Betrogen und vergessen

Die Geschichte des Kriegskindes Reinhard Bachner

Von Richard Bachmann

Meine Damen und Herren: Schon der Titel zu dieser Geschichte ist eine ganz eigene Geschichte. Als Richard Bachmann anfing, „Betrogen und vergessen“ zu schreiben, sagte er mir, er wolle sein Leben erzählen. Also gut, dachte ich, eine Autobiografie. Mal sehen, was er produziert. Bald legte er mir die ersten Kapitel vor – und ich war einigermaßen verblüfft: Die Geschichte des Kriegskindes Reinhard Bachner? Warum nicht „Richard Bachmann“? Meine Verwunderung wuchs, als ich sah, dass die Geschichte auch nicht in der Ich-Form erzählt wurde. Richard Bachmann hat die „Er-Form“ gewählt. Da schildert also jemand sein Leben und schreibt nicht „Ich habe das erlebt“, sondern „Er – Reinhard Bachner - hat das erlebt.“ Das ist doch merkwürdig.
Auf die Frage nun, warum sich Richard Bachmann für diese Er-Form entschieden habe, antwortete er: „Es wäre ein anderes Buch geworden, hätte ich in der Ich-Form geschrieben. Ich wollte den Menschen nicht so viel über mein persönliches Empfinden sagen, sondern einfach die Sache selbst darstellen: Die Zeit, in der ich gelebt habe, und die Wirkung dieser Zeit auf uns Kinder, die Entwicklung des Kindes zum Jugendlichen und der Start in das Berufsleben – all das sollte beispielhaft und typisch für eine ganze Generation sein. Mein so genanntes „Ich“ war mir dabei nicht so absolut wichtig. Hätte ich in der Ich-Form geschrieben, wäre es hauptsächlich um meine innerlichen Zustände gegangen. Ich wollte aber die Zeit dokumentieren, weniger mich selbst.“
Ich war’s zufrieden. Richard Bachmann hatte nicht die Absicht, einfach sein autobiografisches „Ich“ darzustellen, weil er ein Zeitporträt schreiben wollte. Weil er einen sachlich-objektiven Stil suchte. – Und die Entscheidung, das eigene Leben unter einem anderen Namen zu erzählen, ist ein kühnes literarisches Experiment. Richard Bachmann ist Reinhard Bachner und er ist es auch wieder nicht. Richard Bachmann ist zugleich auch der Erzähler jenes Ich, das er einmal war. Und als gereifter, aus dem Abstand der Jahre berichtender Erzähler ist er mit dem jungen Reinhard nicht einfach identisch. Richard Bachmann ist zugleich auch derjenige, der zurückblickt, kommentiert, zusammenfasst. Vor allem ist er derjenige, der die Zeit darstellen will, in der dieser Junge, der er früher einmal war, gelebt hat. Deshalb sucht er und findet er einen Weg literarischer Verarbeitung, indem er Reinhard Bachner erfindet und sich selbst dabei zu einem „Er“ macht. Solche Bewusstseinsspaltungen sind in der Literatur durchaus üblich. Was uns im bürgerlichen Alltagsleben auf die Polizeiwache bringt – nämlich seine Identität zu wechseln und sich einen anderen Namen zu geben – das ist im schöpferischen Akt literarischen Schreibens gerade eine Grundvoraussetzung. Die Figuren eines Autors sind am Ende immer Masken seines Ichs, Verkleidungen oder Einkleidungen eines realen Erlebens. Das kann in der Literatur sogar die Grenzen der Geschlechter überschreiten: Die berühmtesten Frauenfiguren zum Beispiel wurden von Männern geschrieben: Denken Sie an Theodor Fontanes Effi Briest oder Gustave Flauberts Madame Bovary. – Also: In der Literatur ist der Identitätswechsel normal, ansonsten aber nicht zur Nachahmung empfohlen. Denn ich möchte wie gesagt nicht, dass Sie auf der Polizeistation landen. Und ob ein Schriftsteller die Ich-Form oder die Er-Form wählt, hängt letztlich davon ab, ob er als ein persönlich betroffenes „Ich“ in der Geschichte anwesend sein oder lieber als ein außerhalb stehender Beobachter schreiben will. Für sein erzählerisches Vorhaben hat Richard Bachmann schlicht die angemessene Form gewählt.
Meine Damen und Herren, dies ist die vielleicht komplizierteste Einleitung, die ich bisher zu einem Text gegeben habe: Wir sind ja noch gar nicht über den Titel hinausgekommen. Und warum? Ein intuitiv richtiger Geniestreich des Autors stellt den armen Kritiker vor die Aufgabe, hinterher erst einmal zu erklären, was da geschehen ist, das heißt: Die Begriffe wieder zu ordnen und aufzuräumen. Und die Erklärung des Titels war notwendig, weil heute Abend viele Menschen hier sind, die in der Biografie des Richard Bachmann bzw. Reinhard Bachner eine persönliche Rolle spielen. Ihnen war ich diese Aufklärung schuldig. Und so kommt es, dass wir über das Wichtigste – das Buch - noch kein Wort verloren haben und ich befürchten muss, Ihre Geduld über Gebühr zu strapazieren. Deshalb komme ich schnell zur entscheidenden Frage: Konnte Richard Bachmann mit seiner aus sachlichem Abstand geschriebenen Er-Biografie tatsächlich ein lebensechtes Zeitporträt gestalten? – Ich meine ja. Die Geschichte des Kriegskindes Reinhard Bachner steht stellvertretend für eine Generation. Humorlos und schnell mussten diese Kriegskinder zu Erwachsenen werden. Und sie wurden in ihrer persönlichen Entwicklung genau dort geschädigt, wo es am meisten wehtut: In den ersten entscheidenden Lebenserfahrungen. Eine barbarische Diktatur, strenge Erziehung und materielles Elend – aus diesem Beton wurde das Fundament ihrer seelischen Identität gegossen. Die Kriegskinder hatten zweifellos sehr schlechte Karten gezogen. Und das nicht nur einmal. Denn nach dem Krieg waren sie, erneut durch gebieterische Notwendigkeit, zum mühsamen Wiederaufbau gezwungen. Sie opferten dem jetzt erblühenden Wirtschaftswunder ihre beruflichen Träume und Bildungsmöglichkeiten. Es galt zu arbeiten, nicht zu lernen. Und als die nachfolgende 68er-Jugend endlich für ein selbstbestimmtes Leben die Bahn brach, gehörten die Kriegskinder bereits zur konservativen Elterngeneration. Sie standen dieser neuen Freiheit zwangsläufig sehr nüchtern und distanziert gegenüber. Sie blickten auf zähes Arbeiten seit frühester Kindheit zurück. Und die Tugenden, auf die sie sich stützten, hatten schließlich ihr Überleben gewährleistet. Sie anzutasten schien ihnen überdreht und gefährlich. Damit gerieten sie in eine sehr undankbare Rolle: Sie waren zwar die emsigen Arbeitsbienen, die den Luxus der Selbstverwirklichung wirtschaftlich ermöglicht hatten. Doch sie selbst konnten innerlich nicht mehr daran teilhaben. Die Kriegskinder galten nur als eine Art fleißiger und unaufgeregter Übergang zur späteren Wohlstandsgesellschaft. Aller Ehren wert, aber reichlich bieder. Sie eigneten sich nicht einmal für die politische Kritik, denn die Kriegskinder trugen nun wirklich keine persönliche Verantwortung für die Gräueltaten der Nazis. Und so landete schließlich eine ganze Generation im Niemandsland der Geschichtsschreibung.
Geschichte allerdings ist ein vielschichtiges, niemals ganz auszulotendes Problem. Die Kriegskinder zogen gelegentlich auch gute Karten. In den 60er und 70er Jahren waren sie in ihrem mittleren Alter. Sie konnten die Früchte des Wiederaufbaus mehr oder weniger genießen. Und heute, nach der Jahrtausendwende, sieht es ganz so aus, als ob wenigstens diese Generation noch mit einer halbwegs zureichenden und relativ sicheren Rente rechnen kann. Ein schwacher materieller Trost immerhin für die Kindheit und Jugend, um die sie betrogen wurde. Und wenn auch die 50er Jahre sehr mager waren – die Kriegskinder hatten dank ihrer gemeinsamen Erfahrungen und Werte menschlichen Zusammenhalt entwickelt. Sie hatten weniger Geld, aber mehr Empfänglichkeit für einfache Glücksmomente. Sie waren, ab den 60er Jahren, die Generation mit den ersten Partykellern und Mallorcareisen, die Generation der stolzen Autobesitzer und der sicheren Arbeitsplätze. Eben weil die Kinder des Krieges ihre traumatische Vergangenheit nicht vergessen konnten, wussten sie die sorglose Gegenwart mehr zu schätzen als die ruhelos umherirrenden 68er und deren Nachfolger.
Angesichts der heutigen Spaßmenschen, der wirtschaftlichen Kälte und der krisenhaften Veränderung unserer Wohlstandsgesellschaft könnte die Erfahrung dieser Generation wieder sehr wertvoll werden. Von ihr kann man lernen, was Standhaftigkeit und Selbstdisziplin zu leisten imstande sind; wie unverwüstlich ein Glauben an Werte macht; und wie zäh und erfindungsreich der Mensch ist, selbst wenn er täglich Gefahr läuft, alles zu verlieren. Ohne diese Fähigkeiten hätten die Kriegskinder weder den Krieg überlebt noch ein Wirtschaftswunder geschaffen. Und kein Mensch wird jemals eine ernsthafte Krise ohne Härte gegen sich selbst meistern können – und auch nicht ohne Glauben an eine mögliche und bessere Zukunft. Die Generationen nach den Kriegskindern flüchten sich allzu schnell in jämmerlichen Pessimismus und betrachten Lebenshärten als prinzipiell unzumutbar. Solidarität und intensives Zusammenleben, meist aus der Not geboren, sind als Lebensgefühl kaum noch präsent. Die Generation der Kriegskinder kann uns also durchaus eine Lektion in überlebenswichtigen Fähigkeiten erteilen, die sich unter weit schlimmeren Bedingungen als heute bewährt haben.
Zu diesem handfesten Zweck wurde Betrogen und vergessen geschrieben. Und das Buch schließt gleichzeitig eine Lücke in unserer Geschichtsschreibung: Richard Bachmann hat dem noch wenig durchleuchteten Alltag der Kriegskinder und ihrem Werdegang ein Denkmal gesetzt. Er liefert genau das, was bislang gefehlt hat: die lebendige Fülle der anschaulichen Details. Damit kann ein Buch wie dieses verhindern, dass die betrogene Generation nicht auch noch zur vergessenen Generation wird. Die Lebensgeschichte des Kriegskindes Reinhard Bachner zeigt uns in größtmöglicher Nahaufnahme eine Welt, die uns abhanden zu kommen droht. Denn worüber nicht geredet wird, das existiert nicht. Das ist die Logik unserer Mediengesellschaft. Genau deshalb wirkt dieses Buch wie ein magischer Schlüssel, der uns den Blick auf eine verschollene Zeit öffnet. Die geschichtlichen Mächte können uns beherrschen. Das Gedächtnis aber liegt in unserer eigenen Hand. Das scheint mir die unausgesprochene Botschaft dieses Buches. - Lassen wir also endlich den Autor und sein Buch zu Wort kommen!

Günter Bachmann

Richard Bachmann:

Natürlich ist es bei einem Buch von diesem Umfang, wo ich einen gesamten Lebenslauf darstelle, besonders schwierig, eine Auswahl für eine Vorlesung zu treffen. Ich habe mich auf Reinhards Kindheit beschränkt, die Zeit von 1938 bis zum Kriegsende und der anschließenden Vertreibung aus der Heimat. Die Familienchronik der Bachners, zu der dieses junge Leben untrennbar gehört, musste ich weitgehend ausblenden. Ebenso die Nachkriegszeit, den Wiederaufbau Deutschlands und die weiteren turbulenten Geschehnisse in der Biografie des Reinhard Bachner. Mir kommt es bei dieser Lesung auf die Perspektive des Kindes an, die ich deutlich zeigen möchte. Und dabei ist etwas Merkwürdiges geschehen: Als ich die Auszüge las, fiel mir auf, dass die Zuhörer leicht den Eindruck bekommen könnten, als sei das Buch nur ein weiterer Kommentar zum Problem der Vertreibung der Sudetendeutschen. Das ist eine Wirkung, die aus der notwendigen Kürzung der Erzählmasse hervorgeht. Da ich die Erlebnisse des Kindes mit einem Zeitporträt verknüpft habe, lässt sich der Tatbestand der Vertreibung eben nicht einfach übergehen. Das Buch ist thematisch viel weiter gefasst. Und falls ich Ihre Geduld nicht überstrapaziere, bleibt vielleicht am Ende der Lesung noch Zeit für eine allgemeine Schlussbemerkung. - Wenn Sie, meine Damen und Herren, neugierig auf die ganze Geschichte des Reinhard Bachner sein sollten, dann bleibt nur der Ausweg, das Buch zu kaufen und zu lesen. Wogegen ich natürlich keine Einwände habe.

Die Familie Bachner

Um dem Leser einen Überblick zu verschaffen, stelle ich die Familie Bachner wie folgt vor: Vater Kurt Bachner, geb. 1900, und Mutter Rosi Bachner, Jahrgang 1902, hatten im Jahr 35 fünf Kinder: 4 Söhne (Josef, geb. 1921, Karl, geb. 1923, Willi, geb. 1925, Reinhard, geb. 1935) sowie eine Tochter (Lisa, geb.1927).
Die Bewandtnisse dieser Familie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Geschichte. Erzählt wird aus der Perspektive Reinhards, des jüngsten Kindes. – Seine Lebensgeschichte beginnt natürlich mit seiner Herkunft.
Hüttersdorf, ein Ort mit zirka 2000 Einwohnern, liegt im Böhmerwald, nahe an der bayerischen Grenze zur Oberpfalz. Der Ort selber lebt in der Hauptsache von der Land- und Forstwirtschaft sowie einigen Handwerksbetrieben.
Kurt Bachner, der Vater von Reinhard, war Waldfacharbeiter. Er arbeitete bis 1938 in einem Staatsforst. Standesgemäß gehörte er der Sozialdemokratischen Partei an. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten sollte sich das Leben des Kurt Bachner radikal ändern.
Bachner verlor seine Arbeit, weil er Hitler und seiner Politik ablehnend gegenüberstand, ja sogar offen dagegen war. Schon damals ahnte er, was da auf Deutschland zukam. In Hüttersdorf war zu jener Zeit kaum jemand, von dem Kurt Bachner Unterstützung erwarten konnte. Die meisten im Ort waren begeisterte Anhänger der Nazis. Die wenigen, auf die er sich hätte verlassen können, waren oft selbst in Schwierigkeiten.

Im Frühjahr 1938 machte sich Bachner mit seiner Familie und anderen Gleichgesinnten auf, um ins Innere der Tschechoslowakei zu flüchten. Er fürchtete um Leib und Leben für sich und seine Familie. Dort wollte er abwarten, bis der Spuk im Sudetenland vorbei wäre. In der mittelgroßen Stadt Klattau hat die Familie Unterkunft gefunden. Da auch Verwandte dabei waren, war es am Anfang noch erträglich. Aber die Sorge um die Daheimgebliebenen (u.a. Kurts Eltern) war groß. Die Wohnung und alles Liebgewonnene musste fluchtartig verlassen werden. Sie hatten nur das Nötigste dabei. Die Kinder konnten die Schule besuchen, was für sie nicht einfach war (es war ja eine tschechische Schule).
Reinhard konnte mit seinen 3 Jahren nicht begreifen, warum er nicht zu Hause sein durfte, um mit den anderen Kindern zu spielen. Er hatte oft Angst in dem großen Hotelsaal, in dem alle wohnen und schlafen mussten. Eines Nachts gab es ein großes Unwetter, Blitz und Donner wollten gar nicht aufhören. Er kroch unter die Schlafdecke und zitterte vor Angst. Er schrie auch sehr laut, aber keiner hörte ihn. Da stand er auf. Um zur Mutter zu gelangen, musste er im Dunkeln suchen. Das Donnern und Blitzen versetzte ihn in Panik. Er wusste nicht mehr, was er machen sollte und schrie wie am Spieß. Plötzlich nahm ihn jemand in den Arm, hielt ihm den Mund zu, und zog ihn unter die Decke. Reinhard war steif vor Schrecken. Wer war das? Plötzlich hörte er die Stimme seiner Mutter. Er musste vor Freude weinen und war glücklich wie noch nie in seinem erst so kurzen Leben. Dieses scheinbar unbedeutende Erlebnis sollte ihm unvergesslich bleiben.

Zurück nach Hüttersdorf

Kurt Bachner kam am Abend mit den anderen Männern zusammen, um heftige Diskussionen zu führen. War es am Anfang nur ein Gerücht, so schien es sich zu bewahrheiten, dass Adolf Hitler die ganze Tschechoslowakei besetzen wolle.
Eines Nachts gab es einen donnernden Lärm in Klattaus Straßen. Das schon lange Befürchtete war geschehen: Hitler ließ seine Truppen in die Tschechoslowakei einmarschieren. Die ganze Nacht und den Tag darauf rollten Panzer und Militärfahrzeuge durch Klattau.
Hitler, das wusste jeder, gab sich nicht mit halben Sachen ab. Die Familien, die ins Innere der Tschechei geflohen waren, mussten zurück nach Hüttersdof. Familie Bachner machte sich mit den anderen auf den Weg und die Stimmung war alles andere als gut. Zu Hause angekommen, gingen viele Hüttersdorfer allen Familien aus dem Weg, die Hitler und seine Anhänger nicht mit offenen Armen empfangen hatten. Nicht selten wurden sie auch in aller Öffentlichkeit verachtet. Es dauerte nicht lange und für die Familie Bachner kam es genau so, wie es zwar befürchtet, aber immer verdrängt wurde (nach dem Motto: „Der Nazispuk ist bald vorbei.“): Im Frühsommer 1939 wurde Kurt Bachner, der Vater des kleinen Reinhard, verhaftet.

Eine schreckliche Nachricht

Nur wenige Tage vor Weihnachten 1939 erfuhr die Familie Bachner, dass der Vater ins Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg/Berlin überstellt wurde.
Rosi Bachner, die Mutter, war nun mit den fünf Kindern allein. Es sollten nicht die letzten Weihnachten sein, die sie alleine verbringen mussten.

Normale Tage

Später, nach dem Krieg, habe ich mich oft mit Reinhard Bachner über seine Kinder- u. Jugendjahre unterhalten. Es waren Gespräche, die manchmal schon meine Seele strapazierten, sodass ich manche Nacht nicht in den Schlaf kam. Reinhard hatte nicht viel mitbekommen, was in der Familie seit 1938 alles geschehen war. Aber manches war ihm doch klar in Erinnerung geblieben. Die Zeit bis 1940, obwohl der Krieg schon deutliche Spuren zeigte, war für Reinhard relativ gut. Er spielte mit den anderen Kindern, raufte und balgte sich mit Buben und Mädchen. Manchmal wurde er aber gefragt: „Hast du keinen Vater? Wo ist dein Vater?“ Reinhards Antwort war meistens: “Mein Vater ist nicht zu Hause, aber er kommt bald!“ Rosi Bachner, Reinhards Mutter, hatte ihm erklärt, dass der Vater eingesperrt ist und bald zurückkehrt, weil er unschuldig ist. Wenn er aber weinend nach Hause kam und sagte: „Die haben gesagt, mein Papa ist ein Verbrecher und kommt nie mehr nach Hause!“, nahm sie ihn in den Arm, drückte ihn fest an sich und sagte: „Das ist doch alles nicht wahr, mein Bub, er kommt, ich weiß es ganz genau, er ist ja unschuldig!“ In solchen Stunden war Rosi Bachner die unglücklichste Mutter der Welt. Aber es kamen auch „normale Tage“, wie Rosi Bachner zu sagen pflegte.
Reinhard Bachner hatte heute seinen großen Tag. Schulanfang für den Jahrgang 1935 war in Hüttersdorf angesagt. Die Erwartungen waren riesig. Reinhard bekam einen Schulranzen, eine Federbüchse (Schreibmappe) und eine Schiefertafel mit Schwamm und Griffel zum Schreiben. Die Sachen waren von schlechter Qualität (der Ranzen zum Beispiel bestand aus Pappe). Die Freude war trotzdem groß: Gab es doch einen „Kriegskuchen“! Dieses Wunder wurde aus etwas Mehl, Kaffeesatz, Zichorie und Kunsthonig gebacken. Es war eben wieder ein normaler Tag! Und Glück ist etwas sehr Relatives.
Am ersten Schultag fing es für Reinhard allerdings nicht gut an. Alle bekamen eine Fibel (Lesebuch). Nur Reinhard Bachner nicht. Die Lehrerin meinte, er solle beim „Nebensitzer“ hineinschauen, bis irgendwann einmal eine Fibel übrig ist. Schon bei der Einschulung hatte der Junge so viele Traumata hinter sich, dass er heute wohl eine ganze Heerschar von Pädagogen und Psychologen beschäftigen würde.
Auch der Nachhauseweg am ersten Schultag war wegen der Hänselei besonders schlimm. Viele der Mitschüler lachten und beschimpften ihn: „Du bekommst keine Fibel, solche Menschen wie du, die gehören gar nicht in unsere Schule, geh doch zu deinem Vater und lasse dir eine kaufen.“ Reinhard wollte seiner Mutter nicht sagen, was beim Nachhauseweg passiert war. Rosi Bachner merkte aber, dass ihren Sohn etwas bedrückte. Reinhard schüttete der Mutter sein Herz aus und suchte, wie so oft, Trost in ihren Armen.
Hüttersdorf war um 1905 schon zur Marktgemeinde erhoben worden, und manches im Ort konnte sich sehen lassen. Da war zum Beispiel die Kirche, mit wunderschöner Malerei von bekannten Künstlern. Außerdem ein großer romantischer Teich, (der „Weiher“ genannt). Hier war ein Tummelplatz für Alt und Jung. Nicht zu vergessen ist auch das riesige Waldgebiet, der „Böhmerwald“ und der „Deutsche Wald“, so nannten alle im Ort den Wald auf der bayerischen Seite. Es ließ sich schon gut leben in Hüttersdorf, jedenfalls „an den normalen Tagen.“

Schlechte Tage

Die Zeiten waren jetzt, im dritten Kriegsjahr, sehr hart. Butter, Zucker, Mehl und vieles andere mehr gab es nur auf Lebensmittelkarten. Die Rationen waren zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Rosi Bachner, die Mutter Reinhards, musste jeden Tag, außer Sonntag, zum „Essentragen“ gehen. Da hieß es also, Tag für Tag, um fünf Uhr aufstehen und der Schwiegermutter in der kleinen Landwirtschaft helfen (melken, Tiere füttern). Anschließend musste sie den Sohn Reinhard für die Schule fertig machen, einkaufen und kochen. Nach dem Mittagessen wurde der „Buckelkorb“ geschultert, der das Essen für Reinhards Geschwister Willi und Lisa enthielt. Sechs Kilometer musste sie laufen, bis sie an die Stelle kam, wo sie das Essen unter einer Baumwurzel hinterlegte.
Auf dem Rückweg wurde der Buckelkorb mit Brennholz gefüllt und lange Äste quer gelegt. Dann ging es schwer beladen die sechs Kilometer zurück. Zu Hause angekommen, wurde der Haushalt gemacht. Wenn diese Arbeiten erledigt waren, mussten die Näharbeiten in Angriff genommen werden. (Rosi Bachner machte Heimarbeit für eine Nähfirma.) „Weißnähen“ nannte man diese Tätigkeit. Der Tag war noch lange nicht rum. Abendbrot richten, Fragen vom Sohn Reinhard wegen der Hausaufgaben beantworten, usw.

Wenn am Abend alle im Bett waren, machte sich Rosi Bachner nochmals an die Weißnäharbeiten. Kam dann noch die Schwiegermutter ins Zimmer und schimpfte, weil sie das elektrische Licht anhatte, musste es gelöscht werden. Die Teile der Näharbeiten, die zu einem genauen Termin fertig sein mussten, nähte sie dann bei „geöffneter Ofentür“ am Küchenherd fertig. Das Feuer im Herd spendete ihr das nötige Licht. Weit nach Mitternacht fiel Rosi Bachner todmüde in ihr Bett. Die Familie lebte bei Kurt Bachners Eltern mit im Haus zur Miete. Und das war nicht immer eine gute Situation. Die Mietwohnung war nicht groß, zwei Zimmer mussten für die Familie reichen.

Weihnachtszeit 1942

Erster Advent. In Hüttersdorf wurde es kalt. Die Menschen mussten sich wieder auf eine Kriegsweihnacht einrichten.
Bei Familie Bachner wollte keine Adventstimmung aufkommen. Der Vater noch im Konzentrationslager, die Söhne Josef und Karl in Norwegen und Russland an der Front. Seit Kriegsbeginn waren sie nur zweimal auf Kurzurlaub daheim gewesen. Jetzt war die Familie sehr unruhig, weil schon lange keine Feldpost mehr kam. Das Warten auf den Briefträger war so eine Sache.
Der Postbote hatte in jener Zeit eine besondere Bedeutung für die Leute. Die Frage war: Hat er einen Brief mit der Nachricht, dass Sohn, Vater oder Ehemann noch am Leben sind – oder eine andere Botschaft?
Man konnte genau erkennen, was es für eine Postsendung war. Machte der Empfänger ein freudiges Gesicht, war es eine gute Nachricht. Wenn plötzlich Schreie zu hören waren und weinende Frauen auf die Straße liefen, war es eine Todesnachricht.
Diese Schreckensmeldungen gab es jeden Tag in irgendeiner Familie.
Endlich war Heiligabend, Reinhard konnte es kaum noch erwarten, bis das Christkind kam.
Er stand neben seiner Mutter und schaute sie ganz vorwurfsvoll an: „Wann kommt denn nun das Christkind?“ Ein bisschen Wut konnte man schon aus seiner Stimme heraushören.

Aber die Mutter beruhigte ihn und sprach: „Du gehst jetzt mit Lisa spazieren und wenn ihr zurück seid, war das Christkind bestimmt da.“
Lisa und Reinhard, das war schon ein Gespann. Die acht Jahre ältere Schwester hatte ja ständig die Aufgabe, auf Reinhard aufzupassen. Manchmal machte sie das gerne, aber wenn es ihr nicht in den Gram passte, konnte sie unangenehm, um nicht zu sagen böse werden.
Sie nahm Reinhard an die Hand und los ging es, die Straße entlang, Richtung Wald und das mit voller Absicht. Reinhard meinte: „Gehen wir doch ins Dorf!“ Lisa sagte „Nein!“ Und wenn Lisa Nein sagte, dann war das so sicher wie das Amen in der Kirche.
Reinhard schwieg erst einmal, um seine Schwester nicht noch mehr zu verärgern.
Auch Lisa sprach eine Weile nichts. Dann sagte sie plötzlich: „Am Heiligabend ist es im Wald nicht ganz ungefährlich, vor allem für Kinder, die nicht immer brav sind.“
Reinhard erschrak, wurde ganz bleich. Niemand ist „immer brav“. Er spekulierte, wann er das letzte Mal nicht brav war, doch ihm fiel nichts Genaues ein. Beim besten Willen nicht.
Doch seine Schwester fuhr fort: „Der Krampus, (so nannte man in Hüttersdorf den Knecht Ruprecht), holt die Kinder, die nicht brav sind und den großen Schwestern nicht folgen.“
Reinhard schnürte es die Kehle zu, er glaubte zu ersticken.
In Gedanken bereute er schon seinen Wunsch, der Heiligabend solle so schnell wie möglich kommen. Er nahm die Hand von Lisa noch fester und war froh, dass sie sagte: „Wir kehren um.“ Eines wollte der Bruder jetzt doch noch wissen: „Wenn der Krampus alle Kinder holt, die nicht brav sind, wo bringt er sie dann hin?“
„Halt deinen Mund“, schimpfte Lisa, ihre Stimme ließ nichts Gutes ahnen. „Sonst bekommst du gar nichts vom Christkind, du Besserwisser, ich will jetzt meine Ruhe haben!“
Zu Hause angekommen, zischte Lisa: „Halt, wir müssen ganz leise sein, wenn das Christkind noch im Hause ist, können wir nicht hinein.“ Reinhard war starr vor Schreck und hauchte nur: „Warum?“ - „Keiner darf es sehen. Zu denen, die es sehen, kommt es nie wieder.“
Vorsichtig klopfte Lisa an die Haustür. Von innen war Mutters Stimme zu hören: „Ihr könnt kommen, das Christkind ist schon weg.“
Mutter öffnete die Tür zur Stube und auf dem Küchentisch stand der Christbaum.
Reinhard schaute eine ganze Weile auf den Baum. Nur langsam ging er auf seine Mama zu, und kuschelte sich an sie. Sie drückte ihn fest an sich und nur mühsam konnte sie ihre Tränen zurückhalten.
„Schau Reinhard, was dir das Christkindl gebracht hat.“
Ein kleiner Holzwagen, mit zwei Pferdchen und „Zuckerstückchen“, so nannte man das Weihnachtsgebäck. Sogar mit weißem Mehl gebacken.
Lisa bekam eine bunte Schürze und „Zuckerstücke“.
Willi, Reinhards Bruder, bekam selbstgestrickte Handschuhe. Die konnte er brauchen. Er musste am 2.1. 1943 zum Arbeitsdienst (RAD).
Mutter hatte kein Geschenk unter dem Baum. Wer sollte ihr was schenken? In dieser Zeit war es nicht üblich, sich gegenseitig zu beschenken. Höchstens bei den wenigen Reichen.
Zum Heiligabend-Essen gab es selbstgebackenes Brot mit frisch gerührter Butter, das die Großeltern für Weihnachten gebracht hatten.
In der Schule gab es jetzt nicht mehr viel zu lernen.
Reinhards Lehrer hatte alle Hände voll zu tun, den Schülern an einer riesigen Landkarte zu zeigen, wo die „Deutsche Wehrmacht“ überall erfolgreich kämpfte.
Geradezu fanatisch steckte er rote, schwarze oder weiße Fähnchen auf die Karte. Er wollte damit seinen Schülern zeigen: “Hier stehen unsere Soldaten!“, und seine Stimme überschlug sich fast, wenn er verkündete: „Der Sieg ist nur noch eine Frage der Zeit, denn keine Armee der Welt kann uns aufhalten!“
Hatte er sich wieder beruhigt, dann gab er „Erzählungen“ von seiner Soldatenzeit aus dem Ersten Weltkrieg zum Besten.
Alle Schüler waren natürlich froh, mussten sie doch nicht lernen oder Klassenarbeiten schreiben. Da er aber in den letzten Monaten jeden Tag aus seiner „Soldatenzeit“ zu erzählen pflegte, waren seine Geschichten immer die gleichen. Wahrscheinlich glaubte der Herr Lehrer am Ende auch noch selbst daran.
Wenn Lisa einen freien Tag hatte, musste sie mit Reinhard im Wald nach Brennholz suchen, was gar nicht so einfach war. Zur damaligen Zeit sah der Wald wie leergefegt aus. Denn jeder Ast oder Tannenzapfen wurde eifrig gesammelt und zu Hause verfeuert. Die beiden waren froh über jede Kleinigkeit, die noch verwendbar war.
Großvater hatte ein großes Grundstück, das fast nur aus reiner Grasfläche bestand. Es diente ausschließlich dazu, im Winter genug Heu für seine Tiere zu liefern. Es war aber auch ein Tummelplatz für Reinhard und einige seiner Spielkameraden. Immer wenn die riesige Wiese abgemäht war, durfte sie für kurze Zeit als Spielplatz genutzt werden. Wegen dem so genannten zweiten Heu war dies aber nur von geringer Dauer. Spielzeug gab es ja kaum, darum wurde alles, was irgendwie zum Zeitvertreib taugte, gerne verwendet. Vor dieser Wiese waren nun große Holzstöße aufgeschichtet, die von den Buben und Mädchen als „Lastauto“ genutzt wurden. Sie setzten sich ganz oben auf die langen Holzstücke und mit dem Mund wurden die Motorgeräusche nachgeahmt. Heute mag man über derartige Spiele lächeln oder sich lustig machen; den phantasievollen Kindern von damals hatte es aber trotzdem Spaß gemacht.
Leider wurden zu dieser Zeit auch noch ganz andere Spiele gemacht. Vor allem Kriegsspiele waren sehr beliebt. Im Wald zum Beispiel wurden „Geländespiele“ veranstaltet. Einige der Jungen mussten weiße Bändchen um das Handgelenk tragen, andere rote (weiß waren die Deutschen, rot natürlich die Russen). Und wie immer wollte keiner ein Russe sein, sondern ein tapferer deutscher Soldat.
Um überhaupt am Spiel teilnehmen zu dürfen, musste Reinhard immer ein Russe sein. Gerne wäre auch er einmal ein tapferer Deutscher gewesen.
Cousin Erwin hatte Reinhard ein Maschinengewehr (MG) aus Holz geschnitzt, das einem echten täuschend ähnlich sah. Er nahm es sofort mit zum Spielen, in der Hoffnung, mit dieser Waffe endlich ein deutscher Soldat zu werden. Trotz seiner guten Ausrüstung wurde ihm aber klar gemacht, dass dies nicht möglich sei. Wer einmal Russe war, so hieß es, der könne doch kein Deutscher werden, das müsse er doch verstehen.
Reinhard verstand es nicht, waren doch seine Brüder tapfere Soldaten, die für Deutschland an der Front kämpften und er sollte immer ein Russe sein. Ihm blieb aber nichts anderes übrig, als mit seinem nagelneuen Gewehr wieder auf Deutsche zu schießen.
Das Leben – oder Überleben – wurde immer schwieriger. Die Abschnitte auf den Lebensmittelmarken waren zur reinen Makulatur geworden. Es gab fast nichts mehr. Oft nahm Lisa Reinhard auf abgeerntete Korn- und Weizenfelder mit, um die liegen gebliebenen Ähren aufzusammeln. Hatte man ein richtiges Bündel beisammen, wurde es abgebunden und zur Seite gelegt. Zu Hause wurden die Ähren dann getrocknet, in ein Säckchen gefüllt und mit einem Gegenstand so lange geklopft, bis die Körner aus der Schale fielen. Dann wurden sie herausgenommen und in der hohlen Hand kräftig ausgeblasen, damit sich Spreu und Schmutz lösten. Dann kamen sie in die Kaffeemühle und wurden zu Schrot gemahlen. Eine mühsame Sache, aber Not ist die Mutter aller Erfindungen.
In dieser Zeit war nur eines wichtig: Alles, was irgendwie essbar war, voll auszunutzen.
Die Propaganda-Plakate mit der Aufschrift „Pssst, Feind hört mit!“ waren an jeder Ecke zu sehen und man bekam das Gefühl, keinem Menschen mehr was anvertrauen zu können.
Manchmal hörte man ein eigenartiges Grollen, wenn ganze „Verbände“ von Flugzeugen über Hüttersdorf flogen. Sogar bis ins Klassenzimmer der Schule war es zu hören. Der „Herr Lehrer“ pflegte das geflissentlich zu ignorieren. Und wagte ein Schüler, seine Aufmerksamkeit den Geräuschen zu schenken, brüllte er ihn an: „Steck deine Nase in dein Lesebuch oder willst du als Dummkopf aus der Schule kommen!?“ Die Fähnchen auf der Landkarte waren schon verdächtig nahe an das Großdeutsche Reich herangerückt. Die Lust, sie jeden Tag neu zu stecken, war dem Lehrer mittlerweile vergangen. Auf die Frage einiger Schüler, wo denn die Hauptkampflinie (HKL) der deutschen Truppen verlief, antwortete er nur widerwillig. Eine seiner Ausreden war: „Das ist eine strategische Kriegslist des Führers!“ Wer dennoch den Mut hatte, weiter zu fragen, wurde mit einem „Halt deinen Mund!“ gerüffelt.

Die Wende

Das Frühjahr 1944 begann mit immer größeren Schwierigkeiten. In Hüttersdorf erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand, die Juden hätten im besetzten Polen einen Aufstand gewagt. So etwas zu denken, geschweige denn zu erzählen, war lebensgefährlich.
Die Meldungen über Bombenangriffe auf deutsche Städte häuften sich. Man konnte jetzt sogar tagsüber große Bomberverbände über Hüttersdorf sehen. Das bedeutete, die Alliierten hatten keinen Respekt mehr vor der deutschen Luftabwehr.
Zur Freude von Reinhard wollte die Mutter nach Elbach ins Bayerische gehen, um bei Bauern Kartoffeln oder irgendwas Essbares zu bekommen. Als Reinhard von der Schule kam, wartete die Mutter schon, um sich sofort auf den Weg zu machen. Die Strecke nach Elbach war im Frühling sehr gut zu gehen. Sie führte immer durch den Wald, weil das der kürzeste Weg war. Die 5 bis 6 Kilometer waren schnell zurückgelegt. Wenn man nach ca. 3 Kilometern aus dem Wald kam, sah man schon die Ortschaft. Elbach hatte ungefähr die Größe wie Hüttersdorf und war ebenso eine Marktgemeinde. Vorteilhaft für den Ort war seine Bahnstation. Sie war der Ausgangspunkt, um Regensburg, München und Nürnberg zu erreichen. Diese Städte einmal zu sehen, war in dieser Zeit kaum möglich. Woher sollte denn auch für Reisen das nötige Geld kommen?
Endlich hatten die Bachners die Ortschaft erreicht. Die Mutter versuchte, etwas ohne Lebensmittelkarte zu bekommen, hatte aber heute kein Glück. Überall, wo sie es probierte, stieß sie nur auf ein Kopfschütteln der Ladeninhaber. Also musste sie ihr Glück bei den Bauern versuchen. Vier Höfe hatten sie bereits abgeklappert, alles Fehlanzeige. Einen Versuch wollte sie noch machen, um dann, wie so oft, unverrichteter Dinge den Heimweg anzutreten. Beim letzten Hof bekam sie doch noch etwas: eine Tasche voll Kartoffeln und zwei Runkelrüben.
Die Bäuerin, so vermutete Frau Bachner, gab ihr die Sachen wohl aus Mitleid für ihren Sohn. Dieser hatte sich vor Müdigkeit auf die Stufen des Hauseingangs gesetzt und somit vermutlich das Herz der Bäuerin erweicht.
Für drei bis vier Mahlzeiten sollte das Mitgebrachte ausreichen.
Solche Exkursionen wurden auch auf der „Böhmerwaldseite“ unternommen. Aber auch da war der Erfolg nicht viel besser. Am nächsten Morgen gab es Dorschenkraut, so nannte man das Kraut, das aus Runkelrüben hergestellt wurde. Waren die Rüben auch als Futtermittel für Tiere gedacht - den Bachners hat es trotzdem gut geschmeckt.
Onkel Georg und Tante Resl hatten wieder einmal vor, den Schwarzsender London zu hören. Also mussten Lisa und Reinhard auf die Straße, um Schmiere zu stehen.
Als die Nachrichten, die zum Teil in deutscher Sprache gesendet wurden, vorüber waren, wurden diese diskutiert. Das tausendjährige Reich schien sich dem Ende zu nähern.

Manche Hüttersdorfer Bürger verhielten sich der Familie Bachner gegenüber plötzlich ganz freundlich. Waren sie noch vor Monaten, was den Ausgang des Kriegs anbetraf, zuversichtlich, so schien das jetzt nicht mehr der Fall zu sein. Besonders Rosi Bachner und Lisa spürten einen Stimmungsumschwung.
Für den nun schon neunjährigen Reinhard hatte sich allerdings noch nichts geändert. Nach wie vor waren viele Kinder zu ihm unfreundlich, um es human auszudrücken. Gerne hätte er manchmal beim großen „Haufen“ mitgemacht und wenn er einmal durfte, war das eine Ausnahme.
Oft sah man ihn bei den „Großen“ mitspielen. Diese waren 3 bis 4 Jahre älter. Und die ließen ihn gerne mitmachen, weil er alles machte, was sie wollten. Nur bei den Mädchen aus der Nachbarschaft durfte er übrigens gleichberechtigt mitspielen und wurde von anderen Jungen dafür ausgelacht.

Die Heimkehr

Am Morgen des 20. April 1944 konnte man im Radio hören, wie dem Führer Adolf Hitler zum Geburtstag gratuliert wurde und dass der „Endsieg“, von dem immer häufiger die Rede war, unmittelbar bevorstehe.
Es musste schon weit nach Mitternacht gewesen sein, als Rosi Bachner an diesem Tag schlafen ging. Kaum eingeschlummert, schreckte sie ein Geräusch auf. Es kam vom Fenster zur Straßenseite. Schnell war sie aus ihrem Bett, um nachzusehen, ob da jemand war. Ohne Licht zu machen, schob sie Vorhang und „Verdunklung“ zur Seite. Doch draußen konnte sie nichts Verdächtiges wahrnehmen. Keine Minute später hörte sie ganz deutlich, dass jemand ans Fenster klopfte. „Ich muss Großvater holen“, schoss es ihr durch den Kopf, als eine Stimme leise ihren Namen rief: „Rosi! Ich bin es, mach bitte auf!“
Rosi Bachner glaubte, ihren Verstand zu verlieren. Wie gelähmt stand sie da, nicht in der Lage, irgendetwas zu tun.
Diese Stimme hätte sie unter tausend anderen sofort erkannt – das war Kurts Stimme!! Vorsichtig öffnete sie die Tür, immer mit der Angst, dies alles nur zu träumen.
„Ich bin es wirklich, Rosi!“

Es war kein Traum! Kurt Bachner, der Vater Reinhards, wurde an Hitlers Geburtstag, den 20. April 1944, aus dem Konzentrationslager entlassen.
Weil Kurt Bachner ein hervorragender Waldfacharbeiter war, bekam er eine Stellung in der Staatswaldung beim Forstamt Teichnitz. In der Familie war jetzt endlich so etwas wie Normalität eingekehrt. Die größte Freude hatte Reinhard. Keiner, in der Schule oder sonst wo, konnte jetzt noch sagen: „Du hast ja gar keinen Vater!“
„Mein Vater war unschuldig, darum mussten sie ihn nach Hause lassen!“ Das sagte er all denen, die ihm ständig vorgeworfen haben: „Dein Vater ist ein Verbrecher, sonst wäre er nicht im Gefängnis.“ Stolz und selbstbewusst ging er nun in die Schule. Und viele seiner Mitschüler hatten zumindest keine so großen Vorurteile mehr.
Der Krieg war im Sommer 1944 immer allgegenwärtig. Alles was der „Kriegführung“ diente, wurde beschlagnahmt und eingesammelt. Dem Regime war nichts heilig, auch in Hüttersdorf wurden die Kirchenglocken, bis auf die kleinste, vom Turm geholt und eingeschmolzen. Damit konnten Waffen und Munition hergestellt werden. Spenden jeder Art wurden gebraucht. Zum Beispiel Metall, Knochen, Altpapier. Es gab kaum etwas, was nicht gebraucht wurde. Somit war die Schule nicht damit beschäftigt, den Schülern Deutsch und Mathematik beizubringen, sondern „Sammelngehen“ hieß die Devise, auf Teufel komm raus. Manchmal sah man Kinder und Jugendliche in Gruppen mit dem Handwagen durch das Dorf ziehen, um alles einzusammeln, was nicht „niet- und nagelfest“ war.

Kriegsende in Hüttersdorf

Herbstbeginn 1944: Trotz strenger Rationierung reichten Lebensmittel, Kleidung und überhaupt alles, was zum täglichen Überleben notwendig war, hinten und vorne nicht aus. Wer in dieser Zeit kein Überlebenskünstler war, der auch aus „Nichts“ etwas machen konnte, hatte kaum Chancen, einigermaßen über die Runden zu kommen. Organisieren hieß die Zauberformel. Wer dies nicht beherrschte, der hatte schlicht und ergreifend nichts zu beißen. Die Erntezeit war schon fast vorüber, doch Reinhard und einige seiner Freunde hielten immer noch Ausschau nach was Essbarem oder sonst Brauchbarem. Da wurden auch keine Verwandten verschont, wenn in irgendeinem Garten noch Obst auf den Bäumen war. Einer stand Schmiere, die anderen holten das Obst oder Gemüse aus den Gärten. Diese Unternehmungen waren nicht einfach, weil die Besitzer oft in einem Versteck auf der Lauer lagen. Nur ihrer Schnelligkeit hatten es die Jungs zu verdanken, dass sie nicht erwischt wurden. Das Überwinden der Zäune war oft eine artistische Meisterleistung. Waren es Holzzäune, wurde eine Latte herausgerissen und für die schmalen Körper – dicke gab es kaum – war es ein Leichtes, hindurchzuschlüpfen.
Trotzdem wurde Reinhard fast erwischt. Ein Bauer hatte ihn ertappt, als er Äpfel vom Baum pflückte. Aufgrund seiner enormen Schnelligkeit kam er mit ein paar Peitschenschlägen um seine Waden davon. Wurden die Eltern vom „Geschädigten“ informiert, gab es auch noch Schwierigkeiten zu Hause. Trotz aller Not und aller schlechten Zeiten: „Stehlen tut man nicht“, das war der Inhalt einer Strafpredigt, die Reinhard über sich ergehen lassen musste.
In jenen Tagen des Herbst 1944 gingen viele Gerüchte in Hüttersdorf um. Einige erzählten, es gäbe neue Wunderwaffen und der „Endsieg“ sei nicht mehr fern. Andere wieder wollten wissen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis Russen oder Amerikaner in den Ort einmarschieren. Solche Nachrichten wurden natürlich nicht in der Öffentlichkeit ausgesprochen. Und selbst im engsten Familienkreis war Vorsicht geboten. Es war keine Seltenheit, dass die eigenen Geschwister, ja die eigenen Eltern zur Anzeige gebracht wurden. Die Erziehung in der Schule wurde vom Staat komplett übernommen. Über die HJ (Hitlerjugend) und den BDM (Bund Deutscher Mädchen) bis hin zum Lehrpersonal und der Schulleitung war der Einfluss der Nazis ungeheuer groß. Nur wer die damalige Zeit erlebt hat, kann verstehen, dass der Sohn den Vater wegen abfälliger Bemerkungen über den geliebten Führer denunzierte. Waren in den Familien politisch nicht alle einer Meinung, kam es oft zu explosiven emotionalen Spannungen. Solange solche Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Familie ausgetragen wurden, war das nicht weiter schlimm. Kam jedoch persönlicher Streit hinzu, wie zum Beispiel Erbschaftsfragen oder auch Eheprobleme, – dann waren Anzeigen aus Rache durchaus keine Seltenheit. Vor allem aber die Kinder und Jugendlichen liefen durch die fanatische Indoktrination des Naziregimes Gefahr, eigene Familienmitglieder zu verraten. Im engeren Familienkreis der Bachners konnte man in diesem Punkt allerdings sicher sein: Die KZ-Haft des Vaters und die dadurch allgemein gewordene Isolation und Verachtung der ganzen Familie hatte sie innerlich lückenlos zusammengeschweißt.

Die Amerikaner kommen

Endlich lag dieser Winter in seinen letzten Zügen. Die meisten Menschen in Hüttersdorf hatten mit ständigen Sorgen und Nöten zu kämpfen. So war man also heilfroh, dass diese eiskalten Tage vorbei waren.
Wieder einmal fiel die Schule aus und Reinhard machte sich auf den Weg zum Deutschen Wald. Seine Vettern Erwin und Fritz hatten noch einige Kameraden mitgebracht. Was sie kurz darauf sahen, verschlug ihnen den Atem. Aus Richtung Elbach waren an die hundert oder mehr Soldaten auf der Straße nach Hüttersdorf unterwegs. Es war ein trauriger Haufen. Viele hatten zerrissene Uniformen an und machten einen müden Eindruck. Eine Frau am Straßenrand fragte einen der Soldaten, wohin sie denn gingen. Er antwortete: „Am besten wäre es, wenn sie uns nach Hause ließen!“ Die Truppe bestand aus lauter jungen Burschen, die kaum älter als 15 oder 16 Jahre waren. Einige alte Landser waren auch dabei, die meisten waren aber fast noch Kinder. Reinhard und seine Begleitung wollten gerade in Richtung Waldlichtung, als ein lautes Motorengeheul zu hören war. Jeder von den Jungen und den Soldaten kannte diese Geräusche – es waren Tiefflieger! Und das bedeutete äußerste Lebensgefahr! Die ganze Menschenmenge auf der Straße warf sich links und rechts in den Straßengraben. Reinhard und seine Freunde liefen in den Wald und warfen sich in die nächstbeste Mulde oder hinter die Büsche und steckten den Kopf ins Gras. Dabei pressten sie ihre Körper fest auf den Boden. Im Tiefflug rasten die Flugzeuge über die Baumwipfel hinweg und schossen dabei aus ihren Bordwaffen. Wurden die Fluggeräusche leiser, so bedeutete dies auf keinen Fall, dass die Gefahr vorüber war. In der Regel machten die Maschinen einen großen Bogen und kehrten dann wieder zurück. Da war man gut beraten, liegen zu bleiben. Sie schossen nämlich auf alles, was sich bewegte. Reinhard lag hinter einem kleinen, aber sehr breiten Busch. Von den anderen war nichts zu sehen. Nur die Straßengräben waren voll von Menschenleibern. Reinhard erlebte das nicht zum ersten Mal und trotzdem kam er fast um vor Angst. Plötzlich, wie befürchtet, kamen sie zurück und abermals beschossen sie die Straße. Wie an einer Schnur gezogen schlugen die Geschosse ein. Reinhard hörte hinter sich ein Geräusch. Langsam drehte er seinen Kopf zur Seite und sah Fritz, der sich dicht an den Boden gepresst neben ihn schob. „Bleib unten und bewege dich nicht“, sagte er leise, als ob die Flugzeugpiloten ihn hören könnten. Abermals drehten die Maschinen ab. Die Jungs blieben aber noch eine Weile liegen, bis Erwin bemerkte: „Die kommen nicht mehr zurück, weil sie sofort steil nach oben abgedreht haben.“ Erwin hatte wohl Recht mit seiner Feststellung. Die Flugzeuge waren verschwunden. In den Straßengräben kam wieder Bewegung in die Menschenmenge und nach kurzer Zeit setzten die Soldaten ihren Marsch in Richtung Hüttersdorf fort. Die Jungs strebten über eine Abkürzung den Nachhauseweg an, um zum Mittagessen daheim zu sein.
Den ganzen Nachmittag des folgenden Tages verbrachte Reinhard auf der Straße. Die Erwachsenen erzählten sich von Nachbar zu Nachbar die aktuellen Nachrichten über diese Amerikaner. Und alle waren sich sicher, dass nur die eigenen Informationen die zuverlässigsten und allerneusten seien. Die Kinder gesellten sich nur allzu gerne dazu, um ja alles mitzubekommen. Als Reinhard sich der Hauptstraße näherte, die in den letzten Wochen sein Lieblingsplatz war, hörte er, wie eine Frau zu ihrer Nachbarin sprach: “Ich habe soeben erfahren, dass die Russen schon in unserer Kreisstadt Teichnitz sind!“ Dabei fuchtelte sie wild gestikulierend mit den Armen in der Luft herum. Die Nachbarin prophezeite lautstark: „Wenn sich die Amerikaner nicht beeilen, sind die Russen vor ihnen in Hüttersdorf!“ Reinhard schüttelte den Kopf. Er, der Schulbub, wusste es besser als diese beiden erwachsenen Frauen: Onkel Georg hatte erst gestern Abend seinem Vater berichtet, wo die Amerikaner standen, – wie er sich auszudrücken pflegte. Es konnte noch Tage dauern, so meinte er, bis diese in Hüttersdorf einmarschieren würden. Und seine Kenntnisse stammten aus der einzig kompetenten Quelle: „Radio London“.
Reinhard hatte wieder seinen Lieblingsplatz, die Hauptstraße, erreicht. Es war wie erwartet sehr viel los. Da gab es Flüchtlinge, die nicht wussten, wohin sie eigentlich fliehen sollten. Dann Soldaten, deren Disziplin und Ordnung Auflösungserscheinungen zeigten; und schließlich neugierig herumstehende Ortsbewohner. Schulunterricht gab es nicht mehr und so tummelten sich auch viele Kinder und Jugendliche auf der Straße herum. Reinhard hielt sich fast immer dort auf, wo der Weg nach Elbach führte. Den eines war sicher: Nur aus dieser Richtung konnten die Amerikaner kommen. Wenn man ein Stück des Weges nach Elbach ging, kam schon das Waldgebiet und man hatte in beide Richtungen, also nach Hüttersdorf und Elbach gute Sicht. Die war nach Ansicht von Reinhard wichtig, denn er wollte auf keinen Fall den Einmarsch der amerikanischen Truppen versäumen.
Am nächsten Vormittag kam Reinhards Großvater zu den Bachners in die Stube gestürmt und sagte aufgeregt: „Kurt! Sie kommen! Ich glaube, ich habe Geschützfeuer gehört!“ Im gleichen Augenblick rannte Reinhard herein und rief: „Vater, ich habe die Kanonen schießen hören, – komm mal!“ Alle verließen das Haus und eilten auf die Straße. In kurzen Abständen konnte man Schüsse hören, die aus Panzerkanonen abgefeuert wurden. Obwohl die Granaten über Hüttersdorf hinweggingen, erzeugten sie ein pfeifendes Geräusch, das durch Mark und Bein fuhr. Die Familie Bachner zog sich nun in den Hof ihres Hauses zurück. Die Nachbarn waren alle in ihre Wohnungen geflüchtet und die Straße war mit einem Schlag wie leergefegt.
Reinhard hörte, wie sein Vater sagte, dass die Panzer auf der Gerberbrücke stehen müssten und diese war nur 3 Kilometer von Hüttersdorf entfernt. Immer wenn ein Geschoss über die Dächer der Häuser hinwegpfiff, duckten sich alle automatisch und pressten sich an die Hauswand. Das ganze Schauspiel dauerte jetzt schon eine gute Stunde. Das Kanonenfeuer nahm plötzlich zu und wurde noch lauter. Ein fürchterlichen Knall war zu hören. Und dann war es für kurze Zeit still. Eine Rauchwolke wurde sichtbar, nicht direkt im Ort, aber doch ganz in der Nähe. Plötzlich schrie einer der Nachbarn aus einem Giebelfenster zu den Bachners herüber, dass eine Granate auf einem Acker eingeschlagen hat. Keine Minute später meldete sich der Nachbar erneut: „Die weiße Fahne hängt auf dem Kirchturm!“, schrie er, klappte das Fenster zu und war verschwunden. Es dauerte nur noch kurze Zeit, als auch das Schießen aufhörte.
Jetzt waren auf einmal andere Geräusche zu hören. Ein fürchterliches Gerassel und dumpfes Dröhnen war aus Richtung Elbach zu hören. Rasch waren wieder Menschen aus allen Häusern geströmt. Sie bewegten sich geschlossen zur Hauptstraße hin. Auch die Bachners eilten herbei, um zu sehen, woher dieses Gerassel kam. Angekommen, stellten sie sich ganz nahe an den Straßenrand, um eine gute Sicht zu haben. Genau dort, wo das Ortsschild von Hüttersdorf stand und der Wald endete, tauchte ein Ungetüm von einem Panzer auf und blieb stehen. Das lange Rohr der Panzerkanone fing an, sich im Kreise zu drehen und blieb dann in drohender Haltung auf Hüttersdorf gerichtet. Die Menschen an der Straße wagten kaum zu atmen.
Das ganze dauerte nur wenige Sekunden, dann setzte sich das Ungetüm wieder in Bewegung. Das weitere Geschehen blieb Reinhard Bachner bis zum heutigen Tag exakt in Erinnerung: Dem ersten Panzer folgten weitere. Dann kamen Lastwagen mit aufgebauten Maschinengewehren, hinter denen Soldaten standen; in Uniformen, die Reinhard noch nie gesehen hatte. Da waren sie nun, – diese Amerikaner, auf die er so neugierig gewartet hatte. Den Lastwagen folgten schließlich Jeeps mit Soldaten und dann sah Reinhard seinen ersten Neger. Einer dieser farbigen Soldaten hatte die Beine über das umgeklappte Frontfenster hängen und lachte, so dass man seine weißen Zähne deutlich sehen konnte. Reinhard wusste nicht, wo er zuerst hinschauen sollte. So viel gab es zu sehen. Die Militärkolonne schien kein Ende zu nehmen. Immer wieder kamen Panzerspähwagen und Kettenfahrzeuge, dazwischen Jeeps und Lastwagen. Einige Leute aus Hüttersdorf winkten den Soldaten zu und viele von ihnen winkten zurück. Reinhard konnte sich später nicht mehr erinnern, wie lange er und seine Familie an der Straße standen. Keiner ging, bis auch das letzte Fahrzeug vorbei war. Lisa nahm ihn auf einmal bei der Hand und zog ihn von der Straße weg. Die Eltern hatten es eilig, wieder in ihre Häuser zu kommen. Denn niemand wusste genau, was nun auf sie zukam, wenn die Soldaten den Ort besetzten. Reinhard und Lisa schauten aus dem Fenster der Wohnstube, das zur Straße hinaus ging. Großvater und Tante Resl standen auf der Hausstaffel vor der Tür, wo sich alle anderen auch aufhielten. Im Moment war die Straße wie ausgestorben. Die Leute schauten aus den Fenstern oder standen wie die Bachners vor der Tür. Plötzlich hörte man lautes Motorengeräusch und auch Kettengerassel die Straße herunterkommen. Ein Panzer, ein Spähwagen und ein Lastwagen mit mindestens zehn Soldaten auf der Ladefläche hielten direkt vor dem Haus der Familie Bachner. Einige der Soldaten sprangen von dem Lastwagen und gingen zum Hauseingang, wo sich natürlich alle Bewohner längst in die Wohnungen zurückgezogen hatten. Da die Haustüre nicht verschlossen war, standen die Soldaten auf einmal in der Stube der Bachners. Die Familie war dermaßen erschrocken, dass keiner fähig war, auch nur ein Wort zu sagen. Das brauchten sie auch nicht. Das taten die Soldaten. Einer von ihnen, er trug auf der Uniformjacke aufgenäht den Namen „J. Smith“, warf seinen Stahlhelm auf den Tisch und machte die Tür zum Schlafzimmer auf. Er schaute sich im Raum kurz um, stellte sein Gewehr an die Bettkante und warf seine Handschuhe auf die beiden Betten. Kurt Bachner war ihm ins Zimmer gefolgt, um zu sehen, was er denn da wollte. In gebrochenem Deutsch forderte der Soldat Bachner auf, das Haus mit seiner Familie zu verlassen. Es werde von ihnen, den Militärs, gebraucht. „Wo sollen wir hin?“, fragte Bachner. Der Soldat zuckte mit den Schultern und sagte in einem jetzt schärferen Ton: „Das ist ein Befehl, raus jetzt!“ Bachner bedeutete seiner Familie, schnell etwas mitzunehmen und das Haus zu verlassen. Mitnehmen konnten sie jedoch nichts. Die Soldaten drängten die Familie förmlich zur Tür hinaus. Es war ungefähr 17.30 Uhr, als sich die Bachners also plötzlich auf der Straße wiederfanden. Um 14.00 Uhr waren die Amerikaner einmarschiert und 3˝ Stunden später hatten sie kein Zuhause mehr.
Natürlich mussten sie nicht auf der Straße übernachten. Sie konnten zu Bachners Bruder Georg gehen, der in der gleichen Straße sein Haus hatte. Georg hatte sie vom Fenster aus kommen sehen, denn er stand bereits vor der Haustüre, um sie zu begrüßen. „Was ist los?“, fragte er seinen Bruder. - „Die haben uns rausgeschmissen und unser Haus besetzt“, antwortete dieser und Georg konnte es einfach nicht fassen, dass man ausgerechnet seinen Bruder Kurt aus dem Haus gejagt hatte. Er meinte, es gäbe doch genug Nazis im Ort! Warum ihn? Kurt beruhigte seinen Bruder, indem er erklärte, dass diese Kampftruppe andere Sorgen hätte und auch nicht wissen könne, wer ein Nazi und wer kein Nazi sei.

Alle Gedanken drehten sich nun in der Hauptsache darum, wie es weitergehen sollte. Am nächsten Morgen, nach einer Tasse Zichoriekaffee und einem Stück Brot, verließ Kurt Bachner das Haus seines Bruders, um zu sehen, was in seiner eigenen Wohnung los war. Dort hatte sich nichts geändert. Nach wie vor stand der Panzer am Straßenrand. Und in einem Lastwagen waren Funker beschäftigt, die in englischer Sprache durcheinander redeten.
Plötzlich kam einer der Funker mit einem Zettel in der Hand über die Straße und lief ins Haus. Die Soldaten stürmten aus dem Haus, setzten im Laufen ihre Stahlhelme auf, sprangen auf die Fahrzeuge und rasten mit aufheulenden Motoren davon. Der Panzer drehte sich einmal um die eigene Achse und ackerte das Erdreich auf, um dann mit hoher Geschwindigkeit wegzufahren. Erdklumpen und Rasenstücke wirbelten durch die Luft. Und bis Kurt Bachner einen klaren Gedanken fassen konnte, war von den Amerikanern nichts mehr zu sehen. Als er ins Haus kam, stand er mitten in einem Chaos. Stühle lagen am Boden, auf dem Tisch standen Pfannen, Töpfe und geöffnete Konservendosen; andere angebrochene Speisereste lagen überall herum. Auf dem Ofen stand ebenfalls eine Pfanne. Aus ihr stieg Qualm auf und es roch nach Verbranntem. Das Feuer im Ofen loderte noch. Daran konnte man sehen, dass der Befehl zum Aufbruch überraschend kam. Das ganze Durcheinander hatte natürlich einen riesigen Vorteil für die Familie Bachner: Durch den überstürzten Abmarsch hatten die Amerikaner einiges zurückgelassen. Nicht nur angebrochene Sachen, sondern auch verschlossene Dosen, Pakete und vieles andere mehr. Den amerikanischen Truppen schien es, was die Verpflegung betraf, an nichts zu mangeln.

Die letzten Monate in der Heimat

Die Amerikaner waren abgezogen und Hüttersdorf stand jetzt unter tschechischer Verwaltung. Die schulfreie Zeit für Reinhard war jetzt wieder vorbei. Eine tschechische Lehrerin unterrichtete die vierte und fünfte Volksschulklasse. Es wurde alles von der deutschen auf die tschechische Sprache umgestellt. Die Lehrerin fanden alle Schüler nett. Vor allem konnte sie fast akzentfrei die deutsche Sprache. Obwohl er gerne zum Unterricht ging, trauerte Reinhard der schulfreien Zeit nach. Die tschechische Sprache zu erlernen, fiel anfangs allen Schülern schwer.
Die Stimmung unter den Hüttersdorfer Einwohnern hatte einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Die meisten von ihnen wussten, dass sie bei der bevorstehenden Vertreibung „Hab und Gut“ verlieren würden. Manche aber konnten oder wollten es einfach nicht glauben. Haus und Hof sowie jeglicher Besitz musste zurückgelassen werden. Wieder andere klammerten sich an die Hoffnung, das sei alles Unsinn. Viele Bauern im Ort holten ihre Ernte ein und taten so, als hätte sich überhaupt nichts geändert. Über die Details der „Aussiedlung“, wie die Tschechen die Vertreibung nannten, oder gar über Entscheidungen wusste niemand etwas Genaues.
Die Sorge, wann der Befehl zum Abtransport kommen und wohin die Reise gehen würde, war allgegenwärtig. All diese Dinge ließen die Menschen nicht mehr ruhig schlafen. Der Zustand war fast unerträglich. Es gab keinen Tag, wo nicht davon gesprochen wurde und die Existenzangst war aus jedem Wort herauszuhören. Da waren Landwirte und Gewerbetreibende sowie auch Leute, die sich ein Leben lang ihr Haus vom Mund abgespart hatten, nur um jetzt alles zurückzulassen. Mancher Grund und Boden war schon seit Generationen in Familienbesitz. Viele alte Leute begriffen gar nicht, warum sie aus ihrer Heimat wegmussten. Für die Familienmitglieder war es schwierig, ihnen klar zu machen, dass der Krieg, den Hitler vom Zaun gebrochen hatte, an diesem Dilemma die Hauptschuld trug. Einige von ihnen konnten bis zur Stunde noch nicht glauben, dass sich ihr allseits geliebter „Führer“ durch Selbstmord aus der Verantwortung gestohlen hatte. In vielen Gesprächen versuchte Kurt Bachner manchen Dorfbewohnern klar zu machen, dass die Vertreibung letztendlich die Folge von Hitlers Gewaltherrschaft war. Viele waren es nicht, die seinen Argumenten Glauben schenkten. Es waren immer „die anderen“, die Schuld hatten. Damit konnte man besser sein eigenes Gewissen beruhigen. Oft musste den Leuten in Erinnerung gerufen werden, wie sie auf der Straße gejubelt hatten, als Hitler nicht nur das Sudetenland „Heim ins Reich“ holte. Bachner wusste noch sehr genau, wie die Menschen öffentlich gerufen hatten: „Wir wollen heim ins Reich!“ Und „Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Wir danken unserem Führer!“ Aber jeder versicherte, damals nicht dabei gewesen zu sein. Bachner konnte es sich bei einigen Zeitgenossen nicht verkneifen zu sagen: „Auf meine Augen kann ich mich heute noch verlassen. Und damals waren sie sogar noch besser.“
Nach Hüttersdorf kamen jetzt überwiegend tschechische Familien, die auf Anweisung der Behörden in die verwaisten Häuser einzogen. Im Ort entwickelte sich ein Zustand, der viele Bewohner in schwere Konflikte brachte. In den meisten Fällen kannte man seine Nachbarn schon viele Jahre und kam gut miteinander aus. Und auf einmal waren da Fremde. Die Mehrzahl konnte kaum oder überhaupt nicht Deutsch sprechen. Und einige ließen die Deutschen schon spüren, dass jetzt sie am Drücker waren. Reinhard Bachner hatte die wenigsten Schwierigkeiten mit den neuen Schulkameraden. Kinder in seinem Alter lernten schnell, sich zu verstehen. Wenn es dennoch Probleme gab, waren sie ausschließlich sprachlich bedingt. Obwohl Reinhard ja in die tschechische Schule ging, reichte das Erlernte bei weitem noch nicht aus.

Abschied von Hüttersdorf

Es war ungefähr Mitte Juni 1946, als sich die Ereignisse förmlich überschlugen. Die ersten Transporte wurden in Hüttersdorf zusammengestellt. Und es galt Abschied zu nehmen. Als der erste Transport den Ort verließ, standen die Zurückgebliebenen am Straßenrand und winkten ihren Geschwistern, Freunden und Verwandten ein letztes Mal zu. Der Tag, an dem der Lastwagen die Leute abholte und diese sich noch einmal umarmten, bevor sie dann mit ihrem armseligen Gepäck auf die Ladefläche stiegen, war fürchterlich. 25 kg „pro Kopf“ durfte mitgenommen werden. Von dieser Regelung wurde nur in den wenigsten Fällen eine Ausnahme gemacht. Die Sachen wurden meistens in Kisten oder ähnlichem Verpackungsmaterial verstaut. Die Tschechen achteten genau darauf, dass nicht mehr mitgenommen wurde. Gelegentlich wurden die Sachen gewogen. Und wenn eine Familie auch nur einige Kilo zu viel hatte, musste die Kiste geöffnet werden. Die Leute hatten sich dann unverzüglich zu entscheiden, was sie zurücklassen wollten, damit das Gewicht stimmte. War die Kontrolle beendet, durfte das Gepäck nicht mehr geöffnet werden. Mit Lastwagen wurden die Menschen samt ihren Siebensachen zur nächsten Bahnstation oder zum Lager gebracht. Dort wurden sie in Güterwaggons (genauer Viehwaggons) verfrachtet. Ich möchte darauf hinweisen, auch wenn ich mich wiederhole, dass bei der Annektierung des Sudetenlands 1938 und Böhmen und Mähren 1939 durch Hitler das tschechoslowakische Volk gedemütigt und gepeinigt wurde. Die tschechoslowakische Bevölkerung nahm jetzt an den Sudetendeutschen Rache. Die Milizen, aber auch kriminelle Banden zogen plündernd und mordend durch Städte und Dörfer. Betroffen waren wieder einmal viele unschuldige Menschen. Manche waren im ersten Moment sogar froh, dass sie die Heimat verlassen mussten. Bis heute hat es jedenfalls niemand geschafft, nach einem Krieg Derartiges völlig zu verhindern. Immer fallen die so genannten Sieger über die Besiegten her.
Jeden Tag mussten die Hüttersdorfer mit neuen Anordnungen fertig werden. Und das Warten auf den Abtransport war eine schlimme Sache. Einige Tage nach Reinhards erzwungenem Schulabgang (Deutsche durften die Schule nicht mehr besuchen) mussten die Leute in die leer stehenden Häuser in der Ortsmitte beziehungsweise am Ortsende einziehen. Natürlich fragten sich die Menschen, wozu das gut sein sollte. Warum noch einmal umziehen, wo doch feststand, dass in Kürze alle Hüttersdorf verlassen mussten? Die Antwort darauf war einfach: Die Tschechen wollten verhindern, dass die unmittelbar an der Grenze wohnenden Deutschen Wertsachen über die Grenze befördern konnten. Im Innern der Ortschaft war dies nicht möglich, zumindest war es schwieriger und man hatte alle besser unter Kontrolle. Schon zwei Tage später ging es los. Die betroffenen Familien wurden in Häuser oder Wohnungen eingewiesen, die leer standen.
Groteskes spielte sich bei diesem Umzug ab. Man wurde aus den eigenen vier Wänden, von Haus und Hof rausgeschmissen und musste in ein fremdes Haus einziehen. Die Möbel blieben zurück, ebenso das Vieh in den Ställen. Man zog in eine neue Bleibe, wo gute Bekannte oder Freunde über Jahrzehnte gelebt hatten. Der Schmerz, den eigenen Besitz zu verlassen, um in einen fremden einzudringen, verursachte zudem noch ein schlechtes Gewissen. Nichts war mehr normal. Die Metzgerei hatte inzwischen auch ein Tscheche übernommen – nicht nur den Laden, sondern das ganze Anwesen. Die Vorbesitzer waren schon beim ersten „Transport“ dabei gewesen.
Das alles geschah planlos. Nichts schien organisiert zu sein. Jeder machte, was er wollte. In den darauf folgenden Tagen irrte das Vieh im Wald umher und niemand kümmerte sich darum. Die Rinder, die noch im Stall waren, wurden zum Teil von den noch verbliebenen Bewohnern in Hüttersdorf gemolken. Aber es war einfach unmöglich, allen Tieren zu helfen. Und so hörte man das Brüllen der armen Kreaturen Tag und Nacht.
Es war ein Mittwoch, als Reinhards Großvater und Tante Resl ihr Haus verlassen mussten. Großvater hatte noch eine Kuh und ein Kalb im Stall stehen. Von den anderen Dingen, Möbel etc. mal ganz abgesehen. Kurt Bachner und Bruder Georg halfen ihrem Vater und der Schwester, die Sachen, die mitgenommen werden durften, zu packen. Am Abend vorher ging der alte Bachner noch mal in den Stall, um Abschied von seinen Tieren zu nehmen. Das vertraute Schnattern der Gänse hatte er noch nie so wahrgenommen wie heute. Als er den Stall betrat, drehte sich die „Liesel“, die Kuh, zu ihm um und ihr Schnaufen durch die Nasenlöcher kam ihm heute besonders laut vor. Lange stand er bei seinen Tieren. Er hatte viel mehr Futter aufgelegt als sonst. Und immer wieder fuhr seine Hand über den Rücken der Tiere. Was war er immer stolz auf seine kleine Landwirtschaft gewesen! Viele Nächte hatte er bei seinen Tieren verbracht, wenn ein Kälbchen erwartet wurde. Langsam schloss er die Stalltür hinter sich zu. Sein Blick streifte den Hühner- und Gänsestall. Dann verließ er die Scheune. Mit wackligen Knien betrat er die „Gute Stube“, wo seine Tochter weinend am Tisch saß. Der Vater legte seinen Arm um ihre Schultern und mahnte zum Aufbruch. Er war froh, dass man ihm erlaubt hatte, in seinem Haus noch mal nach dem Rechten zu sehen. Reinhard Bachner erzählte mir (dem Autor) später, dass er niemals in seinem Leben den Augenblick vergessen wird, wie sein Großvater auf den Lastwagen geschoben wurde und seine Hand zu einem letzten Gruß hob. Reinhard konnte die Tränen nicht mehr verbergen und ließ ihnen freien Lauf. Nun stand er, wie so oft in den letzten Wochen, auf der Straße und musste mit ansehen, wie sein Großvater auf einem Fuhrwerk wie ein Stück Vieh abtransportiert wurde. Er bemerkte nicht einmal, dass ihn Lisa bei der Hand nahm und ihn sanft wegzog. Es wollte kein Ende nehmen: Immer wieder musste man sich von Verwandten und Freunden verabschieden.
Reinhard wollte noch mal zu Erwin und Fritz, um mit ihnen zu spielen. Sie waren zwar älter als er, aber doch seine besten Freunde. In zwei Tagen mussten auch sie Hüttersdorf verlassen und diese zwei Tage wollten sie noch so oft wie möglich zusammen sein.
Als sie den Weiher in Hüttersdorf erreicht hatten, suchten sie ihre Stelle auf, wo immer gebadet wurde. Hier hatte Reinhard das Schwimmen gelernt und viele lustige Stunden verbracht. „Lasst uns noch mal zusammen schwimmen gehen!“, rief Fritz plötzlich. Da keiner eine Badehose dabei hatte, badeten alle drei nackt. Apropos Badehose: Reinhard hatte noch nie eine besessen. Seine „Badehose“ war eine Unterhose, wenn er hier am Weiher zum Baden ging. Heute war es egal, heute wurde nackt gebadet, denn obwohl bestes Badewetter war, waren sie an dieser Stelle alleine. Zwei Drittel der Bewohner von Hüttersdorf waren schon weg, somit gab es auch fast keine Badegäste mehr. Für einen Augenblick hatten die Jungs vergessen, dass es ihr letztes Badevergnügen war, das sie zusammen erleben durften. Als sie dann dicht beieinander im Gras lagen, um sich in der warmen Sonne trocknen zu lassen, waren die Abschiedsgedanken wieder da. Fritz merkte, dass Reinhard traurig war und klopfte ihm mit seiner Hand auf den nackten Rücken. „Kopf hoch, Junge“, sagte er – „wir sind doch nicht zum Tode verurteilt.“ Reinhard nickte. Sein Versuch zu lachen scheiterte aber kläglich. „Wir schreiben uns“, mischte sich Erwin in das Gespräch ein, „und ihr werdet sehen, irgendwann treffen wir uns wieder.“ So machten sie sich gegenseitig Mut. Die bedrückte Stimmung hielt aber weiter an. Reinhard konnte erkennen, dass Fritz seinen Blick immer wieder über den Teich schweifen ließ; besonders in die Richtung, wo der Bach in den Weiher mündete. Nur einige hundert Meter am Bach entlang stand sein Elternhaus. Würde er es noch einmal sehen? So traurig hatten Reinhard und Erwin den Fritz noch nie gesehen. Doch plötzlich gab er sich einen Ruck. Seine Stimme war belegt, als er zu Reinhard sagte: „Wir müssen los, Kleiner“, - Kleiner hatte er schon lange nicht mehr gesagt –, „sonst lassen die uns womöglich noch hier.“ Keiner mochte über die Worte lachen. Fritz und Erwin reichten Reinhard die Hand. Dann gingen sie mit eiligen Schritten fort. Reinhard blicke ihnen nach. Die beiden waren schon ein ganzes Stück gegangen, als sich Fritz noch einmal umdrehte. Er hielt einen Augenblick inne, dann lief er plötzlich noch mal zurück und nahm Reinhard in die Arme. Eine Zeit lang verharrten sie in der Umarmung. Dann riss sich Fritz los und rannte zu Erwin, ohne sich nochmals umzusehen. Er wollte nicht, dass ihn der „Kleine“ weinen sah. Reinhard wusste nicht, wie lange er am Weiher stand. Er blickte immer noch starr in die Richtung, wo die beiden Freunde schon eine ganze Weile verschwunden waren. Als er sich auf den Rückweg machte, kam er sich so einsam vor, wie nie zuvor in seinem Leben. Immer wieder drehte er sich dabei um, in der Hoffnung, die beiden noch mal zu sehen. Doch er konnte kaum was erkennen vor lauter Tränen, die über seine Wangen liefen.
Reinhard musste immer wieder an Fritz und Erwin denken. Hoffentlich kam die Mutter bald zurück. Er wollte auf die Straße und auf den Lastwagen warten. Wenn er etwas Glück hatte, würde er seine Freunde vielleicht noch einmal sehen und ihnen zuwinken können.
Endlich kam die Mutter zurück. Sofort verließ Reinhard das Haus und ging zur Hauptstraße. Er wusste nicht, welche Familien als Erste abgeholt wurden. Er musste also warten, um festzustellen, aus welcher Richtung der Lastwagen kam.

Es dauerte nicht lange. Nach etwa zwanzig Minuten kam das Fahrzeug die Hauptstraße herauf. Langsam fuhr es an Reinhard vorbei. Die Ladefläche war voll mit Menschen, wie Heringe aneinander gepresst. Mit einem letzten Blick nahmen sie von ihrem Heimatort Abschied. Erwin und Fritz waren nicht zu sehen. Auch Tante Barbara oder andere Verwandte erkannte er nicht. Der Wagen fuhr nicht sehr schnell; somit konnte Reinhard ohne größere Schwierigkeiten neben ihm herlaufen. Nach einigen Hundert Metern verschärfte der Fahrer das Tempo und Reinhard fiel immer weiter zurück. Plötzlich sah er, wie sich die Seitenplane öffnete und der Kopf von Fritz zum Vorschein kam. Reinhard lief nun so schnell er konnte hinter dem Auto her und winkte mit beiden Armen. Doch der Wagen wurde immer schneller. Reinhard konnte das Tempo nicht mehr halten. Bevor er aber in der langgezogenen Kurve am Ortsausgang verschwand, konnte Reinhard sehen – oder glaubte er zu erkennen – wie Fritz ihm noch mal zuwinkte. Dann war der Lastwagen außer Sichtweite.
Beim Abendessen erklärte Kurt Bachner seiner Familie, dass es nun nicht mehr lange dauern würde, bis der nächste und wohl letzte Transport zusammengestellt würde. Es mochten, außer den Bachners, noch sechs oder sieben deutsche Familien sein, die sich im Ort befanden.
An einem Montag, so um den zehnten September 1946 herum, war es dann soweit: In fünf Tagen sollte der letzte Transport Hüttersdorf verlassen. Reinhard versuchte zwischenzeitlich immer wieder, heimlich zur Grenze zu gelangen. Es war vergeblich. Er wollte unbedingt noch mal in Großvaters Haus und im elterlichen Garten nach dem Rechten sehen. Die tschechischen Grenzbeamten sowie die Polizei hatten im Laufe der Zeit die Überwachung der Grenze erheblich verschärft und ihre Kontrollgänge ausgeweitet. Das Personal der Zöllner hatte sich in kürzester Zeit verdoppelt und sogar Soldaten wurden zur Bewachung der Grenze herangezogen. In einem leer stehenden Gebäude nahe der Kirche wurde ein Gendarmerieposten eingerichtet. Nach einigen gescheiterten Versuchen gab Reinhard sein Vorhaben schließlich auf. Sein Wunsch, noch ein letztes Mal das Haus zu betreten, in dem er geboren wurde, blieb unerfüllt.
Zu alledem kam für die Familie Bachner noch die Sorge um Reinhards Bruder Willi hinzu, der sich aus der Kriegsgefangenschaft bis Hüttersdorf durchgeschlagen hatte und nicht auf der Transportliste stand. Er musste – so kurz nach dem Wiedersehen – vorerst in Hüttersdorf zurückbleiben.
Einige Tage später, etwa gegen 9.00 Uhr, fuhr der Lastwagen vor dem Haus der Bachners vor. Auf der Ladefläche, zusammengepfercht mit weiteren Familien, fand Kurt Bachner mit seiner Familie einen Platz. Reinhard, der neben seiner Schwester Lisa saß, zog sich an der Bordwand hoch, um nach draußen zu sehen. Willi stand unter einigen uniformierten Tschechen und winkte Reinhard und Lisa zu, als sich der Lastwagen in Bewegung setzte. Das Winken des Bruders und die allerletzten Blicke auf den Heimatort haben sich mit der Schärfe eines Alptraums in das Gedächtnis von Reinhard eingebrannt. Unauslöschlich.

Schlussbemerkung

Bedanken möchte ich mich vor allem bei meinem Sohn Günter Bachmann, der mich nicht nur zum Schreiben angeregt hat, sondern mir in vielen Dingen beratend zur Seite stand und die Korrekturarbeiten übernahm. Mein herzlicher Dank gilt natürlich auch der Familie Bachner, insbesondere Reinhard sowie dessen Geschwister Willi, Josef und Lisa Bachner. Ohne ihre Hilfe wäre es nicht möglich gewesen, diesen Bericht über eine vergangene Zeit zu schreiben.
Ich erhoffe mir, dass alle, die dieses Buch lesen, eine etwas positivere Einstellung gegenüber der heutigen älteren Generation bekommen. Was nämlich in letzter Zeit in den Medien und in der Presse von jungen Leuten, besonders von solchen, die bereits in irgendeiner Partei eine mehr oder auch weniger bedeutende Funktion ausüben, von den „Alten“ verlangt wird – entbehrt meiner Meinung nach jeglicher Grundlage.
Da wäre zum Beispiel für über 70-Jährige ein neues Hüftgelenk zu teuer – diese könnten doch auch Krücken benutzen. Das war von einem 23-Jährigen in den Medien zu hören. Übertroffen wird das nur noch von der zynischen Bemerkung eines lümmelhaften, ebenfalls blutjungen Politikers, der erst kürzlich meinte, die Alten sollten doch besser gleich „den Löffel abgeben“! Er meinte zwar „das Tafelgeschirr“, von dem die angeblich wohlhabenden Rentner etwas hergeben sollten. Doch es war ein sehr entlarvender, ein sehr sprechender Versprecher - vielleicht sogar die wahre Herzensmeinung im Unterbewusstsein dieses Redners. Bei derartigen Äußerungen wird dann gebetsmühlenhaft folgendes Argument vorgetragen: „Die Alten müssen endlich auch ihren Beitrag zur Sanierung der Renten- und Krankenkassen leisten.“ Das wird gerne von Jung-Politikern aller Parteien in die Debatte geworfen; oder auch von älteren, die – genau wie ihre unreifen Kollegen - aus gehobenen und wohlhabenden Verhältnissen stammen. Die Notzeiten unserer Generation – oder Notzeiten überhaupt - kennen sie nur aus der unbeteiligten Vogelperspektive.

Denjenigen, die sich derlei Argumente auf die Fahne schreiben, sei an dieser Stelle gesagt: „Einen solchen Beitrag hat meine Generation schon mehr als einmal geleistet!“ Die Argumente dafür finden sich zuhauf in diesem Buch, besonders in der Darstellung der Nachkriegszeit und des Wiederaufbaus, die eine eigene und andere Lesung erfordern würden. Ich habe in dieser Hinsicht sehr intensiv mit jungen Menschen diskutiert und kam mit großer Freude zu der Überzeugung, dass viele von ihnen auch eine positive Einstellung den „Alten“ gegenüber haben. Das gibt mir Mut und Hoffnung.
Schluss also mit dem Jammern! Und erst mal selbst einen Beitrag leisten – bevor man die Alten dazu auffordert, sich am besten gleich selber auf dem Friedhof zu entsorgen, weil sie angeblich zu kostspielig geworden sind. Und noch etwas: Hört auf mit dem Gerede von „den Rentnern“! Derlei Abstraktionen, die Menschen in kollektive Sippenhaft nehmen, haben wir schon zu Hitlers Zeiten mehr als genug kennen gelernt. Wer eine hohe Rente hat, der mag einen Beitrag leisten. Nicht aber die überwiegende Mehrzahl derer, die am Existenzminimum herumkrebsen. Nicht nur in der Rentnerdiskussion, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen ist uns das Feingefühl verloren gegangen, erst einmal zwischen Arm und Reich zu unterscheiden. Diese Unterscheidung sollte allen Schlagworten vorangehen, wenn es um solidarische Beiträge für das Gesamtwohl geht. Denn ohne dieses soziale Einfühlungsvermögen werden die Armen zwangsläufig immer ärmer und die Reichen immer reicher. Mit der Folge, dass die politischen Rattenfänger, sei es von links oder von rechts, wieder großen Zulauf bekommen.
Richard Bachmann
Stuttgart, im März 2005