" durch das Tor nach draußen. Die Amerikaner kamen nie hinter diesen Trick.

Am dritten Trick war ich nicht unmaßgeblich beteiligt. Meines Wissens wurde er aber nur einmal angewendet.

Die US-Soldaten wollten uns Deutschen vor Weihnachten 1947 eine Freude machen und bereiteten eine Weihnachtsfeier für uns vor. Die Werkstatthalle hatten sie weihnachtlich geschmückt, eine lange Tafel aufgestellt, es gab nicht das übliche Armee-Essen - das sonst ziemlich eintönig war - und vor jedem Platz lag eine Stange Zigaretten und stand eine Flasche Whiskey.

Am Tag zuvor fragte mich mein gewöhnlich gut unterrichteter Boxenkamerad, namens Ermoneits, ein Litauer, ob ich einigermaßen Englisch spräche. Als ich bejahte, meinte er, bei der Weihnachtsfeier habe er eine Aufgabe für mich, die mir einiges einbringen könne. Am Abend der Feier gäbe es nur einen Posten am Tor und man wisse, dass dieser dem Alkohol nicht abgeneigt sei. Außerdem sei er kein Berufssoldat, sondern ein junger Wehrpflichtiger. Ich bekäme eine Flasche Whiskey, solle mit dem Jungen sehr freundlich sein und ihn mit Alkohol "einschläfern". Mehr brauche ich nicht zu wissen. Das Salär für meine "Mühe" seien fünf Stangen "Lucky Strike", damals ein Wert von 5000 Reichsmark. Im Tauschhandel brachten sie meistens noch mehr ein.

Einige Tage später erzählte mir Ermoneits unter dem Siegel äußerster Verschwiegenheit, was geschehen war.

Ermoneits und seine Bande hatten aus einem riesigen Stapel neuer Autoreifen, der auf dem Werkstattgelände lag, einen großen Teil "organisiert", indem sie, während mein junger Soldat schlief, zwei Löcher in den Stacheldrahtzaun geschnitten und die Reifen auf einen hinter dem Zaun wartenden Lastwagen verladen hatten.

Dieser Diebstahl von Armee-Eigentum wurde zwar bemerkt, aber nie aufgeklärt.
Wilde Zeiten, wilde Sitten!

  • Euphemistischer Ausdruck im Soldatenjargon für "stehlen".