Befürchten Sie das Beste!

fordert mich ein großformatiges Plakat im Züricher Hauptbahnhof auf, unmittelbar nachdem ich den ICE verlassen habe. Versicherungswerbung. Ein passendes Motto für meinen ersten Besuch in Zürich, Züri, Zurigo, Zureich. Eine Sache, die mir sehr am Herzen liegt, führt mich in die schweizerische Stadt, der man höchste Lebensqualität bescheinigt.

Heute ist der erste Samstag im Mai 2007; ein außergewöhnlich warmer und trockener April hatte einen glänzenden Abgang und der Mai einen sonnigen Auftakt. Nun regnet es, es wird den ganzen Tag regnen, der Himmel ist hoffnungslos grau. Über den bewaldeten Hügeln, die mich an die Kessellage Stuttgarts erinnern, drücken sich schwere Wolken in die Stadt. Auch der Bahnhof weckt Assoziationen mit meiner Stadt. Ein Sackbahnhof, mitten im Zentrum, dem sich die Haupteinkaufsstraße anschließt. Es ist kühl. Kein Wetter, um eine Stadt zu erkunden, deren Entree bereits verspricht, dass sich das auch architektonisch lohnen würde.

Mein Ziel ist der Strauhof, ein kleines, feines Kunst- und Literatur-Museum mit wechselnden Ausstellungen. In dem ehemaligen Wohnhaus, das, herausgeputzt wie die Gebäude in der Nachbarschaft, noch schwach von längst vergangenen Zeiten Zürichs erzählt und heute eher niedlich wirkt, werden für einige Wochen Teile des literarischen Nachlasses einer großen Schriftstellerin präsentiert. Zu ihr passt dieses Wetter besser als strahlender Sonnenschein, obwohl sie in einem Süden geboren wurde und in einem anderen starb. Befürchten Sie das Beste! Diesen Imperativ, von Werbetextern gedrechselt, hätte die Meisterin der gletscherklaren Sprache niemals verwendet. Im Strauhof wird das Leben und Werk von Patricia Highsmith präsentiert.

Patricia Highsmith. Ich bin ihr nie persönlich begegnet, obwohl das auf oberflächliche Weise vermutlich möglich gewesen wäre. Dennoch hat sie mich etliche Jahre, Jahrzehnte jetzt schon, immer wieder literarisch begleitet. Meine Existenz, wäre sie mit ihr konfrontiert worden, hätte zu den vielen Zumutungen gezählt, die das Leben für sie bereithielt: Ich bin ihre Leserin. Eine von den vielen und dann auch wieder nicht so vielen, denen sie durch ihre Bücher tiefe Einblicke in ihre Seele gewährte. Grund genug für sie, die Leser im wirklichen Leben wie die Krätze zu meiden. Und Grund genug für mich, der Versuchung, sie bei einer ihrer Lesungen zu sehen, nicht nachzugeben. Sie nie getroffen zu haben ist nicht so herb, wie von ihr nicht wahrgenommen, oder, schlimmer noch, mit missbilligenden Blicken durchbohrt worden zu sein. Nein, dem habe ich mich nie ausgesetzt und es doch sehr bedauert, als ihr Tod diese Tatsache unabänderlich machte. Dennoch – Prominente sind fiktive Persönlichkeiten, nur scheinbar vertraut. Eine Begegnung mit ihr hätte mir das nur allzu sehr verdeutlicht. Darauf legte ich keinen Wert.

Anfang der 1970er Jahre, zu Beginn meiner Jugend, fand ich heraus, dass ich mein plötzlich ins Schlingern geratenes Innenleben durch das Lesen stabilisieren und in ruhigeres Fahrwasser bringen konnte. Ich entdeckte, dass Bücher Schlüssel zum Universum waren, das sich schwindelerregend hoch über meine enge, kleinbürgerliche Alltagswelt spannte. Ich entdeckte vor allem, dass ich durch das Abtauchen in sie die unangenehmen oder auch nur langweiligen Seiten des realen Seins abfedern konnte und dass ich beim Lesen dem Glück verdammt nahe kam. Letzteres war meine wichtigste Entdeckung.

Das funktionierte aber bei weitem nicht mit jeder Lektüre; es galt klug zu wählen. Irgendwann einmal verhalf mir Margaret Millar zum gedanklichen Sprung in die USA. In der gelb-schwarzen Reihe, in der ihre Bücher in deutscher Sprache erschienen, hatte ich schon einiges zum Schmökern gefunden, was mir sehr gefiel. (Später wurden meine überwiegend mit gelb-schwarzen und schwarzen Büchern gefüllten Regale dann zunehmend bunter und frecher und heute sind sie mit auffallend vielen weißen Buchrücken durchsetzt, glänzend, durch die Schutzumschläge der gebundenen Ausgaben, die die wahre Farbe des Buches nicht auf den ersten Blick preisgeben.)

Es war nur eine Frage der Zeit, bis ich beispielsweise auf „Zwei Fremde im Zug“, „Der Stümper“, „Venedig kann sehr kalt sein“ und „Stille Wasser“ aufmerksam wurde. Ich hatte PH für mich entdeckt und fortan bereicherte ein Schuss Highsmith mein konventionelles Leben. Wie so häufig, kommt es auf die Dosis an, ob etwas hilft oder schadet.
Hätte mich als Teenager jemand gefragt, was mich an ihren Geschichten so faszinierte, was mich so sehr in deren Bann zog, wäre mir das unangenehm gewesen und ich hätte nur vage antworten können. Ich fühlte zwar, dass ich mich „im Schutz einer großen Schriftstellerin“ befand, aber ich hätte es nicht so schön und treffend ausdrücken können, weil ich Peter Handkes „private Weltkriege der Patricia Highsmith“ noch lange nicht gelesen hatte. Eine wunderbare Formulierung. Sehr treffend. Kürzlich habe ich seine früheren zu Papier gebrachten Gedanken zu PH wieder gelesen und festgestellt, dass ihm, wie den meisten anderen auch, die sich mit ihr beschäftigten, der Schlüssel zum wirklichen Verständnis ihrer Bücher entweder fehlte oder nicht verwendet wurde. Der Zugang kann nur über Patricia Highsmith selbst erfolgen, und die gab zu Lebzeiten wenig preis.

Das Dilemma, das ihre Geschichten immer spiegelten, und vor allem auch ihr komplexes, dunkles und merkwürdiges Innenleben, was sie aber vor der Außenwelt weitgehend verheimlichen wollte, machten jedes Interview mit ihr zu einer qualvollen Angelegenheit. Das galt für beide Seiten. Für sie war es wie der Gang zum Zahnarzt, höchst unangenehm, aber unvermeidlich. In der Ausstellung gibt es Filmausschnitte, die zeigen, wie sie sich Journalisten stellte. Es ist ein fast boshaftes Vergnügen zuzuhören, mit welch einfach gestrickten Antworten diese intelligente und gebildete Frau ihre Gesprächspartner subtil und höflich auf Distanz hielt und dabei verschlossen wie eine Auster blieb. Oh, wie sehr hasste sie es, wenn man versuchte, ihr zu nahe zu treten! Warum gaben sich die professionellen Berichterstatter mit diesen dürren Worten zufrieden? Weil wirklich nicht mehr aus ihr herauszuholen war? Steckte da manchmal etwas anderes dahinter? Ich frage mich, wie viele Menschen um ihre Homosexualität, die sie ja auslebte, aber nie öffentlich preisgab, wirklich wussten.

Ahnen konnte das jeder aufmerksame Leser schon lange bevor sie „Salz und sein Preis“ als „Carol“ zögernd unter ihrem richtigen Namen veröffentlichen ließ, das, wie ich jetzt weiß, sehr genaue Einblicke in das Seelenleben der jungen Highsmith erlaubt. Ein „coming out“ verband sie aber auch damit nicht. Therese. Das war auch sie, zu einer Zeit, als sie noch mit der Zuversicht der Jugend in die Zukunft sah. Carol blieb das Ideal, das sie nie fand; nicht in tausend Städten, nicht in fremden Ländern. Vermutlich wollte sie das auch gar nicht wirklich. An ihrer Realität und der von anderen musste jede ihrer Beziehungen scheitern. Sogar die zur Mutter, die von Anfang an dazu verurteilt war. Aber ihre schwierigen, gescheiterten Beziehungen, besonders am Anfang und in der Mitte ihrer Karriere, waren der Treibstoff, mit dem sie ihre Geschichten zu Papier brachte. Und die hatten es in sich.

Den sexuell unscheinbaren Tom Ripley trennt nur ein streichholzdünner Schritt von der Homosexualität. Seine Ehe mit dem Luxusgeschöpf Heloise ist nicht sehr glaubhaft. Selbst dann, wenn die beiden miteinander ins Bett gehen, ist es so, als würden zwei Menschen, die sich kaum kennen, gesellschaftlich höflich miteinander verkehren. Sex spielt in PHs Büchern unterschwellig aber immer eine Rolle, auch wenn sie vordergründig nahezu sexfrei sind. Ich hatte vom ersten Ripley-Band an das Gefühl, dass in ihm viel von PH steckt. Aber dass dieser chamäleonartige, lernfähige Egoist und skrupellose Mörder, der immer wieder davonkommt, fast als ihr Alter Ego gelten kann, wurde mir erst wirklich klar, als ich Andrew Wilsons Biographie las. Sicher, in dieser wird spekuliert und interpretiert, was das Zeug hält. Die Detailfülle, gespeist aus einem sehr umfangreichen Nachlass, bietet viele Gelegenheiten dazu und es erstaunt mich nicht, dass eine „Gegenbiographie“ bereits im Entstehen sein soll. Heute jedoch sehe ich mit eigenen Augen, schwarz auf weiß, in ihrer eigenen Schrift, welch’ hohen Stellenwert sie dieser literarischen Figur, ihrer Schöpfung, in ihren Notizbüchern, Briefen und sogar auf Urkunden einräumte und wie sie sich mit ihm identifizierte.

Tom Ripley ist unter uns. Der Antiheld ist ihr Vermächtnis an die menschliche Gemeinschaft und ihre Abgründe.

Wenn Schriftsteller behaupten, dass ihre Geschichten nichts oder nicht viel mit ihnen selbst zu tun haben, fällt es mir sehr schwer, das zu glauben. Ich vermute immer das Gegenteil, nämlich dass Schriftsteller nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das anderer Menschen hemmungslos für ihre Werke ausschlachten. Warum sollten sie dieses kostbare Rohmaterial auch missachten? Damit meine ich natürlich nicht, dass die portraitierten Personen unbedingt eins zu eins zwischen zwei Buchdeckel transferiert werden, sondern dass literarische Figuren einzelne Charakterzüge von einer oder mehreren realen Personen erhalten, nicht zuletzt eben auch welche vom Autor selbst.
Die fast stereotype Aussage: „Ich habe einen Roman geschrieben; die Personen haben nichts mit mir oder meinem Leben zu tun!“, werte ich meist als (notwendige) Schutzbehauptung. Was sagte PH immer? „Ich will mit meinen Geschichten die Leser nur unterhalten.“ Von wegen! Unsere Unterhaltung war bestimmt nicht ihre Triebfeder. Sie schielte beim Schreiben nicht nach uns Lesern. PH schrieb sich aus der realen Welt hinaus und gleichzeitig war das Schreiben ihre Strategie, in dieser zu überleben. Sie hätte vermutlich auch dann geschrieben, wenn keine ihrer Geschichten je veröffentlicht worden wäre. Das war zum Glück aber nicht der Fall, weil sich echtes Talent meist Bahn bricht.

Doch zurück nach Zürich. Einen Stadtplan habe ich nicht, aber die Augustinergasse ist leicht zu finden. Bei der Touristik-Information liegen nur Pläne von Stuttgart aus. Kurios. Links und rechts die Schaufensterauslagen betrachtend, fängt mich plötzlich PHs intensiver Blick ein, allerdings einäugig, die Pupille des linken Auges ist exakt von einem samtigen Katzenohr verdeckt. Ertappt lasse ich alle Nichtigkeiten sein und strebe dem Eingang des Museums zu. Unmittelbar neben dem Eingang befindet sich ein Sackgassensymbol mit dem Vermerk „Für Fußgänger durchgängig“. Das ist nett, bei uns in Deutschland muss man so etwas selbst herausfinden. Ich atme durch, öffne die Tür, entrichte meinen Obolus und stehe vor einer Diashow mit Bildern von PH, die sie in unterschiedlichen Lebensphasen zeigen.

Die Schriftstellerin gehörte der Generation meiner Eltern an, fast schon der meiner Großeltern. Die von ihr veröffentlichten Bilder in Büchern und Zeitungsartikeln, die ich kenne, zeigen der Öffentlichkeit fast immer das Gesicht der älteren Frau. Sie war einst sehr schön, rassig, wie mir der 1980 erschienene Band „Über Patricia Highsmith“ schon vor langer Zeit vor Augen führte. Er enthielt ein Kapitel mit Fotos, die von ihr sehr aufschlussreich kommentiert wurden. Eins davon zeigt sie mit 21, „frisch aus dem Barnard College“. Es stammt aus jener Serie von Fotos, die Rolf Tietges von ihr gemacht hat. Mit einem Anflug von jenem Dünkel, der unangestrengt gutes Aussehen oft mit sich bringt, blickt sie herausfordernd in die Kamera, gekleidet mit einer weißen Bluse, ein lebenslang bevorzugtes Outfit. „Das Leben ist mir nie wie ein Rosengarten vorgekommen“ steht darunter.

Weitere Fotos aus dieser Reihe enthält ihre Biografie. Im Strauhof lasse ich die Bilder im ersten Raum lange Zeit auf mich wirken. Es sind viele. Auch visuell ist ihr Leben gut dokumentiert. An den Wänden formt sich Ihr bebilderter Lebenslauf zu einem schmückenden Fries. Zwischen 1924 und 27 sehe ich ein kleines Mädchen in Ringelstrümpfen, die in unterschiedlicher Höhe unterhalb der Knie enden. Der Schnappschuss muss in New York entstanden sein, im Hintergrund sieht man die älteren Wolkenkratzer der Stadt. PH lehnt an etwas, vielleicht an einem Hydranten, und schaut schief in die Kamera. Der Platz ist weitläufig. Im Hintergrund sind etliche Menschen, aber um sie herum ist alles leer. 1931, das Bild ihrer Großeltern mütterlicherseits. „American Gothic“, Grant Woods bekanntestes Bild, fällt mir beim Betrachten ihrer Gesichter ein. Von Großvater Coates hatte sie die langen, schlanken Finger, die großen Hände. Im Wesentlichen sah sie aber ihrem Vater ähnlich, jenem dunklen, gut aussehenden Mann, den ihre Mutter heiratete, nicht lange nachdem ein Foto von ihm, ausgestellt in einem Atelier, sie nachhaltig fasziniert hatte.

In dieser Ehe lief sehr schnell etwas gründlich schief, vielleicht sogar von Anfang an. PH wurde neun Tage nach der Scheidung der Eltern geboren. Ein Abtreibungsversuch ihrer Mutter scheiterte.

Mary Coates war im Gegensatz zu ihrer Tochter eine bemühte Schönheit. Sie muss sehr viel Wert auf Äußerlichkeiten gelegt haben. Ihre extravagante Kleidung, perfekte Schminke und eine stets affektierte Haltung, aber eben auch die Wahl ihres ersten Ehemanns, Jay Bernard Plangman, belegen dies. Aus dem Besitz von Mary Coates gibt es ein persönliches Fotoalbum in der Ausstellung, von ihrer Tochter zwei. Perfekt kopiert liegen sie an Ketten bereit und erwecken fast den Eindruck von Originalalben. Sogar Klebeflecken, auf denen nicht mehr vorhandene Fotos fixiert waren, sind zu erkennen. Lange blättere ich darin, sehe die junge Highsmith, eine biegsame, gertenschlanke und schwarzhaarige Schönheit mit dunklen Augen, in unterschiedlichen Aufmachungen, zum Beispiel sehr konventionell in einem knielangen Rock und mit Hut. Ich sehe sie fast noch als Baby, kugelrund, mit Schlitzaugen und Pausbacken.

Auf einem anderen Foto ist sie mit ihrem Vetter Dan abgebildet, mit dem sie zeitweise bei den Großeltern lebte und den sie wie einen Bruder akzeptierte. Er wiederum war ein bodenständiger Texaner, der sie mit „Sis Pat“ titulierte. Es gibt einen Brief von ihm in der Ausstellung, der zeigt, dass sein Naturell völlig anders gewesen sein muss, als das der Adressatin. Sein Briefpapier lässt Rückschlüsse auf sein Wesen zu. Es erweckt den Eindruck, dass es einem bodenständigen, optimistischen und zuversichtlichen Mann gehörte, der ordentlich Werbung für seine Rodeoaktivitäten machte – und mit Schreiben nicht viel am stattlichen, texanischen Hut hatte. Den Briefkopf ziert großzügig sein Name, Dan O. Coates, aus einem stilisierten Lasso gebildet. Der Bogen wird von vielen kleinen, eingedruckten Fotos umrahmt, sodass für den Text in der Mitte herzlich wenig Platz bleibt. Seine tiefe, angenehme Stimme klang so, wie man das von einem Texaner erwartet. Dieses Wissen habe ich natürlich nicht aus einem Brief an PH gewonnen, sondern aus dem Abhören eines Tonbands. Darin teilt er seiner Cousine mit, dass das Haus ihrer Mutter, bei der sich nach dem Tod ihres Mannes Demenz ins Leben zu schleichen begann, völlig abgebrannt ist. Eine unbeaufsichtigt brennende Zigarette war vermutlich die Ursache. Dieses Schreckensszenario beschrieb er mit wohlklingender Stimme. Sein „P A T“ klang dabei so breit, dass man mit diesen drei Buchstaben eine ganzseitige Zeitungsüberschrift hätte mühelos gestalten können.

Ich ertappe mich dabei, dass ich angespannt auf eine Erwiderung von PH warte, was natürlich ausbleibt. Wie fassungslos muss sie dieses Tonband einst abgehört haben. Angespannt bin ich aber auch, weil ich stets das Gefühl habe, dass ich hier Dinge höre und sehe, die mich nichts angehen. Beim Blättern durch die Fotoalben bilde ich mir ein, Blicke im Nacken zu spüren, die meine Neugierde missbilligen. Aber es ist niemand da, ich bin allein im stillen Raum. An diesem Vormittag besuchen außer mir nur zwei weitere Frauen die Ausstellung. Sie bleiben vermutlich nicht lange und ich nehme sie ohnehin nur flüchtig wahr. Von ihnen abgesehen, habe ich bis zum frühen Nachmittag die Ausstellung fast für mich. Das hatte ich nicht zu hoffen gewagt, wenn ich auch auf wenig Publikumsverkehr in den frühen Stunden setzte.

Was hat Patricia Highsmith, die sich doch so gerne anderen entzog, bewogen, neben ihren Manuskripten auch ihre sehr privaten Sachen zurückzulassen und den Augen Fremder preiszugeben? Sie starb nicht sehr plötzlich; ihr Tod kündigte sich an. („Mein Zustand ist völlig hoffnungslos.“) Es wäre noch genug Zeit geblieben, zu sichten, zu vernichten. Die eifrige Chronistin des eigenen Lebens und Schaffens war doch immer so sehr bemüht, ihre Aufzeichnungen vor anderen geheim zu halten und fürchtete, dass Unbefugte sie lesen könnten. In „Ediths Tagebuch“ hat sie das Leid der Protagonistin durch die Übertragung dieser ureigenen Ängste noch forciert. Frank Schirrmacher schrieb einmal im Zusammenhang mit PH und ihrer Angst vor dem Tod, dass sie sich Sorgen um ihre Aufzeichnungen machte. In dem Buch „Patricia Highsmith, Leben und Werk“ (überarbeitete, ergänzte Ausgabe von „Über Patricia Highsmith“, beide Diogenes) heißt es: „Wie in einer langsam näher kommenden Kamerafahrt sah sie dann ihr leeres Haus vor sich, das kalte Arbeitszimmer, den verlassenen Schreibtisch, die geöffneten Schubladen und darin schließlich ihre unbewacht zurückgebliebenen Manuskripte. „Kriminalschriftsteller sollten ihre Papiere rechtzeitig verbrennen...“ Sie hat es nicht getan.

Was waren ihre Beweggründe? Wollte sie, dass nach ihrem Tod die Karten komplett auf den Tisch kamen? Wollte sie posthum besser verstanden werden? Wollte sie, dass ihr lebenslanges Versteckspiel mit ihrem Tod endlich endete? Oder brachte sie es einfach nicht übers Herz, diese Unterlagen, die sie teilweise seit Jahrzehnten in einem rastlosen Leben mit sich führte, um sich hatte, zu vernichten? Ich habe sie nicht gekannt, ich weiß es nicht. Ich bin traurig.

PH hat den Siegeszug des Computers nicht mehr erlebt. Dass ins Internet gestellte Bilder von ihr und ihren Aufzeichnungen heute ganz einfach auch im letzten Winkel der Welt abgerufen und mühelos vervielfältigt, ja eventuell sogar perfekt verändert werden können, konnte sie nicht ahnen. Diese Ausstellung ist liebevoll und aufmerksam gestaltet, man spürt die Achtung, die ihr hier in Zürich, wo ihr Verlag seinen Sitz hat, entgegengebracht wird. Aber war es das, was sie wollte? Vielleicht hätte sie sich ausschließlich eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung gewünscht und diese Ausstellung verächtlich abgetan. Gut möglich. Ich bin ambivalent in meinen Gefühlen, aber wann wäre ich das, was PH betrifft, jemals nicht gewesen. Ich beschließe, mich einfach über diese Ausstellung zu freuen, die mir PH auf eine Weise nahebringt, die zu ihren Lebzeiten völlig ausgeschlossen war, und meine Neugier zuzulassen.

Dass sich die Sammlung überhaupt im Schweizer Literaturarchiv befindet, ist dem Diogenes-Verleger Daniel Keel (einem „Darling“) zu verdanken. Wie kein anderer hat er das Schaffen von PH gefördert. Salopp kann man sagen, er hat sie „zum Star gemacht“ und ihrem Werk ein Zuhause gegeben. So ist in der Ausstellung sein Brief an den damaligen Leiter des Archivs, Dr. Thomas Feitknecht, zu finden, in dem er, wenige Monate vor ihrem Tod, eindringlich dafür wirbt, dass die Eidgenossen den Highsmith-Nachlass übernehmen. Die Zeit drängte und in den Vereinigten Staaten war der Erwerb für unangemessene 28.000 $ im Gespräch. Außerdem hatte sich die Schriftstellerin um die schweizerische Staatsangehörigkeit bemüht und sich damit endgültig zu jenem „Klub“ bekennen wollen, „dem nicht jeder beitreten will“ (und vor allem nicht darf). Ihr Tod verhinderte dieses formale Bekenntnis zur Wahlheimat, und so starb sie als Amerikanerin, Texanerin im Tessin. Das schreibt und spricht sich leicht, aber dahinter verbirgt sich ihre Verweigerung einer Heimat über den Tod hinaus. PH hat ihre letzte Ruhestätte in Tegna, einem Ort, der vom Tiefen Süden der Vereinigten Staaten nicht nur geografisch fast endlos weit entfernt ist. Ich bin froh darüber, dass ihr Nachlass in der Schweiz, im Tresor Europas, bleibt. Nirgendwo wurde sie so sehr geschätzt, wie im deutschsprachigen Raum. Für amerikanische Befindlichkeiten war sie zu eigen, zu seltsam. Sie hatte etwas zutiefst Selbst-quälerisches und es wundert mich nicht, dass sich ihre Bücher gerade in Deutschland am besten verkaufen.

Nachdem ich mich von meinen Skrupeln einigermaßen freigesprochen habe, vertiefe ich mich weiter in die Schätze dieser Ausstellung. Eine unglaubliche Fülle von Aufzeichnungen dokumentieren das Leben der Schriftstellerin. Ich weiß, dass sie noch umfangreicher sind und hier nur ein Teil zu sehen ist. Gegenstände, die ihr gehörten, werden auch präsentiert. Da ist ihre braune Reiseschreibmaschine, eine Olympia De Luxe, nahezu ein halbes Jahrhundert alt, mit abgewetzten Kanten wie bei Ediths Maschine. Schreibmaschinen sind heute Relikte aus einer anderen Zeit, Sammler- und Museumsstücke. Diese hier hat sich ihre Bestimmung verdient und eine sehr bewegte Zeit hinter sich, wie die Hotelaufkleber auf dem Deckel belegen: Florenz, Genua, Istanbul, Nizza, Stockholm, Venedig. Natürlich denke ich sofort daran, wie die als Wurfgeschoss benutzte Schreibmaschine im „Zittern des Fälschers“ einen Toten oder auch keinen zur Folge hatte. Thomas Bodmer, PHs früherer Lektor, der uns später flüchtig durchs Haus führen wird und dabei im Wesentlichen dem Ausstellungsführer folgt und aus diesem zitiert, ist ungenau und erzählt, in diesem Buch sei jemand mit einer Maschine, die dieser gleicht, niedergeschlagen worden. Das Publikum, bestehend aus vielleicht gut zwei Dutzend Leuten, Frauen in der Überzahl, ist sehr still und sagt auch dazu nichts. Kulturkonsumenten die meisten, eine Vermutung, die später belauschte Unterhaltungen im Café des Strauhofs bestätigen. Die komplette Werkausgabe des Diogenes Verlags liegt aus. Man könnte in die Bücher hineinschnuppern. Man plappert lieber. Das Literaturhäppchen am späten Nachmittag ist abgehakt. Man wendet sich anderen Themen zu. PHs Schreibmaschine bleibt allein zurück. Ob sie das Staunen darüber, dass sie und ihre Tasten nicht mehr fleißig bewegt werden, jemals überwinden wird?

Beim Betrachten des Tastaturfelds, das für die Belange der englischen Sprache ohne Umlaute gestaltet ist, fällt mir ein äußerst modern wirkendes Zeichen auf. Es ist das @-Zeichen. Ein altes Zeichen, das in meinem Bewusstsein aber bisher nur in der heutigen Bedeutung existierte. Wieder zu Hause, mache ich mich – etwas beschämt – schlauer. Aber noch bin ich hier. Einige Schallplatten aus ihrem Besitz liegen verstreut unter Glas. Deutsche Grammophon: Bach, Chopin, Mozart, Strauss...Ich stülpe mir einen Kopfhörer über und höre die Musik, die Ripley bevorzugte, wenn er wieder einmal etwas Unaussprechliches plante: die drängenden Melodien aus Mendelssohns Sommernachtstraum. Hörbücher sind im Trend und mittlerweile gibt es auch einige mit ihren Geschichten. Die besten sind ebenfalls bei der Deutschen Grammophon erschienen. Zum Teil stark benutzte Bücher aus ihrer persönlichen Bibliothek. Auffallend viele Katzenbücher. Ihre eigenen Werke in verschiedenen Sprachen. Darunter auch das Kinderbuch „Miranda the Panda is on the Veranda“. Das suche ich schon lange. Eine Installation, die Einblicke in die Räumlichkeiten ihres Hauses in Tegna gewährt, kurz nach ihrem Tod gefilmt, zeigt aber nicht so viele Bücherregale, wie ich erwartet habe.

Ich stelle mir gerne vor, dass Schriftsteller zurückgezogen leben, umgeben von Massen von Büchern, die sich bis unter die Wände stapeln und in alle Räume hineinwuchern. Mir fällt auf einer Einstellung aber ein zusammengeklapptes, an die Wand gelehntes Bügelbrett ins Auge und ich muss schmunzeln. Marijane Meaker hat in „Meine Jahre mit Pat“ ein Szenario entworfen, in dem PH noch spät am Abend, in dessen Verlauf der Alkohol in Strömen floss und sie beide ziemlich betrunken waren, völlig sicher und energiegeladen einen Schwung ihrer bevorzugten weißen Blusen bügelte. Eine weiße Bluse aus ihrem Nachlass ist in der Ausstellung nicht zu sehen, auch keine Zigarettenschachteln oder Whiskeyflaschen. PH war starke Raucherin und Alkoholikerin. Beiden Süchten, die ja oft Hand in Hand gehen, verfiel sie schon in jungen Jahren, als ihr Leben in New York durchaus ausschweifend war. PH hat nicht immer zurückgezogen gelebt. In ihren Büchern wird massenhaft geraucht und getrunken, aber durch die Klarheit ihrer Sprache wirken sie auf mich immer völlig sauber und rein. Außerdem wecken ihre frühen Erzählungen, und auch die etlicher anderer amerikanischer Schriftsteller, in mir stets die Sehnsucht danach, in eine Zeitkapsel steigen zu können und das Amerika der fünfziger Jahre mit eigenen Augen sehen zu dürfen – auch wenn ich dann meine Jeans besser im Jetzt zurückließe. Kaum zu glauben, dass Frauen in Hosen noch vor fünfzig Jahren der Zutritt in Lokale verwehrt wurde, sogar in einer Großstadt wie New York.

Es muss sehr bitter für PH gewesen sein, nach einer komplizierten Kindheit die eigene Sexualität zu entdecken und festzustellen, dass das offene Ausleben ihrer Homosexualität nicht nur Diskriminierung zur Folge hätte, sondern sie auch in eine abnorme, ja sogar kriminelle Ecke stellen würde, weit außerhalb der Norm. Ihr lebenslanges Schweigen und ihre spätere ausgeprägte Misanthropie haben wohl auch in diesen traumatischen Erfahrungen Wurzeln. Das ist lange her? In Deutschland wurde erst wenige Monate vor PHs Tod der Paragraph 175 des Strafgesetzbuchs abgeschafft, der homosexuelle Handlungen zwischen männlichen Erwachsenen unter Strafe stellte. Tausende wurden bis dahin wegen der Anwendung dieses Paragraphen kriminalisiert und nicht wenige mussten deswegen in Haft.

Etwas, was sie trug, ist aber doch zu sehen. Fellmokassins. Gruselig. Fell, das sich nicht mehr an der lebenden Kreatur befindet, assoziiere ich mit dem Tod schlechthin. Diese Pantoffeln machen mir nur allzu deutlich klar, wie lange PH schon nicht mehr in dieser Welt ist. Da wende ich mich lieber ihren geliebten Säbeln zu, die sie als Kind erwarb und die stets gekreuzt die Wände ihrer jeweiligen Wohnungen schmückte. „Christmas, 1944, NYC“ zeigt diese Schwerter in einer Federzeichnung. Dieses Bild ist wie einige andere, die für diese Ausstellung ausgewählt wurden, in dem Buch „Zeichnungen“ abgebildet, das nach ihrem Tod von Diogenes veröffentlicht wurde. In Tegna hingen die Säbel, anders als vorher, parallel. In den letzten Jahren gab es also kein Säbelkreuzen mehr? Ich kann mir eine sachte Berührung nicht verwehren.

Katzenbilder und Katzenobjekte. PHs Vorliebe für diese Tiere ist legendär, auch das Ausstellungsplakat weißt ja darauf hin. Schöne, pflegeleichte Geschöpfe, die auch als Haustiere, im Gegensatz zu Hunden, von menschlicher Zuneigung nicht abhängig sind und sich letztendlich auch nicht domestizieren lassen. PH mochte keine Hunde. Schneckenfigürchen und -bilder künden von einer zeitweiligen Obsession, die viel Raum zu Interpretationen lässt. Ein Signaturstempel mit ihren Initialen, der Griff wird von einer Ratte gebildet. Selbst Ratten würde sie Menschen vorziehen, soll PH gesagt haben. Mit Schwung landete einmal eine tote Ratte, durchs Fenster geworfen, in ihrem Gästezimmer, wo sich natürlich Gäste aufhielten. Ihr Zorn muss wie eine Stichflamme funktioniert haben. „Ich mag das Adrenalin in meinen Adern nicht.“ Zwei alte Schlüssel zu ihrem Haus in Aurigeno; groß, schwer, aus einer Zeit, als es nicht üblich war, mobil zu sein. Sie erinnern mich an Erzählungen von Heimatvertriebenen, die ihre Schlüssel von Haustüren und Truhen noch Jahrzehnte lang hüteten, obwohl sie wussten, dass sie die dazugehörenden Schlösser, vor langer Zeit durch Fremde aufgebrochen, nie mehr öffnen würden.

Die rastlose Highsmith hat die meisten Häuser und Orte, die ihr gefielen, gezeichnet. Einiges ist hier zu sehen, auch eine Auflistung ihrer zahlreichen Wohnorte in Amerika und in Europa, wo sie seit 1963 dauerhaft lebte. In der Alten Welt wohnte sie nur noch auf dem Land. Die drangvolle Enge und der Lärm großer Städte war ihr nun zuwider. Ihr Feldstecher. Genaue Beobachtung aus Distanz. In einer Highsmith-Ausstellung kann er sich noch so sehr Mühe geben harmlos auszusehen, ich nehme ihm das nicht ab. Zu sehr symbolisiert er die bedrückende Atmosphäre des heimlichen Betrachtens. Höre ich da nicht, weit entfernt, in der Dämmerung, den Schrei der Eule?

Eine andere Vitrine. Recherchen zur „gläsernen Zelle“. Die Schriftstellerin, stets um Authentizität der Handlungsorte ihrer Geschichten bemüht, beschäftigte sich für dieses Buch intensiv mit Gefängnissen und deren Innenleben. Eine Zeitlang korrespondierte sie deshalb mit Gefangenen. Aus dieser Phase stammt auch die Skizze von Alcatraz, gefertigt von einem ehemaligen Insassen der einst qualvollsten Strafanstalt der Vereinigten Staaten. Dort hatte man die Silhouette San Franciscos und den tosenden Lärm einer aufregenden Großstadt vor Augen und Ohren, so nah und doch unerreichbar fern. Ich blicke auf die wenigen Striche, die den eingezäunten Bereich darstellen sollen, in dem die Gefangenen täglich ein wenig frische Luft atmen und Sport treiben durften. Jäh rieche ich für einen Moment wieder die klare, kalte Luft in der Bucht, höre die Möwen kreischen und das Meer gegen die über und über mit Vogelkot bedeckten Felsen rollen. Ich sehe mich unterhalb dieses Platzes hart am Wasser sitzen. Hochsommer, doch die Sonne wärmt nicht, sie kommt gegen den kalten Wind nicht an. Die Stadt der Sehnsüchte vieler Menschen schwebt im Nebel, wie ein Traumgebilde. Die Zeichnung ist nicht sehr genau. Den Brief des Gefangenen ziert ein Brandfleck mit Loch. Seine Zigarette, ihre?

Ich muss eine Weile raus hier, bevor die Führung mit Thomas Bodner beginnt. In den Genuss des sehr guten Kaffees, den eine junge, freundliche Mitarbeiterin serviert, bin ich bereits gekommen. Ihre Mutter schaut auf einen Sprung vorbei. Leicht aber stetig mäandern Regenfäden die Fensterscheiben herab. Es ist gemütlich in der von Kaffeeduft aromatisierten, holzgetäfelten guten Stube des Strauhofs. Aber der große Flohmarkt, der heute stattfindet, macht ihr bei diesem Wetter natürlich keinen Spaß. Wir kommen ins Gespräch. Müttersorgen. Werden die Kinder mit dem, was sie heute lernen, in der Zukunft ihren Lebensunterhalt ordentlich verdienen können? Die Tochter studiert Kunstgeschichte. Brotlose Kunst in den Augen vieler. Von Highsmith haben beide noch nichts gelesen. Ich empfehle ihnen, mit „Ediths Tagebuch“ zu beginnen. Der einen, damit sie das wohlige Gefühl auskosten kann, dass ihre Tochter so offensichtlich nichts mit Cliffie gemein hat, der anderen, damit sie achtsam bleibt auf ihrem Weg.

Auf der Suche nach einem Lokal lese ich „burn out the rich“, großflächig hingeschmiert auf den teuren Steinsockel eines Geschäftshauses; an einer Wand klebt ein Plakat gegen Rechtsradikalismus. Beim Essen überfliege ich den Züricher Tages-Anzeiger. Ich lese gerne Texte aus der Schweiz und Österreich, immer auf der Suche nach Redewendungen und Wörtern, die bei uns so nicht gebräuchlich sind. Was damit ausgedrückt werden soll, verstehe ich fast immer sofort – die Muttersprache eben. Heute bleibt mein Blick beim „Automobilist“ hängen. Klingt für mich wie aus der „guten alten Zeit“, ist wohl rätoromanisch („die Geheimsprache“). Ansonsten beschäftigt man sich auch in der Schweiz, wie sollte es anders sein, mit der drohenden Klimakatastrophe. Die Gipfel der Hilflosigkeit finden dieser Tage statt. Die Protokolle lesen sich wie Offenbarungseide, man setzt auf das bequeme Sankt-Florian-Prinzip. Ein Karikaturist stellt sich die Frage, ob das bewährte schweizerische Konzept der neutralen Haltung hier wohl auch funktionieren wird.

Wieder zurück. Führung. Letzter Rundgang. Zeitungsschnipsel von Personen, die seltsame Namen tragen. Das hat sie amüsiert. Sie selbst schrieb unter vielen Pseudonymen, männlichen und weiblichen, engagiert Leserbriefe. Ihr Antisemitismus und Rassismus ist für mich als Nachkriegsdeutsche schwer zu ertragen. Wusste sie, dass der langjährige Sekretär von Thomas Mann „Katzenellenbogen“ hieß?

Eine Ausgabe von Karl Menningers Werk „The human mind“ mit vielen Unterstreichungen von ihr. Ein freundlicher Dankbrief des hochbetagten, renommierten Psychiaters weist darauf hin, dass sie seinen Einfluss bei der Entwicklung ihrer Protagonisten immer betont hatte. Einige Vorlieben für andere Romanautoren teilt er mit ihr, Capote jedoch mag er nicht. Abschied. Vorhin habe ich noch ihren ehemaligen Lektor aufgehalten. Ich sehe, er hat es eilig. Aber, er ist der erste, der mir begegnet, von dem ich weiß, dass er sie kannte, ich muss ihn einfach kurz sprechen. Ja, ihre Arbeitshaltung sei vorbildlich gewesen, immer. Mit ihr zu arbeiten war angenehm. Wie er sie persönlich sah? Sie hat immer das Gefühl vermittelt, Angst zu haben. Darunter mischte sich jedoch die selbstbewusste Haltung, dass sie ihren Standpunkt durchaus zu vertreten wusste, ohne viel Wert auf die Meinung anderer zu legen. Dann ist er weg, ins Kino. Heute gibt es eine Highsmith-Verfilmung, die er noch nicht gesehen hat. Im Zusammenhang mit dieser Ausstellung werden einige Filme präsentiert, denen Erzählungen von ihr zugrunde liegen. Heute wird „Le meurtrier“ nach dem Buch „Der Stümper“ gezeigt. Ich kenne ihn nicht, aber PH hielt diesen Film für gelungen.

Er wurde 1962 gedreht, eine deutsch-französische Koproduktion. Gert Fröbe spielt mit, vermutlich ist er Kimmel. Mit Highsmith-Verfilmungen habe ich stets Probleme, weil sie die Atmosphäre, die ihre Geschichten ausstrahlen, noch nicht einmal annähernd einfangen. Alle, die ich je sah, haben mich enttäuscht, auch Hitchcocks „Strangers on a train“. „Plein soleil“ hätte gut werden können, wenn man nicht eine Liebesgeschichte hineingequält und den Schluss so moralisch gestaltet hätte. Ansonsten erscheint mir der junge Delon als die bisher passendste Verkörperung von Tom Ripley: Ein perfekt aussehender rotwangiger Apfel, im Kerngehäuse durch und durch verfault.

Abschied vom Strauhof.

Ich habe noch genügend Zeit für eine Stippvisite an den See, bevor mein Zug fährt. Das Laufen tut jetzt gut. Ich bin immer noch aufgewühlt, weil ich das schale Gefühl nicht loswerde, in PHs Sachen herumgeschnüffelt zu haben. Nur im erlaubten Rahmen, versteht sich, aber meine Gefühle unterscheiden nicht. Es hilft auch nicht daran zu denken, dass es andere waren, die diese Hefte längst aufgeschlagen haben, vielleicht zum ersten Mal seit langer Zeit, und alles Geschriebene gelesen und für sich gedeutet haben. Die Sachen sind entweiht, Dokumente der Zeit- und Literaturgeschichte, Museumsstücke nun. Dennoch ist es erschütternd, wie privat, wie persönlich sie auf mich wirken. All diese Arbeitshefte aus dem bookstore von Columbia, ihrer Alma Mater. Wie ein geknüpftes Band, eine Verbindung zur akademischen Welt, wo sich ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten entfalteten, hat sie diese Hefte, von ihr „Cahier“ genannt, jahrzehntelang geführt. 38 waren es insgesamt, das letzte blieb leer. All die darauf festgehaltenen Orte, die sie in der Periode besuchte, in der das fortlaufend durchnummerierte Heft benutzt wurde, und die Briefmarken aus aller Welt, die von lebenslangen, regen Briefwechseln und ihrer Reiselust zeugen. Briefe, Zeitungsausschnitte, Urkunden, Listen, Skizzenhefte, Tagebücher. Ihre Schrift, die vor allem, und die mir auch noch vertrauten Durchschläge von getippten, nun vergilbten Seiten, in denen der Punkt oft ein winziges Loch im Papier hinterließ, wirbeln mir durch den Kopf. Aus diesem Wust und ihrer Gedankenwelt hat sie ihre Bücher entwickelt. Für Schriftsteller muss es ein erhabenes Gefühl sein, eigene Bücher, tatsächlich gedruckt, zum ersten Mal anfassen zu können. Ein neugeborenes Kind des Geistes. Wie mühsam das Tippen doch war, das Verbessern von Fehlern, das noch einmal Tippen und noch einmal Tippen. Das Hin- und Herschicken von Manuskripten. Das Entziffern von Anmerkungen in fremder Schrift. Streichungen. Kürzungen. Langwierig und mühsam. Viele Menschen waren involviert, sogar der ahnungslose und oft ungeduldig erwartete Briefträger. Dem Buch sieht man von seiner langen Entstehungsgeschichte nichts mehr an.

Das Handwerkszeug moderner Autoren ist bequemer zu handhaben, die Wege haben sich drastisch verkürzt. Aber das Talent, die Leidenschaft und die Disziplin müssen unverändert vorhanden sein, wenn etwas Gutes entstehen soll. PH hat 22 Bücher geschrieben, eigentlich 24. Ein Manuskript ging verloren, ein frühes Werk blieb unvollendet. Dazu kommen mehrere Bände mit Kurzgeschichten. Zwei erschienen posthum, im Rahmen der exquisiten Werksausgabe des Diogenes Verlags. In „Suspense“ versuchte sie Lesern außerdem zu vermitteln, wie man einen Thriller schreibt. Ich vermute, sie erfüllte damit seufzend einen Wunsch aus den Reihen der Verlagsbranche.

Der See distanziert sich kaum vom Grau des Himmels. Am Zelt des Zirkus Knie leuchten schon vereinzelt bunte Lämpchen. Sie verstärken die Tristesse. Eine unvermeidliche asiatische Gruppe auf Europareise macht, gutgelaunt, Fotos von sich und dem heute so traurigen Panorama. Wetter ist kein Kriterium in ihrem straffen Zeitplan. Nein, hier gibt es außer dem verschwenderischen Duft von nassen Rosen, die lange die Sonne genossen haben, nichts, was meine Gedanken aufhellen könnte. Sie kreisen weiter um PH.

Ihre Habe hat jetzt kein Zuhause mehr. Sollte man sie nicht doch besser den Augen der Öffentlichkeit entziehen und nur für wissenschaftliche Arbeiten zugänglich machen? Was passiert mit unseren Sachen, wenn wir gestorben sind? All die Dinge, die uns so viel bedeutet haben, die mit so vielen Erinnerungen verbunden waren, werden nach ihrem Wert in Geld gemessen und entsprechend behandelt oder misshandelt. Bei Prominenten, jenen Menschen, die wir nur scheinbar zu kennen glauben, kommt hinzu, dass ihre Sachen zu begehrten Trophäen werden. Gehütet oder gehandelt.

Im Strauhof wird es jetzt dunkel. Allela Cornells Portrait der jungen Highsmith fällt in die Dunkelheit zurück. Die Leinwand ist teilweise gewellt. Dieses Bild bekam häufig einen anderen Platz in neuer Umgebung und vermutlich waren die Bedingungen nicht immer günstig. PH mochte das Bild sehr, obwohl es sie auch an das traurige Schicksal der Malerin, mit der sie eine Affäre hatte, erinnert haben muss. Der Stil von Allela Cornell war perfekt, um PH auf Öl zu bannen. Schönheit, Reserviertheit, Herausforderung und Angst erzeugen beim Betrachter unbestimmtes Unbehagen und Faszination. Es kommt mir so vor, als hätte die Künstlerin PHs Lebensweg bereits vorausgesehen und die Züge der alten Frau unmittelbar unter die Oberfläche der jungen gemalt. Was immer mit dem Gemälde in Zukunft passieren wird, die vertraute Silhouette des einstigen Ebenbildes, erst jung und aufrecht, dann alt und etwas gebeugt, wird sich im Spiel von Licht und Schatten nie mehr auf ihm abbilden.

Ich mache kehrt, gehe die Bahnhofstraße entlang. Diese merkwürdig unentschlossene Zeit zwischen Ladenschluss und samstagabendlichen Vergnügungen. Die Geschäfte, exklusiv und abweisend mit ihren großen Schaufenstern, die nur spärlich dekoriert sind. „Seht her – wir können es uns leisten, mit Platz verschwenderisch umzugehen!“. Es sind immer die gleichen, die hochmütig auf uns und unsere mit Mängeln behafteten Körper herabschauen und uns die Innenstädte überall auf der Welt so gespenstisch vertraut machen. Madrid, Rom, Paris, egal. Das billige Vergnügen „shopping“ ist natürlich auch in Zürich ein teures. Italienisches Design scheint zu überwiegen. Ewiger Jahrmarkt der Eitelkeiten.

Wie mag sich PH in diesen Straßen gefühlt haben? Die angebotenen Kreationen hätte sie tragen können, groß und schlank wie sie war. Um PHs Verlust des guten Aussehens wird in Wilsons „Schöner Schatten“ ein großes Tamtam gemacht. Selbst ihre Mutter warf es ihr vor und brachte es mit ihrem Charakter in Verbindung. Frauen werden, ungeachtet ihrer Leistungen, zuallererst am Aussehen gemessen. Auch und besonders gnadenlos von Frauen. Wir haben in Deutschland zum ersten Mal eine Bundeskanzlerin. Noch nie war das Aussehen in diesem Amt ein großes Thema in den Medien. Jetzt schon, und selbst Angela Merkel, die lange widerstanden hat, beugt sich nun dem Diktat. Ich finde, Patricia Highsmith ist in Würde gealtert. Sicher haben ihre Süchte dazu beigetragen, dass sich das Leben in ihren Zügen tief eingegraben hat und ihre Gesundheit Schaden nahm. Aber sie als „groteske Gestalt“ abzutun, sagt mehr über die Beurteilenden aus als über sie. Und über unseren Zeitgeist. Die Kindheit wird, gemessen an äußeren Einflüssen, immer kürzer; dafür scheint die Jugend endlos dauern zu dürfen, ja, zu müssen. Für mich sind groteske Gestalten diejenigen, die unter allen Umständen und mit allen Mitteln ihre Jugend jahrzehntelang mumifizieren und jeden Preis dafür bezahlen.

Die Schweiz hat keine Buchpreisbindung und ich hätte mich gerne in einer schönen Buchhandlung umgesehen. Ich konnte unter den vielen Geschäften keine finden, was aber bestimmt auf meine Ortsunkenntnis zurückzuführen ist. In einer Stadt mit höchster Lebensqualität wird es an guten Buchläden doch nicht mangeln?

Noch einmal habe ich „Befürchten Sie das Beste!“ passiert. Der Zug rollt aus dem Bahnhof und bringt mich zurück in mein Leben. PH würde es als ein Edith-Leben einordnen. Ehemann, Kinder, Beruf, Haushalt. Ich habe einige ihre Bücher mehr als einmal gelesen und manche werde ich wieder zur Hand nehmen. Nach der Lektüre ihrer Biografie lese ich mit anderen Augen. „Ediths Tagebuch“, das sie dem Nobelpreis für Literatur nahe brachte, gehört zu meinen Favoriten. Ich habe es als junge Frau in Cliffies Erwachsenenalter gelesen und noch einmal in Ediths Alter. Ich hoffe, dass ich es in Tante Melanies Alter wieder lesen kann. Tante Melanie. Das ist das Denkmal für ihre Großmutter Willi Mae. Sie war schon vor vielen Jahren gestorben, ihre Mutter seit einiger Zeit ein „Pflegefall“, als PH dieses Buch schrieb. Der endgültige Bruch mit ihr lag schon Jahre zurück. Sie hat Mary Coates, obwohl diese sehr alt wurde und nur wenige Jahre vor ihr starb, nie wieder gesehen. Ich starre aus dem Fenster in meine private Leere. Die Tochterperspektive. Das ist es. PH war ausschließlich Tochter. Die Mutter wollte sie nicht. Sie hat sie im Stich gelassen und bei der Großmutter wie ein Gepäckstück deponiert. Sie hat sie belogen, Versprechungen nicht eingehalten und ihr ihren richtigen Namen vorenthalten. Immer die gleichen Vorwürfe, die gleiche Leier, ein Leben lang. Die Sichtweise auf ihre Mutter war immer dieselbe, ein anderes Verhältnis war nicht möglich. Töchter verändern sich, wenn sie selbst Mütter werden und bewerten die eigene neu, wenn sie die andere Seite der Medaille präsentiert bekommen.

Aus sehr großer Distanz ist mir Mary Coates unsympathisch, aber vielleicht irre ich mich. PH hatte aus meiner Sicht einer Außenstehenden gute Gründe, sie nicht mögen zu wollen. Versetzt man sich jedoch in die Lage dieser Frau, die zu Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts vor den Trümmern einer kurzen Ehe stand und hochschwanger eine Trennung durchlitt, schaudert man. Eine Scheidung war damals eine große Sache und verstieß entschieden gegen herrschende Konventionen. Mary Coates zog vorübergehend ins Elternhaus zurück. Das Verhältnis zu ihrer Mutter war immer schwierig und verschärfte sich in dieser Situation. Neun Tage nach der Scheidung kam, dilettantischen Abtreibungsversuchen trotzend, das Kind des Mannes zur Welt, den sie am liebsten aus ihrem Leben gestrichen hätte. Es schlug die Augen auf und sah sie mit seinen Augen an. Das Mädchen wuchs heran und sah ihrem Vater immer ähnlicher. Sie war klug, begabt, schön und schwierig. Aber schwierig war die Mutter auch und Patricia eine Tochter, die eine Herausforderung darstellte. Vielleicht dachten Mutter und Tochter später gleichermaßen, dass das Leben ihnen einiges schuldig geblieben ist. Kein Trost, auf beiden Seiten nicht. Stanley Highsmith, Mary Coates zweiter Ehemann, der PH seinen Namen gab, war wohl ein stiller Alltagsheld. Er verharrte zwischen den Fronten der beiden Frauen, die sich nichts schenkten. Aber er scheint es gut mit seiner Stieftochter gemeint zu haben, die ihm in den ersten Jahren alles andere als positiv gegenüberstand. Später muss sie ihn akzeptiert haben, sonst hätte Patricia Highsmith seinen Namen wohl nicht ihr Leben lang getragen. Die zweite Ehe ihrer Mutter hielt, begleitet von endlosen Streitereien, bis zum Tod von Stanley. Sie blieb kinderlos und PH das einzige Kind des Paares. Auch diese Familiengeschichte, die so oder so ähnlich gewesen sein muss, wird in der Ausstellung erzählt.

Vor über zwölf Jahren starb Patricia Highsmith im Spital von Locarno, allein. Für gut sieben Jahrzehnte fiel sie unter die Menschen und musste sich mit ihnen arrangieren. PHs Freundin Vivien Bernardi, die auch in ihren letzten Lebenswochen um sie war, sagte, dass der Tod im Leben von Patricia Highsmith wohl einer ihrer kleineren Traumata gewesen sei. Das könnte stimmen. Sie soll ungewöhnlich ruhig und still geworden sein, als das Licht ihres Lebens zu flackern begann. Sie wusste, dass sie auf der Zielgeraden war, dass der mühsame Weg durchs Leben bald zu Ende sein würde. Auch in ihrem letzten Buch „Small g“ – eine Sommeridylle, ein eher gut gemeintes als gutes Buch, das sie in Zürich, um Lokalkolorit bemüht und ohne amerikanisches Personal, angesiedelt hat, ist von einer ungewohnt nachsichtigen Milde durchdrungen. Sie war beim Schreiben schon sehr krank und hat es dem Leben gerade noch mit eiserner Disziplin abgetrotzt. Es erschien erst kurz nach ihrem Tod und das geteilte Leserecho hörte sie nicht mehr. Aber solange ihre Bücher existieren und gelesen werden, bleibt ein Widerschein von ihrer einstigen Existenz in dieser Welt.

Es gibt viele Bücher, mit denen ich mich wohler fühle, auch besser unterhalten, als mit denen von Patricia Highsmith. Aber. Keine haben mich so tief berührt wie ihre. Auch nicht die von Paula Fox, die Zeitgenossin, deren Vita einige Parallelen zu PH aufweist, und die ich fast auf Augenhöhe mit ihr sehe. Das galt vor dreißig Jahren, das gilt heute noch. Vermutlich wird sich das nicht mehr ändern.

„Alle Erwachsene haben Geheimnisse.“ Aus ihren Büchern habe ich gelernt, dass der Mensch im Kern allein und auf sich gestellt ist. In seinem Zentrum existiert, unberührt von der Außenwelt, sein nacktes Selbst. Patricia Highsmith war sich dessen immer bewusst.

Helga Kurz,
Weissach im Tal
Im Mai 2007