Gespenstergeschichten aus dem Böhmerwald

Von Richard Bachmann

Vorwort

Sehr geehrte Damen und Herren,

heute sollen wir also einige Gespenstergeschichten zu hören bekommen. Manchem Literaturwissenschaftler stehen dabei die Haare zu Berge. Nicht weil er sich fürchtet. Sondern weil diese Art von Erzählungen nicht selten auf bloße Effekthascherei und angenehmen Nervenkitzel gerichtet sind. Wer das Glück hat, auch noch ein Publikum zu finden, das an das Übersinnliche zu glauben geneigt ist, wird damit Erfolg haben. – Das ist der elitäre Standpunkt von Erzähltheoretikern, die Literatur mit raffinierter Form gleichsetzen. Wer etwas schreibt, was nicht gleich einen Kometenschweif aus Theorie und Gelehrsamkeit nach sich zieht, zählt nicht. Das ist einfach nur Treibgut auf dem Ozean der Trivialliteratur.
Zum Glück gibt es auch andere Stimmen. Die Psychoanalytiker unter den Literaturwissenschaftlern betrachten Schauererzählungen als ein wichtiges Ventil für Emotionen, die in der gesellschaftlichen Realität unterdrückt werden. Deshalb gebe es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das Phänomen der phantastischen Erzählungen. In diesen wimmle es nur so von Verbrechen, Mord, Totschlag und sinnlicher Ausschweifung – alles Elemente, die in unserer zivilisierten Welt gerne verdrängt werden. In der literarischen Fantasie jedoch kehren die dunklen Seiten unseres Seelenlebens als Schreckgespenster wieder. Als böses Doppelgänger-Ich, wie in Robert Louis Stevensons „Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (1886), oder gar als Vampir, so in Bram Stokers „Dracula“ (1897). Und noch nicht einmal die Wissenschaft selbst ist frei von teuflischen Einflüssen: Mary Shelleys weltbekannter Roman „Frankenstein“ (1818) zeigt sehr deutlich den größenwahnsinnigen Trieb, mit dem sich Forscher eine gottgleiche Stellung anmaßen und sich zum Schöpfer des Lebens aufschwingen wollen.
Doch auch diese Interpretation erfasst nur einen Teil der Bedeutung, die den Gespenstergeschichten zukommt. Gespenstergeschichten sind ja nicht nur literarische Kunst-Produkte von professionellen Schriftstellern wie Edgar Allan Poe oder E.T.A. Hoffmann. Gespenstergeschichten sind vor allem Teil einer lebendigen mündlichen Überlieferung. Denn Gespenstergeschichten hat es in allen Kulturen seit jeher gegeben. In ihrer volkstümlichen Gestalt reichen sie im deutschen Sprachraum bis hinter das Barock, also noch bis tief in das 15. Jahrhundert, wenn nicht noch weiter zurück. Die Erzählungen, die Richard Bachmann heute Abend vorträgt, zeigen unverkennbar die Ursprünge dieses mündlichen Erzählens: Es ist die Poesie der einfachen Leute, die hier zu Wort kommt, entstanden am Wirtshaustisch oder im Klatsch einer dörflich umgrenzten Gemeinschaft. Daraus haben sich dann Geschichten mit festem Umriss herauskristallisiert. Und diese konnten sich nur durch lebendig kursierendes Weitererzählen und Wiedererzählen am Leben erhalten. Richard Bachmann musste deshalb auf eigene Erlebnisse zurückgreifen und auf das, was ihm Zeugen mitgeteilt haben. Nur so konnte er eine mündliche Überlieferung schriftlich fixieren, die allenfalls noch im Gedächtnis unserer unmittelbaren Vorfahren existierte – und immer mehr verloren geht.
Was ist nun das Besondere an mündlichen Überlieferungen? In der ursprünglichen Kultur der Menschheit, die noch keine entwickelte Schrift kannte, war die Poesie ein untrennbarer und fester Bestandteil der sozialen Gemeinschaft. Der Dichter war Priester und Prophet, Sänger und Seher in Personalunion, ein göttlich Inspirierter und Auserwählter, der die Zeremonien leitete und den Menschen Weisheit und Gesetze vermittelte. Er zitierte aus dem Gedächtnis die Mythen, d.h. die Erzählungen, die der Gemeinschaft Sinn und Identität verliehen. Er benutzte Rhythmus und Reim als Gedächtnisstütze, die den freien Vortrag auch umfangreicher Geschichten ermöglichte. Erst viel später entstand die Schrift, die die Erinnerung zu entlasten und Erzählungen aufzuspeichern erlaubte. Und noch viel später eine Schriftkultur, die Wissenschaft, Philosophie, Medizin, Rechtsprechung und Religion zu eigenen Disziplinen ausdifferenzieren konnte.
In der volkstümlichen mündlichen Überlieferung besitzen wir also immer noch Einblicke in soziale Gemeinschaften, die noch bis vor kurzem in der Lage waren, Geschichten aus ihrem Alltagsleben unmittelbar zu entwickeln. Ohne das Dazwischentreten von hoch spezialisierten Schriftstellern, Verlegern und gelehrten Kritikern. Die Tatsache, dass zum Beispiel im Böhmerwald und in der Grenzregion zur Oberpfalz ein umfangreiches Erzählgut spontan entstehen konnte, es seien nun Gespenstergeschichten oder Wilderer-Sagen oder Ehebruchsdramen, zeugt von der Fantasie dieser Menschen und ihrem sozial lebendigen Zusammenhalt. Erzählen war eine Möglichkeit, auch in materiell schwierigen Zeiten für Unterhaltung und Belehrung zu sorgen. Erzählen war eine lebendige Tradition, in der sich das Volk noch aussprechen und wieder erkennen konnte. Im Zeitalter des Fernsehens und des Internets sind diese Fähigkeiten zweifellos vom Aussterben bedroht. Und fleißigen Sammlern von mündlichen Erzählungen wie Richard Bachmann ist es zu verdanken, dass diese Art der Poesie wenigstens schriftlich aufbewahrt wird. Ein Rest von ursprünglicher und naturwüchsiger Poesie liegt in diesen Geschichten. Wir hören darin, um das Gute gleich zweimal zu sagen, die Poesie der ganz normalen und einfachen Leute, kurzum: einen Restbestand der sozialen Funktion, die dem Erzählen seit Urzeiten zukommt. – Dies vor allem hat mich an dem ruhigen harmonischen Erzählton dieser Geschichten fasziniert: Sie mögen ein wenig nach Schnupftabak und einem Seidel Bier schmecken. Aber eben das gehört zu ihren Entstehungsbedingungen. Und selbst dann, wenn Sie nicht an Gespenster glauben, steht es Ihnen frei, sich in eine Welt ursprünglichen Erzählens zu versetzen, die uns noch einen Rest lebendiger Gemeinschaft nahe bringt, eine Welt, die keine Horrorvideos, keine blutrünstigen Serienmörder oder Kettensägenpsychopathen nötig hatte, um einen Schauder zu empfinden. Den konnte jeder lebendig nachfühlen, wenn er nachts, direkt vor der Haustür, jederzeit persönlich Geistern begegnen konnte, von denen seit Generationen im Wirtshaus, zu Hause oder auf dem Markt fantastische Geschichten umgingen.
Lassen wir also die Poesie des Alltags und der einfachen Leute wieder aufleben! Und begrüßen wir Richard Bachmann mit einem kräftigen Applaus!

Günter Bachmann
Juni 2004

Vorbemerkung

Die folgenden Erzählungen basieren zum Teil auf Begebenheiten, die ich selbst erlebte oder auf Ereignissen, die mir von verschiedenen Personen mitgeteilt wurden. Einige Orte und Namen von Personen wurden auf Wunsch meiner Informanten geändert. Ähnlichkeiten mit realen Vorkommnissen wären also höchst zufällig. Ich werde mich aber nach Kräften bemühen, die Dinge genau so wiederzugeben, wie sie mir geschildert wurden.

Stuttgart, im Februar 2003
Der Autor: Richard Bachmann

Der Sargtischler

Die kleine Ortschaft Lepitz (Name geändert) gehört zum Landkreis Bischofteinitz. Die Hälfte der Bewohner aber hatten die Kreisstadt noch nie zu Gesicht bekommen. Auch Fremde kamen selten in den abgelegenen Ort. Dort gab es zwei Wirtshäuser, eine Kirche und einen Lebensmittelladen. Das Gewerbe bestand aus einem Schmied und einem Schreiner. Letzterer war weit über das Dorf hinaus bekannt. Als Sarghersteller. Wer Wert darauf legte, für einen lieben Verstorbenen einen „schönen“ Sarg machen zu lassen, war bei ihm an der richtigen Adresse. Im Dorf nannten ihn alle nur den „Sargtischler!“ Für die Ortschaft Lepitz war er auch als Totengräber zuständig. Die übrigen Bewohner lebten mehr schlecht als recht von der Landwirtschaft.
Jeden Mittwochabend traf sich im Gasthof „Zur Gans“ ein Stammtisch. Dieser bestand aus folgenden Personen: Da war zum einen der Dorfschullehrer, der zugleich Organist und Leiter des Kirchenchors war. Dann der Bürgermeister, seines Zeichens auch Wirt und nebenbei der größte Bauer im Ort. Ferner einige kleinere Landwirte und nicht zuletzt der „Sargtischler“. Manchmal gesellten sich auch andere Ortsbewohner, die nicht zum eigentlichen Stammtisch gehörten, dazu. Diese wurden zwar geduldet, mussten aber, wenn Platzmangel herrschte, ihren Sitzplatz räumen. Der Pfarrer kam nicht regelmäßig, aber sein Platz wurde freigehalten.
Heute allerdings war der Tisch bis auf den letzten Platz besetzt. Die alte Wahrsagerin, bekannt unter dem Namen „Hellseher-Vroni“, war schwer erkrankt. Am Vormittag war der Docktor aus Weißensulz bei ihr gewesen. Am Nachmittag der Pfarrer. Am Stammtisch war man schon gespannt, was Hochwürden zu berichten wusste. Der zog erst einmal seine Schnupftabakdose aus seiner Tasche und nahm eine kräftige „Pries.“ „Ich kann euch nur so viel sagen, dass die Vroni schwer, ja sogar sehr schwer erkrankt ist!“, erläuterte der Herr Pfarrer. Dann erklärte er seinen neugierigen Tischgenossen, dass es wohl in Gottes Hand liege, ob die „Hellseher-Vroni“ wieder gesund wird. Der Dorfschullehrer mischte sich ins Gespräch: „Ich habe sie vor zwei Tagen besucht und sage euch, – die wird nimmer!“ Der Wirt kam hinzu, um eine weitere Bestellung aufzunehmen und gab ebenfalls seine Prognose ab: „Die kommt durch, die ist zäh wie Ziegenleder, da halt ich jede Wette!“ Dem Wirt und Bürgermeister wollte niemand widersprechen und so gab es zustimmendes Gemurmel. Der „Sargtischler“ nahm gedankenverloren die Schnupftabakdose des Herrn Hochwürden, die dieser vor sich auf den Tisch gestellt hatte und bediente sich reichlich. Geräuschvoll zog er den Schnupftabak durch die Nase. Mit gedämpfter Stimme bat er seine Tischgenossen um Ruhe. Gespannt blickten alle auf ihn. Dann begann er zu sprechen:
„Ich sage euch und insbesondere dir, lieber Bürgermeister, dass die Hellseher-Vroni sterben wird!“ Er griff abermals zur Schnupftabakdose, nahm nochmals eine Pries und fuhr fort: „Ich weiß das ganz sicher!“ Etwas erstaunt sahen alle auf den „Sargtischler“, der ein riesiges Taschentuch in der Hand hielt und sich laut schnäuzte. Der Herr Pfarrer war sichtlich verärgert ob dieser gotteslästerlichen Anmaßung: „Woher willst du das so genau wissen?“, fragte er den „Sargtischler“ scharf. Der war schon wieder dabei, nach der Schnupftabaksdose zu greifen, was ihm der Eigentümer diesmal verweigerte. Der „Sargtischler“, nun seinerseits verärgert über das Verhalten des Geistlichen, lehnte sich bequem in seinen Stuhl zurück und wartete, bis es in der Runde still war. „Woher ich das weiß?“, fragte er in die Runde, „ich werde es euch sagen!“ Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Bierkrug und fuhr fort: „Schon vor einigen Tagen, – da war die Vroni noch nicht erkrankt, bekam ich ein Zeichen!“ „Ein Zeichen?“, unterbrach ihn der Pfarrer, „was für ein Zeichen?“ Die Stimme des „Sargtischlers“ wurde leiser und sie klang irgendwie geheimnisvoll.
„Ja, ein Zeichen. Und zwar ein ganz eindeutiges!“
Der Wirt wurde nun unruhig und ermahnte den „Sargtischler“, endlich mit der Sprache herauszurücken.
Nach einem abermals vergeblichen Versuch, die Schnupftabaksdose von Hochwürden zu erlangen, sprach er weiter:

„Es war schon spät am Abend, als ich vor gut einer Woche nach Hause kam. Ich ging noch in meine Werkstatt, um einige Arbeiten an einem Sarg vorzunehmen. Noch bevor ich die Werkstatt betrat, hörte ich, dass meine Hobelmaschine lief. Ich öffnete die Tür und machte Licht. Die Maschine lief tatsächlich. Ich wusste aber genau, dass ich sie beim Verlassen der Werkstatt abgestellt hatte. Aber es kommt noch besser! Spaten und Spitzhacke, die ich zum Ausheben der Gräber benutze, lehnten an der Hobelbank. Dieses Werkzeug bewahre ich nicht in meiner Werkstatt auf, sondern im Abstellraum am Ende des Flurs. Ich frage euch, wie kommt das Handwerkszeug in die Tischlerwerkstatt? Und warum lief die Hobelbank? Das sind Zeichen. So etwas ist mir schon einmal passiert: Da lag ein Sargdeckel auf einem fertig gestellten Sarg und war so festgeschraubt, dass ich den Deckel nur mit Gewalt wieder öffnen konnte. Ich schraube doch keinen Deckel zu, wenn der Verstorbene noch nicht drin liegt und schon gar nicht so, dass ich den nicht mehr aufbekomme. Drei Tage später starb unser Feuerwehrhauptmann bei einem Unfall. Ich sage euch, das sind keine Zufälle, – da geht es nicht mit rechten Dingen zu. Das Laufen der Hobelbank und das Werkzeug, das ich noch nie in meiner Werkstatt aufbewahrt habe, bedeutet Arbeit für mich. Und darum glaube ich nicht an eine Genesung der „Hellseher-Vroni“

Als erster schien sich Hochwürden von dem Gehörten erholt zu haben. Er nahm eine riesige Portion aus der Schnupftabaksdose und wandte sich mit zorniger Stimme an den Sargtischler: „Was du uns da erzählst, ist gottloses Geschwätz!“ Er zog sein Taschentuch hervor und schnäuzte sich, dass man meinen konnte, die „Trompeten von Jericho“ zu hören. „Ich weiß, wovon ich rede und jedes Wort ist wahr, was ich euch gesagt habe“, wehrte sich der „Sargtischler“ vehement. Um einen größeren Streit zu vermeiden, mischte sich nun der Wirt, auch in seiner Eigenschaft als Bürgermeister, in den Streit zwischen Pfarrer und „Sargtischler“. „Ich glaube ja auch nicht an derlei Dinge. Aber was hätte der „Sargtischler“ davon, uns anzulügen?“ Ein Landwirt aus Lepitz, der am Nachbartisch saß, mischte sich ebenfalls in die Diskussion ein. „Ich glaube dem Totengräber. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir alle zusammen wissen!“ Jetzt stand der Herr Pfarrer auf, steckte seinen Schnupftabak in die Hosentasche und hieb mit der Faust auf den Tisch: „Schluss jetzt mit dem dummen Gerede! Ich sage euch, – nur, – aber auch nur - Gott kann Wunder vollbringen. Und sonst niemand!“ Er sprach mit gottesgelehrter Autorität und Strenge. Und keiner wagte, auch nur einen Mucks zu tun oder gar zu widersprechen. Aufrecht, seinen scharfen Blick auf die Wirtshausbesucher gerichtet, stand Hochwürden da.
Plötzlich ging die Tür zur Gaststube auf und der Messner kam herein. Alle wandten wie an der Schnur gezogen die Köpfe und stierten ihn an. Der Messner blickte suchend, behindert durch den Tabaksqualm, der wie Nebel in der Luft lag, umher. Da erblickte er den immer noch hoch aufgerichteten Diener Gottes, ging direkt auf ihn zu und verkündete lautstark: „Hochwürden - kommen Sie schnell, mit der „Hellseher-Vroni geht es zu Ende!“ Man hätte den Atem hören können, doch niemand dachte daran, auch nur Luft zu holen. Die Stammtischrunde starrte den Schreckensbotschafter an, als wäre er der Leibhaftige. Und dieser Zustand dauerte fort, bis der Pfarrer seine Geistesgegenwart wieder gefunden hatte. Eilig brach er mit dem Messner auf, um der armen Vroni die Sterbesakramente zu erteilen. In der Gaststube herrschte immer noch tiefes Schweigen. Da erhob sich der „Sargtischler“ träge und unlustig, genau wie ein Mensch, der beim Feierabendbier gestört wird und brummte: „Hab ich’s doch gewusst, dass noch Arbeit auf mich zukommt“. Grußlos verließ er das Gasthaus „Zur Gans“, um das Grab für die „Hellseher-Vroni“ auszuheben.

Eine unheimliche Begegnung

In der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg, im Frühjahr 1936, ging der „Sulzer Michl“ (der Name ist geändert, d.Verf.) zu Fuß von Eisendorf nach Weißensulz. Das war bei Gott ja nichts Besonderes. Das machten in jener Zeit viele. Die einen wollten sich das Geld für den Autobus sparen, anderen wieder passte einfach der Fahrplan nicht. Letztere konnten, aus welchen Gründen auch immer, erst sehr spät am Abend den Rückweg antreten. Dem „Sulzer Michl“ wäre nicht im Traum eingefallen, mit dem Autobus zu fahren. Er war einer, der sich gerne in Gottes freier Natur aufhielt. Es war noch sehr früh am Morgen, als er sich auf den Weg machte. Er benutzte die Bezirksstrasse über Ruhstein, wollte aber, nachdem er den Langenberg erreicht hatte, eine Abkürzung nutzen. Für den Michl waren die 12 Kilometer bis Weißensulz praktisch nur ein Spaziergang. Jetzt, Anfang Mai, war der Morgen noch sehr kühl. Die Strasse führte hier nur durch dichtes Waldgebiet, das erst am späten Vormittag einige Sonnenstrahlen durch die Baumwipfel ließ. Michl kam aber recht zügig voran, er bog einige Meter nach der Waldkapelle ab, um ein Stück des Wegs abzukürzen. Er hatte die Kapelle noch keine 100 Meter hinter sich gelassen, als ihm jemand entgegenkam. Ein Mann, groß, schlank, ja fast abgemagert, mit dunklem Vollbart und langen Haaren.
Er sah ungeniert dem Michl ins Gesicht, mit Augen, die dieser nicht gerade angenehm empfand. „Wohin des Wegs, Kamerad?“, fragte er den Michl.
„Nach Weißensulz, – wüsste aber nicht, was dich das angeht!“, antwortete dieser etwas verärgert. Der aber lachte nur, doch seine Augen schauten den Michl eiskalt an. „Du könntest mir einen Gefallen tun“, fuhr er fort, „wenn du nach Weißensulz kommst!“„Wenn es mir keine größeren Umstände macht, gerne, ich habe aber meine Zeit auch nicht gestohlen“, meinte der Michl und musterte sein Gegenüber noch etwas genauer. Er stellte fest, dass dieser eigenartig gekleidet war. Er trug einen Mantel, ganz in schwarz, der fast bis zu den Knöcheln reichte. Vor allem die Schuhe aber, die er anhatte, waren noch seltsamer. Sie sahen aus, als ob sie aus schwarzer Pappe wären, auf keinen Fall waren sie aus Leder. So lang auch der Mantel geraten war, die Ärmel waren viel zu kurz. Dafür die Hemdsärmel wiederum viel zu lang und das Material keinesfalls aus Stoff. Deutlich konnte Michl erkennen, dass sie tatsächlich aus Papier hergestellt waren. „Ich gebe dir eine Adresse, wo du für mich eine Nachricht hinterlassen kannst. Wäre dir sehr dankbar für die Gefälligkeit!“, fuhr der Hagere fort.
„Und was soll ich wem ausrichten?“,
fragte Michl und bereute bereits, dem Fremden eine Zusage gemacht zu haben.
„Da ich erst Morgen nach Mitternacht zurückkomme, ist es vielleicht zu spät. Mir ist nämlich etwas dazwischen gekommen. Sage einfach, dass du mich getroffen hast und ich später zu ihm komme.“ Dann gab er Michl ein Stück Papier.
„Wenn weiter nichts ist, richte ich das gerne aus!“
„Nein, weiter brauchst du nichts zu tun“, sagte der langhaarige Kerl, dabei schaute er den Michl so intensiv an, dass dieser eine Gänsehaut bekam.
Der Michl wollte wissen, wenn er denn gefragt würde, von wem die Botschaft sei. Und was er dann sagen sollte.
Der Mann überlegte sehr lange. Bis er den Michl endlich wissen ließ, er brauche nur zu sagen der „Anpocher“ habe ihm die Nachricht aufgetragen.
Ein merkwürdiger Name, dachte sich Michl. Doch er wusste, dass in ländlichen Gegenden oftmals derartige „Hausnamen“ keine Seltenheit waren. Bevor sich Michl versah, war die etwas seltsame Gestalt schon um die nächste Wegbiegung verschwunden. „Anpocher!“ – ein komischer Name, er bekam ihn nicht mehr aus dem Kopf. Er holte den Fetzen Papier, dem ihn der Fremde gegeben hatte, aus der Tasche, um zu sehen, wem er die Nachricht überbringen sollte. Die Adresse war mit etwas kindlicher Schrift auf den Zettel gekritzelt worden: "Weißensulz Familie Schaler.“ Nur durch Zufall war dem „Sulzer-Michel“ die Familie bekannt. Er hatte besagten Herrn Schaler bei einem Kartenspiel in einer Gaststätte in Weißensulz kennen gelernt. Wusste etwa der so seltsam gekleidete Mann, dem er da im Wald begegnet war, dass Michl die Familie Schaler kannte? Warum hatte dieser keine Hausnummer aufgeschrieben? Er brachte die Begegnung mit dem Fremden nicht mehr aus dem Kopf. Als er noch vor der Mittagszeit Weißensulz erreichte, war er entschlossen, erst ein Mal ein Bier im nächstbesten Wirtshaus zu trinken.
Die Gaststätte war noch spärlich besetzt um diese Tageszeit. Er ließ sich gleich am ersten Tisch in Eingangsnähe nieder und rief dem Wirt, der hinter dem Tresen stand, seine Bestellung zu. Ohne auch nur ein Wort zu sprechen brachte dieser das gewünschte Bier. Nach einem kräftigen Schluck wischte sich Michl über den Mund und fragte den Wirt, ob er die Familie Schaler genauer kenne. „Was heißt genau“, antwortete dieser, „der Schaler liegt seit einigen Tagen mehr oder weniger auf dem Sterbebett!“ Der „Sulzer-Michl“ wurde plötzlich hellhörig. „Auf dem Sterbebett?“, fragte er.

Der Wirt nahm einen Stuhl und setzte sich zu seinem Gast. „Warum fragst du?“ Dabei sah er den Michl durchdringend an. Der sagte nur, dass er eine Nachricht für ihn habe, die er, nach Lage der Dinge, besser schnell überbringen wolle. Nur zu gerne hätte der Wirt mehr gewusst, doch der Michl ließ sich dazu nicht herbei. Er bezahlte und verließ schleunigst die Gaststätte. Er wollte die Geschichte so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er hatte ja auch noch seine privaten Dinge zu erledigen. Am Haus von Schaler angekommen, klopfte er an die Tür, worauf ihm eine ältere Frau öffnete. Ängstlich fragte sie nach seinem Begehr. Der Michl sagte, dass er die Nachricht nur Herrn Schaler selber sagen möchte. Die Frau bat ihn ins Haus und er nahm in der Wohnküche Platz.
„Meinem Mann geht es nicht gut. Ich werde ihm sagen, dass Sie da sind.“ Sie öffnete eine Tür, die in ein abgedunkeltes Zimmer führte und bat Michl ihr zu folgen. Im Zimmer stand ein Bett, daneben ein alter Lehnstuhl. Im Bett lag eine Gestalt, mehr gaben die Lichtverhältnisse im Raum nicht her. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei der Gestalt um den besagten Schaler. Als der Michl näher ans Bett trat, glaubte er in ihm den Mann wieder zu erkennen, mit dem er vor einiger Zeit im Wirtshaus Karten gespielt hatte. „Setz dich nur“, sagte der Mann im Bett mit schwacher Stimme. Der Michl setzte sich im Lehnstuhl und berichtete dem Mann von seiner Begegnung mit dem Fremden. Dieser hörte mit geschlossenen Augen zu. Als Michl zu der Beschreibung des Mannes kam, öffnete Schaler plötzlich seine Augen und fragte: „Hat er auch seinen Namen genannt?“ Michl merkte, dass Schaler immer nervöser wurde. „Ja, hat er“, sagte Michl, „er meinte, ich soll dir ausrichten, dass er heute keine Zeit mehr hätte, er käme aber später vorbei!“ Schaler hob mühsam seinen Kopf und fragte mit heiserer Stimme: „Den Namen, sag mir den Namen!“ Michl, der jetzt doch etwas erstaunt war, dass der Mann vor ihm im Bett plötzlich so aufgeregt war, sprach: „Ich soll dir nur sagen, die Nachricht käme vom Anpocher, du wüsstest dann schon Bescheid!“
Der Mann im Bett ließ seinen Kopf zurück in das Kissen fallen und sah nun aus wie der Tod in Person. Grau und starr, als ob er schon nicht mehr leben würde, lag er vor dem Michl. Plötzlich richtete er sich mit dem Oberkörper auf. Mit den Augen sein Gegenüber fixierend, sagte er mit tonloser Stimme: „Er löst wohl jetzt sein Versprechen ein, dieser Lump!“ Michl konnte mit Schalers Worten leider nicht viel anfangen.
Wie leblos fiel Schaler wieder auf sein Kissen zurück. Mit schwacher, ja fast weinerlicher Stimme erzählte er Michl eine unglaubliche Geschichte.

Vor etwa elf Wochen ist ein Bekannter von mir gestorben. Kurz vor seinem Tod besuchte ich ihn am Krankenbett. Er war kein guter Mensch gewesen, er hatte viele Leute betrogen und nahm es mit der Wahrheit nicht so genau. Er hat mir vor Jahren einmal aus einer sehr misslichen Lage geholfen. Ich hatte viel Geld beim Kartenspiel verloren und Schulden gemacht. Meine Gläubiger bedrängten mich, die Summe von zweitausend Mark an sie zu zahlen, wozu ich aber nicht in der Lage war. Mein Bekannter gab mir ohne zu zögern die Summe. Als ich mit ihm die Rückzahlung besprechen wollte, winkte er ab und meinte, er wisse doch, dass ich soviel Geld niemals zurückzahlen könnte. Als ich ihn fragte, ob er mir denn das Geld schenken wolle, lachte er und sagte, er habe noch niemandem was geschenkt und mir schon gar nicht. Er erklärte mir, wenn er einmal sterben müsse, hole er mich innerhalb von drei Monaten nach. Da er jünger war als ich, machte ich mir darüber keine großen Gedanken. Ich war froh, meine Schulden los zu sein. Als ich mich damals von ihm verabschiedete, sagte er „Merke dir, ich werde irgendwann bei dir anpochen, um die Schulden einzutreiben. Bis es so weit ist, musst du auf den Anpocher halt warten!“

Schaler schien das Gespräch angestrengt zu haben. Er lag nun fast reglos im Bett. Den Michel aber überlief es eiskalt. – Der Mann, dem er heute Morgen nicht weit von der Waldkapelle begegnet war – konnte niemand anders sein, als der Mann, von dem Schaler gerade berichtet hatte.
Was hatte der Mann da vor ihm im Bett behauptet? Vor elf Wochen sei dieser Mann schon gestorben?
Er schaute auf Schaler, der immer noch reglos im Bett lag und mit weit aufgerissenen Augen zur Decke starrte. „He, Schaler“, fragte er leise, „ist das alles wahr, was du da erzählt hast?“ In seinen weit aufgerissenen Augen stand das blanke Entsetzen. „Schaler, so antworte doch“, rief Michl jetzt etwas lauter. Doch der rührte sich nicht. Als Michl erneut zu einer Frage ansetzten wollte, richtete sich Schaler ruckartig in seinem Bett auf und stieß einen markerschütteten Schrei aus. Michl hatte in diesem ausgemergelten Körper keine derartige Energie mehr vermutet. Die Augen glotzten ihn an, als ob er der Leibhaftige wäre. Bevor Michl etwas sagen konnte, fiel Schaler wieder in die Kissen zurück. Er trat nun näher an Schalers Bett, um ihm seine Hilfe anzubieten. Wie schon erwähnt, war der Raum abgedunkelt und erst, als er unmittelbar vor dem Kranken stand, konnte er sehen, dass Schalers Gesichtszüge nichts Menschliches mehr an sich hatten. Inzwischen war der Arzt eingetroffen, den die Frau wohl gerufen hatte. „Ist er tot?“, wollte Michl vom Doktor wissen. Dieser wandte sich an Schalers Frau und sprach: „ Er liegt im Koma!“ Die Frau weinte und verließ das Zimmer. Auch der Arzt ging, versprach aber Schalers Frau, am Abend noch mal zu kommen.
Der „Sulzer-Michl“ warf noch einen kurzen Blick auf den Mann im Bett und verließ ebenfalls das Haus. Was er in den letzten zwei oder drei Stunden erlebt und gesehen hatte, reichte auch ihm. Er schickte sich nun an, seine privaten Sachen zu erledigen, um dann so schnell als möglich den Heimweg anzutreten.
Als alles erledigt war, genehmigte er sich noch eine halbe Bier und machte sich auf den Rückweg. Der arme Schaler wollte ihm einfach nicht aus dem Kopf gehen. War er heute Morgen tatsächlich diesem „Anpocher“ begegnet? All diese Fragen schwirrten in seinem Kopf herum und ließen ihn, der die Natur ansonsten so sehr liebte, kaum auf die Umgebung achten. Unruhig war er, der Michl. Er hatte seine Gangart dermaßen verschärft, dass er alsbald die Waldkapelle erreichte. Die Sonne war schon hinter den Hügeln des Böhmerwaldes verschwunden, als er sich auf die Bank setzte, die neben der Kapelle stand. Er war müde, was bei Michl nicht oft vorkam. Bequem streckte er seine Füße aus und war entschlossen, hier eine längere Rast einzulegen.
Die Stille hier an der Waldkapelle tat ihm gut. Er nickte ein. Doch urplötzlich war er hellwach! Schritte waren zu hören, die aus der Richtung von der Strasse kommen mussten. Eine Person näherte sich ihm. Es war ein Mann! Sofort erkannte er in ihm den Kerl von heute Morgen. Er war noch genauso gekleidet, auch sein Aussehen hatte sich nicht geändert. Seine kalten Augen auf Michl gerichtet, fragte er: „Hast du meine Nachricht überbracht?“ Dieser brauchte erst einmal Zeit, um seine Gedanken zu ordnen, er wollte nämlich diesen unangenehmen Gesellen so schnell wie möglich loswerden. „Habe ich“, antwortete er, „nun will ich gehen!“ Die abgemagerte Hand unter dem Papierhemd streckte sich Michl entgegen. Zum Dank wollte dieser ihm offensichtlich die Hand reichen. Michl wich instinktiv zurück. Er weigerte sich, diesem ekligen Kerl die Hand zu geben. Mit eiskalter Miene zog sein Gegenüber die Hand zurück und ließ sie in der Tasche des Mantels verschwinden. Michl war nun vorsichtig geworden, er ließ den Mann nicht mehr aus den Augen. Wenn sich herausstellen sollte, dass es der Bursche war, der Schaler die 2000 Mark gegeben hatte, konnte die Sache nicht mit rechten Dingen zugehen. Nach Schalers Angaben war dieser vor knapp drei Monaten gestorben und in Weißensulz auf dem Friedhof beerdigt worden. Michl glaubte weder an Geister noch Gespenster und schon gar nicht, dass Tote im Wald herumlaufen. Er legte alle Scheu ab und fragte sein Gegenüber, wer er ist und wo er zu Hause sei. Keine Regung war zu erkennen, als dieser mit teilnahmsloser Stimme sagte: „Hör mir gut zu, was ich dir jetzt sage!“ Dabei sah er den Michl mit seinen kalten, ausdruckslosen Augen an. „Ich warne dich, auch nur einer einzigen Menschenseele etwas von unserer Begegnung zu erzählen. Es würde dir sonst schlecht bekommen!“ „Willst du mir drohen?“, antwortete Michl. Der andere machte einen Schritt nach vorne, so dass Michl seinen Atem spüren konnte. Michl wich zurück, nicht aus Angst, sondern vor dem Gestank des Atems, der von dem Kerl ausging. „Komm mir nicht zu nahe, Bursche, sonst muss ich handgreiflich werden!“ Die Hand zur Faust geballt, richtete sich Michl vor dem Kerl auf. „Willst mich wohl totschlagen?“, lachte dieser heiser, „nur zu, tu dir keinen Zwang an!“ Höhnisch schaute er Michl dabei an und forderte ihn mit seinen spindeldürren Finger auf, es doch zu tun. Dieser hatte es nun endgültig satt, sich noch länger mit diesem unangenehmen Burschen abzugeben. Ohne ein weiteres Wort ließ er den Mann stehen und setzte den Heimweg fort. „Trotzdem, nochmals schönen Dank, dass du Schaler vorbereitet hast!“ Hörte er die merkwürdige Gestalt sagen und als sich Michl umdrehte, um zu antworten, war der Mann wie vom Erdboden verschwunden. Nur dieser modrige Geruch, der von dem Fremden ausging, lag in der sonst so wohlriechenden Waldluft. Als die ersten Häuser von Eisendorf zu sehen waren, atmete der „Sulzer-Michl“ auf. Er getraute sich nicht, jemandem von dieser unheimlichen Begegnung zu erzählen. Eine Woche später traf er durch Zufall den Doktor von Weißensulz, der einen schwer erkrankten Patienten in Eisendorf besuchte. Michl fragte den Arzt, wie es dem armen Schaler wohl geht. „Der ist noch in der selben Nacht verstorben, genau an dem Tag, wo Sie ihn besucht haben“, antwortete er. Und als er sah, dass der Michl blass wurde, fragte er ihn nach seinem Befinden. Michl hatte es eilig, er versicherte dem Doktor, dass es ihm gut geht und dann war er auch schon weg. Monate ging der „Sulzer-Michl“ nicht mehr nach Weißensulz. Und als er es doch wieder wagte, besuchte er das Grab von Schaler. Auf dem kleinen Holzkreuz war zu lesen: Hier ruht in Frieden M. Schaler. Nur eine Grabstätte weiter fand er das Grab des Mannes, den Schaler den „Anpocher“ genannt hatte. Viele Jahre später vertraute Michl sein Erlebnis dem Pfarrer von Eisendorf an. Wer aber die seltsame Geschichte weitererzählte, ist bis heute nicht bekannt.

Die Geschichte vom Söldner ohne Kopf

''Zu dieser Geschichte muss ich zunächst ein bisschen aus der Zeit des „Dreißigjährigen Krieges“ erzählen.
Wenn man von Eisendorf zur Tillyschanze geht, kommt man schon nach wenigen Schritten auf der Oberpfälzer Seite in ein Waldstück, das zu den „Tillygräben“ führt. Diese Schanzen sind bis heute noch sehr gut zu erkennen. Deutlich kann man die Vertiefungen im Waldboden sehen. Hier hatte sich im Jahr 1621 der Feldherr Johann Tserclaes Graf Tilly mit seinem Heer verschanzt. Auf der böhmischen Seite bei Eisendorf lauerte der Söldnerführer Peter Ernest/Ernst Graf zu Mansfeld mit seinen Landsknechten. Dieser rücksichtslose Söldnerführer zog mit seinen protestantischen Truppen gegen das kaiserliche Heer ins Feld.
Im November 1621 beauftragte Maximilian von Bayern seinen Feldherrn Tilly mit der Verfolgung der Truppen des Grafen Mansfeld.
Die Oberpfalz hatte zu dieser Zeit Entsetzliches zu überstehen. Die Disziplin im Heer von Tilly war schon im Sommer 1621 untergraben. Die unvollständige Soldzahlung trug dazu bei, dass sich Tillys Soldaten mit der Zügellosigkeit des Eroberers an den Dörfern und den darin lebenden Menschen schadlos hielten. Tilly wusste auch, dass er alleine diesen Mansfeld nicht schlagen konnte. Er drängte aber dessen Heer aus der Oberpfalz und bezog dort selbst Winterquartier. Der Begriff „Winterquartier“ steht für viele menschliche Tragödien und Vernichtung. In den Städten plünderten die Soldaten sogar die Spitäler und Pesthäuser, dabei schleppten sie die Seuche in ihre eigenen Reihen ein und verbreiteten sie über das ganze Land. Doch nun zu der Geschichte.''

Geschichten über die „Tillygräben“ gibt es viele, die folgende ist mir bis heute noch gut in Erinnerung.
Alle Bewohner von Eisendorf und Umgebung wussten, dass es angeblich nachts im Wald an der Grenze, dort wo sich die „Tillygräben“ befinden, nicht geheuer sei. An dieser Stelle, nahe der Tillyschanze, sollen noch Geister und Gespenster ihr Unwesen treiben, die ihren Ursprung aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs haben.
Es soll ja Menschen geben, die selbst den Teufel nicht fürchten. Von dieser Sorte war auch der „Meier Toni“ aus Eslarn. Er arbeitete als Knecht und Erntehelfer auf verschiedenen Bauernhöfen. An Sonntagen verbrachte er seine freie Zeit hauptsächlich in den Wirtshäusern um Eisendorf oder direkt im „Gasthaus zur Tillyschanze.“ Nur an Werktagen ging er abends in Eslarn auf ein Bier, wie er zu sagen pflegte. Es war im Hochsommer 1939, als er, von Eisendorf kommend, noch auf ein Bier ins „Gasthaus zur Tillyschanze“ wollte. Er war etwas außerhalb vom Ort in einer Wirtschaft zu Gast gewesen, die an der Straße nach Dianaberg lag. So benutzte er für den Heimweg nicht die Hauptstraße, die geradewegs zur Tillyschanze geführt hätte, sondern nahm den Weg, der über kleine Weiher an den Tillygräben vorbeiführte.
Die Weiher waren mehr oder weniger Tümpel, in denen nicht viel Wasser stand. Dennoch konnte man Frösche, Molche und manchmal sogar Feuersalamander sehen. Es war auch ein beliebter Treffpunkt für Kinder aus Eisendorf und von der Tillyschanze. Nachts sah es da allerdings immer etwas gespenstisch aus. Die großen Weidenstauden, die sich um die Weiher rankten, nahmen in der Dunkelheit seltsame Formen an. Einige sahen aus wie ein drohender Riese, der, bedingt durch die Äste, die Arme zum Himmel streckt.
Dem „Meier Toni“ machte das rein gar nichts aus. Er war bekannt für seine sprichwörtliche Furchtlosigkeit. Dem 1,85 Meter großen Mann sagte man auch außergewöhnliche Kräfte nach. In dieser Nacht sollte seine Furchtlosigkeit aufs Grausamste geprüft werden.

Er hatte gerade den ersten Wassertümpel erreicht und freute sich bereits auf einen Krug Bier an der Tillyschanze. Plötzlich vernahm er sonderbare Geräusche, die aus dem Wald – nahe den Tillygräben – kamen.

Der Toni blieb stehen und lauschte angestrengt in diese Richtung. Deutlich hörte er jetzt Stimmen. Als er noch überlegte, ob er nachsehen sollte, um der Sache auf den Grund zu gehen, näherte sich ihm eine Gestalt. Der sonst unerschrockene Meier Toni zuckte beim Anblick derselben zusammen und wurde blass. Das Gebilde, das da auf ihn zukam – war ohne Kopf! Denselben trug er nämlich unter seinem Arm! Was aber noch schlimmer war: In dem vom Rumpf abgetrennten Kopf funkelten die Augen wie Feuerblitze und auch der Mund bewegte sich. Die Figur blieb etwa fünf Meter vor dem Toni stehen. Dieser dachte, dass vielleicht der Alkohol schuld sei und er nur einem Irrtum unterliege. Er wischte sich einige Male über die Augen, doch dieser Mann in einer Art Ritterrüstung vor ihm, hatte tatsächlich seinen Kopf unterm Arm. Der Toni konnte sich nicht fortbewegen. Der Schreck saß ihm so tief in den Knochen, dass er nicht fähig war, auch nur einen Schritt zu machen. Der Kerl da vor ihm hatte keinen Kopf! Blut schien aus dem Hals zu laufen, das konnte der Meier Toni deutlich sehen. Lange zottelige Haare hingen seitlich am abgetrennten Kopf hinunter und die Augen glühten wie Kohlen. Unentwegt bewegten sich die Lippen, als wollten sie dem Toni etwas sagen. Der Kopf war unter dem Arm geklemmt, so wie die Ritter einst ihren Helm trugen, wenn sie ihn abnahmen. Doch mit einem Schlag war von Toni die Erstarrung gewichen. Er ging nun aufs Ganze! Er war wild entschlossen, den Kerl da vor ihm anzugreifen. Urplötzlich sprang er auf die Gestalt zu, um sie mit den Händen zu greifen. Durch die Wucht, mit dem er den Sprung ausführte, stürzte er zu Boden, seine Hände fassten ins Leere – der Kerl war weg!
Plötzlich vernahm er ein schauriges Lachen und der Bursche stand, im gleichen Abstand wie zuvor, erneut vor ihm. Wie schon gesagt, Toni war zu Boden gestürzt, es hatte nicht viel gefehlt, und er wäre in einem der Tümpel gelandet. Der Meier Toni setzte jetzt nicht mehr zu einem Sprung an, sondern er ging mit ruhigem, aber festem Schritt auf das Wesen zu. Er hatte schon mehr als zehn Meter zurückgelegt, doch der Abstand zu seinem Gegenüber wollte sich einfach nicht verringern. Ohne es bemerkt zu haben, befand er sich bereits nahe am Waldrand, nur wenige Meter von den Tillygräben entfernt. Die Person ohne Kopf stand immer noch in gleicher Entfernung vor ihm wie bisher. Mittlerweile aber fast am Waldsaum!
Nun wurde es dem Toni aber zu dumm! Er rief, so gut er es in dieser Lage vermochte, mit fester Stimme: „He, wenn du etwas von mir willst, dann bleib gefälligst stehen!“ Was er von seinem Gegenüber zu hören bekam, war nur dieses abscheuliche Lachen. Toni glaubte jetzt wieder Stimmen zu hören. Und sogar das Schnauben von Pferden. Die Geräusche kamen, das konnte er deutlich wahrnehmen, direkt aus den Tillygräben. Was Toni aber jetzt sah, jagte ihm erneut kalte Schauer über den Rücken. Der Bursche ohne Kopf winkte ihm mit der Hand zu. Und aus der Handbewegung war zu erkennen, dass er wollte, dass Toni zu ihm kommen solle. Bei allem Mut, den Toni sonst problemlos aufbrachte – er würde einen Teufel tun und sich diesem Kerl nähern. Er drehte sich um, ging an dem Tümpel vorbei, in den er beinahe gestürzt wäre und verließ den Ort des Grauens in Richtung Eisendorf. Er wandte sich dabei kein einziges Mal um. Seine Konzentration war nur darauf gerichtet, ob ihm dieser Bursche wohl folgen würde. Er ging fast bis zu den ersten Häusern der Ortschaft, erst dann blieb er stehen. Langsam drehte er sich um. Soweit es die Dunkelheit erlaubte, war weit und breit niemand zu sehen. Nach kurzem Überlegen entschloss er sich doch noch, ins Gasthaus zur Tillyschanze zu gehen. Als er dieses fast erreicht hatte, streifte sein Blick unwillkürlich hinüber zum ehemaligen Zollhaus. Bei Gott und allen Heiligen hätte er schwören können, dass hinter dem Gebäude, das unmittelbar am Wald angrenzte, eine Gestalt zu sehen war, – die keinen Kopf hatte. Mit schnellen Schritten betrat er das Wirtshaus, es waren kaum noch Leute anwesend. Als der Wirt ihm sein Bier brachte, konnte dieser sehen, wie bleich sein Gast aussah. Stockend und mit heiserer Stimme erzählte ihm der Meier Toni sein Erlebnis. Wer geglaubt hat, der Wirt würde ihn auslachen, der sah sich getäuscht. Er setzte sich zum Toni an den Tisch und sagte: „Bei den Tillygräben ist es nicht geheuer. Das haben mir schon oft Gäste berichtet, die nachts an diesen vorbei gingen. Aber von einer Gestalt ohne Kopf hat mir noch keiner berichtet.“ Er schlug dem Meier Toni vor, die Nacht bei ihm zu verbringen. Dieser war nämlich nicht mehr gewillt, die 5 Kilometer nach Eslarn durch den Wald - und noch dazu über den Goldberg - in dieser Nacht zu gehen. Als der Wirt die Gaststätte schloss, legte er sich auf eine Bank in der Gaststube. Der sonst so furchtlose Meier Toni hatte in dieser Nacht das Fürchten gelernt.

Der Geist vom Goldberg

Es war im 2.Weltkrieg, man schrieb das Jahr 1942. An einem schönen Sommertag machte sich der „Steffel“, ein furchtloser Bursche aus Eisendorf, auf, um zu Fuß nach Eslarn zu gehen. Er wollte sich noch mal bei seiner Tante sehen lassen, bevor er zum „Reichsarbeitsdienst“ (RAD) einrücken musste.
Vor einigen Tagen hatte er den „Einberufungsbefehl“ zum RAD erhalten. In zwei Wochen war es soweit, dann musste er seinen geliebten Heimatort Eisendorf verlassen. Beim RAD wehte wohl in Zukunft ein anderer Wind. Und so wollte er seine noch verbleibende „Freiheit“ weidlich nutzen.
Gleich hinter der Tillyschanze bog er in einen Waldweg ab. Dies war der kürzeste Fußweg nach Eslarn. Heute war es schon am Vormittag heiß und der Steffel war froh, den Schatten der Bäume nutzen zu können. Als er am Goldberg vorbei kam, musste er an eine Geschichte denken, die ihm seine Mutter oft erzählt hatte. Er, der Steffel, glaubte an solche Geschehnisse nicht. Die Mutter behauptete nämlich, dass es in der Umgebung am Goldberg „umgeht“ (geistert.) Sie hatte ihm erzählt, dass es nicht ratsam sei, bei Dunkelheit und insbesondere um Mitternacht, sich dort aufzuhalten. Für Steffel war dies ganz einfach – wie er es zu nennen pflegte - ein „Altweibertratsch.“ Im Winter war er schon als Bub hier am Goldberg Schlitten gefahren. Und im Sommer hatte er Brennholz und Tannenzapfen gesammelt.
Als er den so genannten „Pflanzgarten“ erreicht hatte, wo der Berg zu Ende ging und die Straße wieder flacher wurde, konnte man bereits den Marktflecken Eslarn sehen. Nun waren es noch etwa 4. Kilometer bis zur Ortschaft. Steffel nutzte, solange es möglich war, den Weg über die Wiesen und gelangte erst kurz vor Ortsbeginn auf die Hauptstrasse. Er hatte seine Jacke ausgezogen, die Hitze wurde jetzt immer größer. Der Zufall wollte, dass er seine Tante vor der Metzgerei traf, wo sie immer ihren Einkauf machte.
„Ja Steffel, wo kommst du denn her?“, fragte sie erstaunt.
„Zu dir will ich, möchte mich von dir verabschieden, muss nämlich zum Arbeitsdienst!“, erwiderte er und nahm ihr dabei die Einkaufstasche ab. „Die ist nicht schwer“, meinte die Tante, „die geben ohne Marken nichts mehr ab!“ Mit „Marken“ meinte sie die Fleischmarken auf der Lebensmittelkarte, die eine vorgeschriebene Menge zu kaufen erlaubten. „Selbst wenn du noch „Marken“ hast, bekommst du nicht immer etwas!“, erzählte sie ihrem Neffen. Dann aber musste Steffel berichten, wann und wohin er denn „einrücken“ müsste. Sie versprach, heute etwas ganz Besonderes für ihn zu kochen. Beim Mittagessen erzählte die Tante, dass der Onkel an die Ostfront versetzt worden war und seit zwei Wochen nichts mehr von sich hatte hören lassen. Steffel tröstete sie, indem er ihr erklärte, dass die „Feldpost“ oft lange unterwegs war, bis sie ins Reichsgebiet gelangte. Dann beendeten sie das Thema. Die Tante wollte ihren Neffen nicht beunruhigen, wo er doch selber bald Soldat werden sollte.
Steffel blieb bis zum Abendessen, das sie, bedingt durch das schöne Wetter, im Garten einnahmen. Danach verabschiedete er sich und versicherte ihr, sie bei seinem ersten Urlaub zu besuchen. Er wollte noch einen ehemaligen Schulfreund aufsuchen, mit dem ihn eine herzliche Freundschaft verband. Auch dieser hatte schon seine „Musterung“ hinter sich und erwartete in Kürze den „Einberufungsbefehl“.
Sie gingen in eine Gaststätte, um noch gemeinsam ein Bier zu trinken. Im Wirtshaus waren nur alte Männer anwesend, die einzige Frau war die Wirtin. Sie setzten sich mit an den Stammtisch, die älteren Herren hatten sie dazu aufgefordert. Steffel wollte nach dem zweiten Bier den Heimweg antreten, was die trinkfeste Runde vehement zu verhindern wusste.
„Trink ruhig noch eine Halbe!“, meinte der Älteste der Alten, „hast noch einen weiten Weg vor dir.“
Nach langem „Hin und Her“ willigte Steffel ein.
„Ich möchte nachts nicht über den Goldberg gehen“, griff der alte Mann erneut das Thema auf.
„Kannst dir deine alten Geschichten sparen, ich glaube an keine Gespenster!“, antwortete Steffel ärgerlich. „Ich habe nämlich noch keines gesehen!“
Der Alte zündete sich seine Pfeife an, die einen fürchterlichen Gestank verbreitete, Tabak konnte das nicht sein, was er da rauchte. Und dann wandte er sich an Steffel: „So haben schon viele geredet und sich dann doch in die Hose gemacht, als sie dem Geist vom Goldberg begegneten!“ Die anderen pflichteten ihm bei, indem sie eifrig nickten.
„Wenn du willst“, mischte sich die Wirtin ein, „kannst du hier übernachten, ich habe zwei Fremdenzimmer“. Dabei lachte sie, weil sie sah, dass sich der Steffel ärgerte. Der Schulfreund mischte sich nun in das Gespräch ein und erklärte, dass sein Freund nirgends übernachten müsse und wenn, dann könne er dies bei ihm.
Die Alten lachten und deren Wortführer meinte, dass schon viele große Töne gespuckt hätten, im Angesicht des Geistes jedoch ganz klein wurden und die Nerven verloren.
Steffel beeilte sich nun, seine Halbe leer zu trinken. Ihm ging der Diskurs auf die Nerven. Der wahre Schrecken, das war der bevorstehende Arbeitsdienst und nicht diese Schauermärchen. Mittlerweile war es bereits eine Stunde vor Mitternacht und Steffel verlangte nach der Wirtin, um zu bezahlen.
„Du bist nichts schuldig“, erklärte ihm der Alte vom Stammtisch, „deine Zeche übernehme ich!“
„Warum?“, fragte Steffel.
„Weil du bald zum Militär musst, Junge. Da braucht man jeden Pfennig. Ich habe gehört, beim Arbeitsdienst gibt es nur zwanzig Pfennig am Tag!“
Steffel konnte es Recht sein, er bedankte und verabschiedete sich auch gleich. Der Alte konnte es sich nicht verkneifen, ihm einen guten Rat mit auf den Heimweg zu geben: „Pass gut auf dich auf, mein Lieber, mit dem ‚Geist vom Goldberg’ ist nicht gut Kirschen essen.“ Steffel verzichtete auf eine Antwort und verließ mit seinem Freund das Gasthaus. Erst auf der Straße verabschiedet er sich von ihm. Er wünschte ihm einen guten Heimweg, – dann war Steffel alleine.
Mit schnellen Schritten machte sich dieser nun auf den Weg. Da im gleichen Moment die Kirchturmuhr elf Mal schlug, hatte er die genaue Zeit und er konnte sich ausrechnen, dass er kurz nach Mitternacht wohl zu Hause sein musste. Er blieb auf der Strasse, die an den so genannten „Kellerhäuslern“ vorbei führte, um später die Abkürzung über einen Feldweg zu nehmen. Diesen Feldweg benutzte er bis kurz vor dem „Pflanzgarten.“ Der Fußweg führte dort wieder auf die Hauptstrasse, die über den Goldberg geradewegs nach Eisendorf verlief. Da er ein enormes Tempo vorgelegt hatte – hatte er vielleicht doch Angst? - wollte er sich nun ein bisschen Zeit lassen. Es war eine sehr warme Nacht. Ab und zu verschwand der Mond hinter einer Wolke, ansonsten verbreitete dieser ein mildes Licht über die Landschaft.
Er näherte sich bereits dem zur linken Seite stehenden, ehemaligen Zollhaus, als er genau gegenüber seltsame Geräusche vernahm. Diese Seite war doch reines Waldgebiet! Er blieb stehen und horchte angestrengt in die Stille der Nacht hinein. Da – jetzt war es ganz deutlich zu hören – „Hilf mir, hilf mir...", hörte er eine leise Stimme rufen. Steffel, der sich am linken Straßenrand befand, wechselte sofort auf die andere Seite und rief mit lauter Stimme: „Was ist los, wo bist du, gib Antwort, wenn ich helfen soll!“ Totenstille – nichts war zu hören! Steffel sprang mutig über den Straßengraben und ging sogar einige Meter in den Wald hinein. „Hallo, melde dich doch noch mal, wenn ich dir helfen soll!“ Nichts, kein Laut war zu hören. Steffel überquerte abermals den Graben und begab sich wieder auf die Straße zurück. Er zuckte mit den Schultern und glaubte sich getäuscht zu haben. Er war noch keine drei Schritte gegangen, als er wie zu einer Säule erstarrt stehen blieb. Zwischen einigen Himbeersträuchern, die hier in Waldrandnähe zwischen den Bäumen wachsen, sah er eine weiß gekleidete Frauengestalt stehen. Diese hatte eine Hand erhoben, die ihm eindeutig Zeichen gab, näher zu treten. Steffel war beim Anblick der Erscheinung so erschrocken, dass er nicht in der Lage war sich zu bewegen.
Als er noch überlegte, was er tun sollte und dabei als erstes die Flucht in Betracht zog, war das Gebilde zwischen den Sträuchern wieder verschwunden. Erst jetzt war er fähig sich zu bewegen. Er hatte nur noch Eines im Sinn, – weg hier und zwar so schnell wie möglich. Er ging auch sofort los und mit jedem Schritt erhöhte er das Tempo. Er hatte noch keine 50 Meter zurückgelegt, als die weiß gekleidete Gestalt, keine zehn Schritte vor ihm, mitten auf der Straße stand. Vor Schreck blieb er stehen, wieder unfähig, sich zu bewegen. Er glaubte zu spüren wie sein Blut in den Adern gefror. Sein Herz schlug oben am Hals, lauter als ein Trommelschlag. „Hilf mir...“ wimmerte die Gestalt und kam, wie mit zum Gebet gefalteten Händen direkt auf ihn zu. Für einen kurzen Augenblick sah er dem Wesen direkt ins Gesicht. Schauerlich!! Drei schwarze Löcher sah er, zwei für die Augen und ein großes in der Mitte, wo sich die Nase befindet. Fleischliches oder Menschliches wie Mund oder Lippen waren nicht zu erkennen.
Instinktiv machte Steffel einen Schritt zurück und dann fing er an zu laufen. Einen Bogen um die Gestalt machend, rannte er los, so schnell wie noch nie zuvor in seinem Leben. Einmal kam er dabei zu Fall, raffte sich auf und rannte weiter. Wie er zur Tillyschanze kam, konnte er nicht sagen. Plötzlich befand er sich an der „Gaststätte zur Tillyschanze“, wo er stehen blieb. Er rang nach Luft und dann wurde es schwarz vor seinen Augen.
Wie lange Steffel ohnmächtig am Boden lag, konnte er nicht sagen. Als er zu sich kam, schaute er in ein Männergesicht, das sich über ihn beugte. Erschrocken wollte er sich erheben, was ihm aber nicht gelang.
„Langsam, Bub“, hörte er die Stimme über ihm sagen, „ich helfe dir!“ Der Mann fasste den Steffel unter die Arme und zog ihn hoch.
„Wo bin ich?“, fragte Steffel den Mann.
„Auf der Tillyschanze. Ich kam aus dem Gasthaus und sah dich hier am Boden liegen“, antwortete der Mann.
Langsam kam er nun zu sich. Deutlich hatte er jetzt wieder die weiße Gestalt vor Augen, vor der er in panischer Angst weggelaufen war.
Nachdem sich der Helfer erkundigt hatte, ob er denn alleine zurechtkomme und Steffel dies bejahte, ging dieser in Richtung Eslarn davon. Steffel wollte den Mann noch warnen und ihm von seiner„Begegnung“ berichten, unterließ dies aber, weil er befürchten musste, sich lächerlich zu machen. So begab er sich ebenfalls auf den Heimweg. Er wohnte im „Hundschwanz“, so nennen die Einwohner von Eisendorf die lang gezogene Strasse zum Ortsausgang. Als er am Weiher vorbei kam, blieb er stehen, lehnte sich an das Geländer und dachte über seine unheimliche Begegnung am Goldberg nach. Was war das für ein Wesen, das ihn um Hilfe gebeten hatte? In welcher Angelegenheit sollte er dieser Erscheinung helfen? Fragen über Fragen. Nur eine plausible Erklärung gab es nicht. Hatte man ihm womöglich einen Streich gespielt? Oder gab es tatsächlich diesen „Geist vom Goldberg?“ Noch lange stand er am Weiher und grübelte über seine Begegnung nach, eine Sinndeutung über das Erlebte fand er nicht.
Eines aber war sicher: Nachts und schon gar nicht um Mitternacht würde er niemals wieder über den Goldberg gehen.

Die Geister vom Galgenberg

Eine gute Fußstunde von der ehemaligen Kreisstadt Vohenstrauß liegt das schöne Städtchen Pleystein. Mit seiner mitten im Ort gelegenen Klosterkirche auf einem steilen Berg aus Rosenquarzstein, ist es heute Anziehungspunkt vieler Touristen. Geologen streiten sich immer noch über die Herkunft dieser Erhebung aus Rosenquarz. Nicht nur das kleine, aber feine Städtchen, umgeben von herrlicher Natur, ist ein Erlebnis – auch die Menschen, die da wohnen, sind für jeden Erholungssuchenden eine Wohltat. Natürlich ist der für die Oberpfalz typische Dialekt nicht jedermanns Sache. Doch schon nach kurzer Zeit merkt der Fremde, dass es gut gemeint ist, was manchmal in einer etwas ruppigen Tonart von Einheimischen zu hören ist. Und Eines muss man den „Pleysteinern“ vorbehaltlos zugestehen: Ihre sprichwörtliche Freundlichkeit gegenüber Gästen. Nicht umsonst wirbt das Städtchen mit dem treffenden Slogan „Bei Freunden zu Gast!“

Doch nun zu der eigentlichen Geschichte. Anfang der fünfziger Jahre im Frühjahr, der zweite Weltkrieg war den Menschen noch gut in Erinnerung, war Georg Hafner, besser bekannt unter seinen Hausnamen „Hafner-Schorsch“, aus Vohenstrauß unterwegs nach Pleystein. Er war beim „Kreuzwirt“ mit einem Bauern aus Georgenberg verabredet. Natürlich wurde die gut fünf Kilometer weite Strecke zu Fuß zurückgelegt. Der „Hafner-Schorsch“ war ein großer Geizkragen. Bevor der ein „Zehnerl“ ausgab, überlegte er sich dies zweimal. Er war heute erst am Nachmittag aufgebrochen, denn die Zusammenkunft beim Kreuzwirt sollte um 19 Uhr stattfinden. Vorher hatten ja die Bauern keine Zeit. Erst wenn die Tiere gefüttert und versorgt waren, ging man ins Wirtshaus. Es war gegen 15. Uhr, als der Schorsch in Pleystein eintraf. Er war ein sehr religiöser Mann, daher besuchte er als Erstes die „Kreuzbergkirche.“ Lange saß er in der Kirchenbank und betete zu der Heiligen Jungfrau, dass diese ihm helfen möge, den Bauern aus Georgenberg beim anstehenden Geschäft übers Ohr zu hauen. Er betete inbrünstig und durchaus ehrlich, ihm wäre es im Traum nicht eingefallen, seine Bitte nur oberflächlich vorzutragen. Er war sich sicher, dass es keine Sünde sei, den Bauern aus Georgenberg über den Tisch zu ziehen. Er ging über die „Stationen“ (Kreuzweg) zurück und setzte sich am Stadtweiher auf einen größeren Stein. Die Frühjahrssonne war auch noch am Spätnachmittag recht mild. Er war schon im Begriff, weiter zu gehen, als sich ihm ein Mann näherte. Eine schon recht seltsame Gestalt war das, die da auf ihn zukam und vor ihm stehen blieb.

„Grüß Gott!“, sprach er den Hafner-Schorsch an.
„Grüß Gott“, antwortete der und musterte den Fremden von oben bis unten.
„Hast du Kummer, mein Freund?“, fragte ihn dieser, noch bevor der Schorsch mit dem Taxieren des Fremden fertig war.
„Das geht dich ja wohl kaum was an“, antwortet der Hafner-Schorsch etwas unwirsch. Neugierig geworden fragte er dennoch: „Und wenn es so wäre?“ Die komische Gestalt lachte – ein seltsam blechernes Lachen war das, was dieser von sich gab. „Du hast nicht nur Probleme, du bekommst noch größere Schwierigkeiten dazu, wenn du deinen Geiz nicht zügeln kannst!“, sprach dieser und begleitete seine Worte wieder mit diesem ekelhaften Lachen. Einen Moment lang war der Hafner-Schorsch nun doch etwas verwirrt, dann fasste er sich wieder und im scharfen Ton forderte er den Fremden auf zu verschwinden.
Der tat, als habe er die Aufforderung erst gar nicht verstanden und fuhr mit seiner unangenehmen Stimme fort: „An deiner Stelle würde ich sofort nach Hause gehen, ich rate dir dringend, dies zu tun!“ Sprachs, drehte sich um und verließ stadtauswärts den Ort. Gerne hätte der Schorsch ihm noch einige Unfreundlichkeiten gesagt, doch der Fremde war schon um das nächste Hauseck verschwunden.
Nachdenklich verließ nun auch er die Anlage am Stadtweiher. Er wollte noch etwas trinken und dann auf seinen Geschäftspartner warten. In der Gaststätte waren um diese Zeit nur wenige Gäste anwesend. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu diesem seltsamen Mann zurück, den er in der Anlage getroffen hatte. Schon zweimal kam der Wirt zu ihm an den Tisch, um nachzusehen, ob er eventuell ein zweites Bier einschenken könnte. Das brauchte er nicht! Der Hafner-Schorsch hatte bis auf einen kleinen Rest sein Bierglas geleert – nicht im Traum wäre ihm eingefallen, ein zweites zu bestellen, denn dafür war er viel zu geizig. Als der Wirt ein drittes Mal an seinen Tisch kam, trank er bis auf den letzten Tropfen sein Glas leer, bezahlte und verließ verärgert das Gasthaus. Unschlüssig blieb er eine Weile auf der Straße stehen, dann entschloss er sich, in der Nähe der Gaststätte „Kreuzwirt“ auf den Landwirt aus Georgenberg zu warten.
Dieser kam pünktlich. Sie setzten sich an einen leeren Tisch im hintersten Winkel der Gaststube. Der Bauer aus Georgenberg kam ohne Umschweife zum Geschäft. „Wir haben alles bei der Besichtigung besprochen, was zu besprechen war; und nun zum Preis!“, sagte er zum Hafner-Schorsch. Dieser nahm einen Schluck aus seinem Bierkrug, wischte mit dem Handrücken den Schaum vom Mund und sagte mit leiser Stimme: „Ich habe das Geld dabei, wie ausgemacht, nur habe ich mich in Weiden erkundigt und erfahren, dass der Schrank nicht einmal die Hälfte Wert ist, als was du verlangst. Der Georgenberger sprang auf, schob seinen Stuhl beiseite und fasste den Hafner-Schorsch beim Kragen. Dieser konnte sich aber schnell befreien, indem er dessen Hände auf die Tischplatte drückte und ihn aufforderte, sich zu setzten. „Mach kein Theater, es muss ja nicht die ganze Wirtschaft erfahren, um was es uns geht!“ Immer noch reichlich wütend, setzte sich der Bauer wieder auf seinen Stuhl. „Was kann der „Weidner“ über meinen Bauernschrank wissen, er hat ihn doch gar nicht gesehen!“, antwortete er aufgebracht. „Und ob ihn der gesehen hat“, entgegnete der Schorsch, „er war vor zwei Wochen bereits bei dir und hat sogar ein Angebot gemacht.“ - „Ach den meinst du, den habe ich von meinem Hof gejagt, der wollte ihn fast geschenkt haben!“ - „Ich weiß, hat er mir doch erzählt, was für ein ungehobelter Mensch du bist“, sagte der Schorsch und fuhr fort: „Da beißt die Maus keinen Faden ab! Der Mann ist ein Experte, was antike Möbel anbelangt!“ Der Bauer aus Georgenberg wurde unsicher. War sein Schrank, der schon Jahrzehnte auf dem Speicher stand, doch nicht so viel Wert? Oder wollte ihm sein Gegenüber nur runterhandeln? Noch bevor er etwas sagen konnte, meinte der Hafner-Schorsch leise: „Mir gefällt der Schrank; nur die Summe, die du verlangst, steht in keinem Verhältnis zum Wert.“ Verunsichert ob der neuen Situation, lenkte der Georgenberger ein. „Ausgemacht waren zweitausend Mark. Wenn du mir einen Tausender gibst, kannst du ihn haben.“ Der Schorsch bestellte zum Erstaunen des Bauern zwei Bier, bei seinem im ganzen Landkreis bekannten Geiz eine kleine Sensation. Dann prostete er seinem Gegenüber zu, stellte behutsam das Bierglas auf den Tisch und sprach: „Schade, dass du nicht einsichtig bist – so gerne ich das gute Stück hätte – aber tausend Mark für ein paar bemalte, wertlose Bretter bin ich nicht bereit zu zahlen.“ Der Hafner-Schorsch blickte zur Wirtshausuhr und deutete an, sich auf den Heimweg zu machen. Der Bauer aus Georgenberg war enttäuscht, er hatte sich ein gutes Geschäft versprochen, aus dem nun aber nichts werden sollte.
Schuld war dieser Kerl aus Weiden! Der hatte alles kaputt gemacht. Der Vohenstraußer hatte bereits den Wirt gerufen, um zu bezahlen. „Was hat den der „Weidner“ dir gegenüber für einen Preis genannt?“, machte der Georgenberger einen letzten Versuch, doch noch ins Geschäft zu kommen. Der Hafner-Schorsch winkte ab: „Wenn ich dir den sage, glaubst du mir ja doch nicht!“ Dabei trank er sein Glas leer und tat so, als sei er an dem Geschäft nicht mehr interessiert. Wieder streifte sein Blick dabei die Wirtshausuhr und ganz beiläufig sagte er: „Damit nicht alles umsonst war, mache ich dir ein allerletztes Angebot.“ Der Georgenberger blickte erwartungsvoll auf den Schorsch. „Ich muss ein Narr sein, aber ich geb dir zweihundert Mark“, sagte dieser und verzog schmerzhaft sein Gesicht. Der Bauer streckte seine Hand über den Tisch, in die der Hafner-Schorsch eiligst einschlug. Somit war der Handel doch noch zum Abschluss gekommen. Als er die zwei Hunderter auf den Tisch legte, meinte er: „Hast ein gutes Geschäft gemacht. Zweihundert Mark sind heutzutage viel Geld!“ Obwohl der Georgenberger noch eine Halbe zahlen wollte, lehnte dies der Schorsch ab. Es war schon ziemlich spät und er hatte noch eine gute Stunde Fußweg bis nach Vohenstrauß.

Trotzdem es tagsüber bereits recht warm war, wurde es jetzt, eine halbe Stunde vor Mitternacht, empfindlich kühl. Der Hafner-Schorsch schlug den Kragen seiner Jacke hoch, schob die Hände tief in die Hosentaschen und ging los. Vorbei an der Stadtkirche, erreichte er den Friedhof. Schemenhaft konnte er einige Grabkreuze erkennen. Er war schon ein Stück Richtung Bahnhof gegangen, als er innehielt. Er kannte einen Weg nach Vohenstrauß, der ihm kürzer schien – aber über den Galgenberg führte. Man erzählte sich zwar an den Wirtshaustischen so mancherlei Dinge über die Gegend um den Galgenberg, doch der Hafner-Schorsch glaubte nicht an derlei Ammenmärchen. Überhaupt: Angst war für ihn ein Fremdwort! Er ging also die paar Schritte, die er in Richtung Bahnhof gemacht hatte, zurück und überquerte die Brücke, die über die Bahnlinie ging. Der Weg zum Galgenberg führte ihn direkt am Friedhof vorbei. Keinem Menschen war er begegnet, seit er die Gaststätte verlassen hatte. Ein bisschen komisch war es dem Schorsch schon, so nah und um diese Uhrzeit an der Friedhofsmauer entlang zu gehen. Er vergrub die Hände noch tiefer in seinen Hosentaschen und zog den Jackenkragen noch höher. Verstohlen – als ob es jemand sehen könnte - schaute er über die Friedhofsmauer. Nur die Spitzen einiger Grabkreuze waren zu erkennen. Mit schnellen Schritten ließ er den Friedhof hinter sich, er wollte so schnell wie möglich auf die Anhöhe des Galgenbergs kommen. Hatte er diese erst einmal erreicht, wollte er rechts abbiegen und über die Abkürzung durch den Wald Vohenstrauß erreichen. Er hatte noch nicht einmal die Hälfte des Wegs bis zum Kreuz, das sich auf dem höchsten Punkt des Galgenbergs befand, zurückgelegt, als er seltsame Laute vernahm. Erschrocken blieb er stehen. Angestrengt lauschte er in die Richtung, aus der er glaubte, das seltsame Gewinsel vernommen zu haben. So sehr er sich auch anstrengte: Nichts war zu hören und das Gewinsel war auch verstummt. Hatte er sich womöglich getäuscht? War es ein Tier, was er da gehört hatte? Langsam setzte er sich wieder in Bewegung. Da, – jetzt hörte er es ganz deutlich, rechts, aus den Sträuchern am Wegrand, musste es kommen. Es waren eindeutig dieselben Laute wie vorhin! Vorsichtig ging der Schorsch auf das Gebüsch zu. Er hatte noch keine zwei Schritte gemacht, als er wie zur Salzsäule erstarrt stehen blieb.
Vor ihm stand eine hagere oder besser gesagt klapperdürre Gestalt. Wie ein Blitz durchzuckte den Schorsch, – das beim „Kreuzwirt“ getätigte Geschäft mit dem Bauern aus Georgenberg. Es hatte sich für ihn gelohnt. Zweihundert Mark hatte er für den alten Bauernschrank bezahlt, der gut und gerne 2000 Mark Wert war. Alles hatte vorzüglich geklappt! Der so genannte Experte für antike Möbel aus Weiden war nichts anderes als ein schamloser Trick. Eine abgekartete Sache. Denn natürlich steckte der Weidner mit dem Hafner-Schorsch unter einer Decke. Die beiden hatten den „Georgenberger“ gemeinsam über den Tisch gezogen! Er glaubte noch vor wenigen Minuten, dass sein Gebet in der Kirche auf dem Kreuzberg erhört worden war. Das schien aber nun doch nicht der Fall zu sein. Jetzt, wo dieser Bursche da vor ihm stand, fiel ihm auch der komische Kerl in der Anlage des Kreuzbergs wieder ein. Was hatte dieser zu ihm gesagt?
„Du hast nicht nur einige Probleme, du bekommst noch weitere Schwierigkeiten hinzu, wenn du deinen Geiz nicht zügeln kannst!“ All diese Dinge rasten in Sekundenschnelle durch seinen Kopf. „Wer bist du, was willst du von mir?“, fragte er, nachdem er sich vom ersten Schreck erholt hatte, das Gebilde da vor ihm.
Dieser streckte seine klapperdürren Hände nach ihm aus und sprach: „Lege alles, was du besitzt, unter das Kreuz am Galgenberg, – hörst du? Ich sage alles!“ Erschrocken fuhr der „Vohenstraußer“ einen Schritt zurück! Diese Stimme kannte er doch? Nie würde er diese ekelig blechern klingende Stimme je vergessen können. Es war die von dem Kerl aus der Anlage, da war er sich ganz sicher. Noch ehe sich’s der Hafner-Schorsch versah, war die Figur vor ihm verschwunden.
Er kam erst wieder richtig zu sich, als er die Glockenschläge der Kirchturmuhr vernahm. Es waren derer zwölf! Auch das noch – Geisterstunde und er mutterseelenallein auf halbem Weg zum Galgenberg. Mit einem Mal fror der Hafner-Schorsch. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn und obwohl es gar nicht so kalt war, zitterte er am ganzen Körper. Angestrengt, aber auch ängstlich, streifte sein Blick über das Gebüsch am Wegrand. Doch es war zu dunkel, um etwas zu erkennen. Von diesem Kerl war nichts mehr zu hören und zu sehen. Sollte er doch lieber umdrehen und zurück zum Ort gehen? Noch bevor er sich entscheiden konnte, sah er einige Meter vor sich ein Licht. Sollte ihm etwa jemand entgegenkommen? Er entschloss sich, dem Licht entgegenzugehen.
Je näher er der Lichtquelle kam, umso mehr Lichter waren plötzlich zu sehen. Er forcierte jetzt verzweifelt seine Schritte, um die Lichter zu erreichen. Immer schneller fing er an zu gehen, doch die Helligkeiten schienen unerreichbar. Zum Teufel aber auch, dachte sich der Schorsch, was geht da vor sich. Als er nur noch wenige Meter vom höchsten Punkt des Galgenbergs entfernt war, blieb er abermals wie vom Donner gerührt stehen.
Da waren sie wieder, diese seltsamen Geräusche! Die Lichter waren aber plötzlich nicht mehr zu sehen. Nur das Wimmern und Stöhnen, als ob jemand starke Schmerzen hätte, waren zu hören. Mit seinen Nerven endgültig am Ende, rannte der Hafner-Schorsch, so schnell es eben ging, zum Kreuz hoch. Er legte alles Geld, was er bei sich hatte, unterm Kreuz nieder, drehte um und lief, als ob der Leibhaftige persönlich hinter ihm her wäre, den Weg in Richtung Vohenstrauß davon. Hinter ihm hörte er gellendes Gelächter und dazwischen das Klagen und Gestöhne, dass ihm ebenfalls lauter erschien, als noch zuvor. Außer Atem und nach Luft ringend, erreichte er den Wald, wo die Abkürzung nach Vohenstrauß führte. Immer noch nach Atem ringend, lehnte er sich an einen Baum. Er hatte keine Kraft mehr. Das Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben und der Körper zitterte wie Espenlaub. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er in Richtung Galgenbergs. Deutlich waren wieder die Lichter zu erkennen, die sich über die ganze Wiese verbreitet hatten. Noch schlimmer aber war, was er plötzlich zu sehen glaubte. Er war nun nicht mehr Herr seiner Sinne, das Blut schien in den Adern zu gefrieren. Mitten unter den Lichtern, die jetzt die Wiese und den Weg zum Galgenberg in unendlicher Zahl übersäten, stand eine riesige Gestalt, die von einem gleißenden Lichterglanz umgeben war. Drohend richtete das Gebilde einen seiner Arme genau in die Richtung, wo sich der Hafner-Schorsch befand. Als sich diese aber auch noch zu nähern schien, war es mit dem Schorsch endgültig aus.
Er warf sich zu Boden und fing an zu beten, wenn man das wirre Zeug, was er von sich gab, überhaupt als Gebet bezeichnen konnte. Die Augen weit aus den Höhlen getreten und Speichel vorm Mund, gab der sonst so gerissene, geizige Hafner-Schorsch ein jämmerliches Bild ab. Vor Todesangst den Kopf in den Waldboden gedrückt, glaubte er, sein letztes Stündlein habe geschlagen. Wie lange er so am Boden kniete, wusste er nicht. Es musste lange gedauert haben, eh er es wagte, auch nur den Kopf zu heben. Erst als die Kirchturmuhr der Stadtkirche und unmittelbar darauf die der Kreuzbergkirche ein Uhr schlug, hob er vorsichtig seinen Kopf. Ängstlich und zaghaft glitt sein Blick hinüber zum Galgenberg. Nichts – aber auch gar nichts war da zu sehen! Alles schien ruhig und friedlich zu sein. Froh, noch einmal so glimpflich davongekommen zu sein, richtete er sich auf, um seinen Weg nach Vohenstrauß fort zu setzten.
Immer noch konnte er keinen klaren Gedanken fassen – was war da geschehen? Erst als die ersten Häuser von Vohenstrauß vor ihm auftauchten, ging es ihm wieder besser. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass seine ganzen Ersparnisse, die er in dieses fragwürdige Geschäft gesteckt hatte, beim Teufel waren. Nur wer den Schorsch und seinen sprichwörtlichen Geiz kannte, konnte nachvollziehen, in was für einem Gemütszustand er sich befand. All seine Gebete und Beteuerungen waren mittlerweile schon wieder Makulatur. Der Geiz war bereits wieder größer als seine Angst. Wie konnte er nur so blöd sein und mehr als 1800 Mark einfach auf dem Galgenberg zu hinterlegen, weil es diese halb verhungerte Gestalt so verlangt hatte? Doch um kein Geld der Welt wäre er bereit gewesen, wieder zum Kreuz zu marschieren, schon gar nicht bei Dunkelheit. Mit dem Tageslicht jedoch kehrte auch sein Mut wieder. Mit den ersten Sonnenstrahlen war er wieder beim Kreuz. Er blickte auf die Stelle, wo das Geld liegen musste – alles weg! Ihn schauderte bis unter die Haarspitzen, als er das eklige Gelächter des Fremden wieder hörte. Aus allen Richtungen drang es unheimlich hervor. Da nahm er endgültig die Beine unter den Arm und schwor sich, nie wieder an diesen Ort des Grauens zurückzukehren.
Bereits einige Tage später war er freilich wieder ganz der Alte. Er heckte schon wieder Pläne aus, um andere Leute zu betrügen – nur hatte das ganze einen Haken: Sein ganzes „Betriebskapital“ war verloren. Natürlich hütete sich der Hafner-Schorsch, auch nur ein Sterbenswörtchen von seinem Erlebnis zu erzählen. Eine Woche später hatte er jemanden in Vohenstrauß aufgetrieben, der seinen Bauerschrank aus Georgenberg abholen sollte. Er wollte den Schrank gleich nach Weiden bringen lassen, um ihn gewinnbringend zu veräußern und mit seinem Kumpan den Erlös zu teilen. Als sie mit dem alten Lieferwagen bei dem Bauern in Georgenberg ankamen, erlebte der Schorsch eine Überraschung. Der Bauer versicherte ihm, dass schon vor drei Tagen der Schrank in seinem Auftrag abgeholt wurde.
„Ich habe niemand beauftragt, den Schrank bei dir abzuholen!“, schrie ihn der Schorsch an, „Wie kannst du es wagen, mein ehrlich erworbenes Gut einfach fremden Leuten anzuvertrauen!“ Der Bauer ging ins Haus und kam mit einem Zettel in der Hand zurück. „Hier, diesen Wisch hast du selber unterschrieben. Damit geht mich die Sache nichts mehr an. Und jetzt verschwinde von meinem Hof.“ Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, nahm er einen riesigen Hund von der Kette. Dem Hafner-Schorsch und seinem Begleiter blieb nichts anderes übrig als zu gehen.
„Eines möchte ich noch wissen, bevor ich gehe“, fragte der Schorsch. „Wie hat der Mann ausgesehen, der meinen Schrank abgeholt hat?“ „Es war schon ein eigenartiger Bursche. Spindeldürr. Besonders unangenehm an ihm war sein ekelhaft blechernes Lachen, als er sich von mir verabschiedete. – Ach ja: Er sagte, du kannst ihn jederzeit auf dem Galgenberg treffen, wenn du Lust dazu hast. Ein Spinner, wenn du mich fragst!“ Ohne ein weiteres Wort ging der Bauer ins Haus. Jetzt wusste der Schorsch wohl endgültig, wer ihn übers Ohr gehauen hatte. Gerne hätte er natürlich gewusst, wo der Bursche wohl herkam. Trotz intensiver Nachforschung seitens des Hafner-Schorsch wurde der Mann niemals mehr gesehen. Eines jedoch war für den Schorsch sicher: Nie und nimmer würde er in Zukunft die Abkürzung von Pleystein nach Vohenstrauß über den Galgenberg nehmen!