Mein Besuch in der Gedenkstätte KZ Flossenbürg/Opf.

Von Richard Bachmann


Ehemalige Kommandantur

Ich war schon sehr oft in dieser Gedenkstätte zu Gast, aber das Grauen erfasst mich jedes Mal aufs Neue.

Wenn ich in die Oberpfalz reise, nehme ich mir regelmäßig vor, die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg nicht mehr zu besuchen. Bin ich aber länger als drei Tage dort, werde ich bestimmt rückfällig. Ich setzte mich ins Auto und fahre nach Flossenbürg. Dabei genieße ich durchaus die Schönheit der Oberpfälzer Landschaft, vor allem die sanften Hügel und den Wald. Manchmal halte ich spontan an, steige aus meinem Wagen und betrachte die herrlich einsame Gegend. Ruhe und Stille, das sind die noch positiven Merkmale in der nördlichen Oberpfalz. Wenn ich den Ort Flossenbürg selber erreicht habe, dann bekomme ich ein Gefühl idyllischer Geborgenheit. Nichts deutet darauf hin, dass in unmittelbarer Nähe Menschen unter unvorstellbaren Bedingungen eingesperrt waren und Tausende von ihnen umgebracht wurden. Nähere ich mich dem Ortsende, wo ein Schild mit der Aufschrift "Zur KZ-Gedenkstätte" angebracht ist, schlägt meine Stimmung um. Schon der Weg bis zum Autoparkplatz versetzt mich in eine eigenartige Erregung. Langsam schlendere ich zum Eingang. Im ehemaligen Kommandanturgebäude ist jetzt eine Video-Dokumentation zu sehen. Ein Häftling erzählt aus dem Lagerleben. Immer, wenn ich da vorbei komme, ist es mir so, als ob ich die Kommandos der SS-Leute hören könnte.

Mein Blick streift die Fenster und es kommt mir manchmal so vor, als ob für einen Moment ein Kopf mit der Uniformmütze der "SS" zu sehen sei, ganz deutlich, inklusive Totenkopf-Emblem. Automatisch gehe ich dann immer etwas schneller. Obwohl ich den Weg, bedingt durch meine vielen Besuche, gut kenne, bleibe ich an der Info-Tafel stehen.
Jedes Mal, wenn ich durch das schmiedeeiserne Eingangstor gehe, bin ich innerlich aufgewühlt.
Die ersten Gräber werden sichtbar, ich aber halte mich jetzt rechts, um den Rundgang anzutreten. Ich beginne immer mit der Besichtigung zur rechten Seite hin, ich weiß nicht warum, bin aber bei jedem meiner Besuche diesen Weg gegangen. Wer zum ersten Mal hier herkommt, glaubt sich in einem Park zu befinden. Erst wenn die noch erhaltene Wachtürme zu sehen sind, bekommt der "Erstbesucher" den Eindruck, sich in einer KZ-Gedenkstätte zu befinden. Doch die Wachtürme sehen eher friedlich aus. Nur wenn man sich vorstellt, dass auf diesen Türmen Uniformierte mit Maschinenpistole standen, ist das Bedrohliche wieder da.
Ich frage mich dann immer, was waren das für Leute, die schwer bewaffnet auf diesen Türmen Wache hielten? Wache wofür? Ihre Aufgabe bestand einzig und allein darin, sofort und ohne Warnung zu schießen, sollte eine dieser halbverhungerten, armen Kreaturen versuchen zu fliehen. Jeder von ihnen wusste doch, dass er zu einem "Dienst" eingeteilt war, der von ihm verlangte, wehrlose Menschen zu töten. Ich versuche dann zu verstehen, wie die Wachleute mit ihrem Gewissen umgingen. Hofften vielleicht einige von ihnen, nicht in die Situation zu kommen, dass sie schießen müssen? Oder war es ihnen egal und sie redeten sich ein, ihre Pflicht zu tun? Wie waren diese Leute privat, wenn sie zu Hause bei ihren Eltern oder bei Frau und Kindern Urlaub machten? All diese Fragen gehen mir durch den Kopf, wenn ich an den Massengräbern vorbei gehe. Immer noch in Gedanken versunken, erreiche ich dann die Steinstufen, die zum Krematorium führen. Davor passiert man einen "Jüdischen Gedenkstein".

Selbst bei Sonnenschein kommt mir dieser Ort äußerst düster vor. Öffnet man die Eingangstür, blickt man direkt in die geöffnete Tür des ehemaligen Verbrennungsofens. Ein schauerlicher Anblick! Die gewölbte Metallmulde mit den zwei Griffen, auf die die Leichen bzw. Leichenteile gelegt wurden, um dann in dem Ofen verbrannt zu werden - sie sind unübersehbar. Immer aufs Neue erfüllt mich ein Schaudern, wenn ich mich weiter in diesen Räumen umsehe. Gehe ich zur linken Hand in den angrenzenden Raum, fällt zunächst mein Blick auf einen Hängeschrank mit Glasscheibe, der mit Schuhen gefüllt ist - mit Kinderschuhen! Das dokumentiert, dass auch Kinder in diesem Lager umgekommen sind. Mache ich nur einige Schritte, stehe ich im ehemaligen Sezierraum. An der Wand gibt es einige Tafeln und künstliche Blumensträuße von Überlebenden, die ihrer toten Kameraden und Leidensgenossen gedenken. Am Seziertisch bleibe ich stehen. Ich starre auf den kalten, grauen Granitstein, aus dem dieser hergestellt war. Ob ich es will oder nicht, - ich schaue wie gebannt auf das Abflussloch am unteren Ende vom Tisch. Wie viel Blut ist da schon durchgeflossen? Ich will es gar nicht wissen! Irgend etwas in mir drängt mich, die Räumlichkeiten zu verlassen. Draußen an der frischen Luft atme ich erst einmal tief durch, alles in mir ist in Aufruhr. Ich warte immer einige Minuten und gehe dann den schmalen Weg hinunter, wo sich die Hinrichtungsstätte und der Aschehügel befindet. Diesen Bereich nennt man: "Das Tal des Todes!" Der Aschehügel ist ein großes Massengrab, wo nach der Befreiung des Lagers die Gebeine der Ermordeten und die Asche der verbrannten Leichen eine würdige Ruhestätte fanden. Im Frühjahr und Sommer sieht dieses Gelände fast friedlich aus. Die grünen Grasflächen und die Bäume mit ihren saftigen Blättern laden zum Verweilen ein. Ich stelle mir vor, wie viele Tote hier wohl ruhen, unter diesem mächtigen Hügel? Es geht über meine Vorstellungskraft, denn jeder Mensch, der in diesem Lager umgekommen ist, war ein Schicksal für sich.

Langsam gehe ich weiter. Ich komme an den "Steinplatten" vorbei, die die Nationalität der Opfer dokumentieren. In den Granit sind die Staatszugehörigkeit, die Landes-Flagge sowie die Anzahl der Toten eingemeißelt. Wenn ich die Zahlen lese, kommen immer die gleichen Gedanken in mir hoch: Wie und warum konnte so etwas überhaupt passieren? Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an? Ich kann machen, was ich will. Ich finde keine Erklärung! Es ist schon schwer und schrecklich genug sich vorzustellen, dass sich Menschen im Krieg gegenseitig umbringen. Aber diese Gräueltaten in den Konzentrationslagern, verübt an wehrlosen Menschen, sind für mich ein Abgrund, der mit Worten nicht aufzufüllen ist.
Mein Wissen über diese Lager habe ich nicht nur aus Büchern, von Zeitzeugen und aus anderen Dokumenten - ich habe sie aus erster Hand, denn mein eigener Vater war von 1939 bis 1944 als politischer Häftling im KZ-Lager Sachsenhausen mehr als vier Jahre inhaftiert.

Im Innern der Kapelle sind Urnen mit Heimaterde aufgestellt. Mosaikglasfenster mit nationalen Symbolen und Zahlen der umgekommenen Häftlinge wurden angebracht. Vorne über dem Altar sieht man die Kreuzigungsgruppe, die eine Beziehung zwischen dem Tod Christi und der Folter der KZ-Häftlinge herstellt.
Die Todeszahl der Häftlinge im Lager und den Außenlagern von Flossenbürg wird in der Kapelle mit 73.296 angegeben. Diese Zahl wird von Forschern als zu hoch eingeschätzt. Diese kamen nach intensiver Nachforschung auf 30.000 Tote! Ich persönlich meine, dass keine genaue Zahl, auch nicht durch wissenschaftliche Methoden, zu ermitteln ist. Zu viele Außenlager und Nebenstellen gehörten zum Lager Flossenbürg, was die Festlegung einer exakten Todeszahl sehr schwierig macht.

Ob 70.000 oder 30.000, jedes einzelne Opfer war eines zuviel!

Ich verlasse die Kapelle und begebe mich wieder auf den Weg in Richtung Ausgang. Vorbei an den Gräberfeldern, die einem bis zum Ausgang begegnen. Endlich erreiche ich ihn. Lange brauche ich, bis meine Gedanken und Empfindungen wieder einigermaßen in Ordnung sind. Langsam, fast bedächtig gehe ich zum Parkplatz. Bevor ich in mein Auto steige, geht mein Blick noch mal zurück. Ich hatte heute absichtlich nicht das Dokumentations-Gebäude aufgesucht. Da ich dieses schon oft gesehen habe, verzichtete ich heute. Auf dem Gebiet, wo sich derzeit die Dokumentation befindet, war früher das Lagergefängnis und der Exekutionsplatz. Im "Lagergefängnis" waren Sonderhäftlinge interniert, unter anderem auch aus dem militärischen Widerstand. Wer zum ersten Mal die Gedenkstätte besucht, sollte sich unbedingt das Dokumentationszentrum anschauen.
Ich aber fahre nun in den Ort selber, wo sich der Ehrenfriedhof befindet. Auf diesem Friedhof wurden 1945 diejenigen Häftlinge beigesetzt, die nach der Befeiung an den Folgen der Haft gestorben waren. Etwa 150 Grabplatten sind hier zu finden. 5000 Tote, bedingt durch die berüchtigten Todesmärsche und die Auflösung der unzähligen Massengräber und Einzelgräber, wurden zentral in Flossenbürg bestattet. Nun will ich aber die Heimfahrt antreten, für heute habe ich von all dem Elend genug.

Für die Rückfahrt wähle ich eine andere Route als für die Hinfahrt. Diese führt durch eine wunderschöne Waldlandschaft. Unmittelbar am Ortsausgang biege ich links ab in Richtung der Orte Neuenhammer über Waldkirch. Im Frühjahr und Sommer fahre ich immer diese Strecke. Fichten- und Kieferwald wechseln sich mit Laubbäumen ab. Ich bin schon einige Kilometer unterwegs, als der Wald immer wieder größere Lücken lässt und einen herrlichen Blick auf endlose Wiesen freigibt. Sie sehen aus wie riesige Teppiche. Man fährt lange, ohne auf eine Ortschaft zu treffen, ja nicht einmal ein Bauernhof ist zu sehen. Erst wenn man sich der Ansiedlung Waldkirch nähert, sieht man auch einige stattliche Häuser. Unzählige Male bin ich schon diese Strecke gefahren, aber immer wieder fasziniert mich diese Landschaft. Ich komme an einem Wanderparkplatz vorbei und halte an. Ich gehe ein Stück auf einem schmalen Weg in den Wald hinein. Immer wenn der Ostwind (der "Böhmische") etwas auflebt, höre ich das Rauschen der Baumwipfel. Ich bleibe dann stehen und lausche. Diese eigenartigen Geräusche beruhigen meine Seele. Mein Innerstes ist immer noch durch den Besuch der KZ-Gedenkstätte aufgewühlt. Legt sich dann der Wind, herrscht wieder die Stille vor, nur unterbrochen von zwitschernden Vögeln - was für ein wunderbares Konzert! Ich erinnere mich dann an die Zeit, wo mich meine Mutter begleitet hat. Oft war sie dabei, wenn ich durch die nördliche Oberpfalz Tagesausflüge unternahm. Sie liebte ebenso wie ich diese Stimmung, die der Wald auf mich ausübte. Manchmal blieben wir lange stehen und hörten den Vögeln und dem geheimnisvollen Geräuschen des Waldes zu. In solchen Augenblicken erfuhr ich von meiner Mutter Dinge, die sie sonst nicht erzählen würde. Es waren Episoden aus ihrer Kindheit, die sie mir mit einem eigenartigen Glanz in ihren Augen erzählte. Selbst wenn wir wieder im Auto saßen und uns bereits auf der Heimfahrt befanden, erzählte sie weiter: Wie sie mit mir und meinen Geschwistern in "Schworzba" (Oberpfälzer Mundart: Blaubeeren) gegangen ist - und plötzlich konnte ich mich nicht nur an den Blaubeerkuchen (Schworzbakouchn) erinnern, ich roch diesen satten Duft des frisch gebackenen Kuchen förmlich.
Nun waren meine Gedanken völlig durcheinander. Die Erlebnisse in der KZ-Gedenkstätte und die Erinnerungen an meine Mutter waren einfach zuviel. Ich ging zum Waldparkplatz zurück und setzte mich auf die Holzbank, die direkt neben einem größeren Baum vom Oberpfälzer-Waldverein errichtet wurde. Von dieser Bank aus konnte man die Straße und eine kleine Lichtung einsehen. Es war schon später Nachmittag, außer einem Auto, beziehungsweise Motorrad, die vereinzelt und in großen Abständen vorbeifuhren, herrschte eine angenehme Stille. Auf dieser Bank habe ich oft mit meiner Mutter gesessen. Manchmal auch mit meiner Frau oder eines meiner Geschwister. In den 60'ziger Jahren war es selbstverständlich, dass man innerhalb der Familie oder mit guten Freunden etwas unternahm. Nun, das ist schon ein paar Jahre her, jetzt geht jeder seine Wege, der Zusammenhalt lässt zu wünschen übrig. Wehmütig denke ich an diese Zeiten zurück. Ich war schon im Begriff zu gehen, als auf der kleinen Lichtung gegenüber drei Rehe aus dem Unterholz traten. Ich hatte Glück, der Wind stand günstig, die Tiere konnten mich nicht wittern. Lange sah ich ihnen beim Äsen zu und kam wieder einigermaßen zur Ruhe. Als ich dann ins Auto stieg, um weiter zu fahren, verschwanden die Tiere. Das Zuschlagen der Autotür musste sie verscheucht haben.

Ich fahre nun weiter nach Neuenhammer. Mein Ziel ist zunächst das Rosenquarzstädtchen Pleystein. Nachdem ich Neuenhammer hinter mir gelassen habe, geht es noch ein paar Kilometer auf der jetzt kurvenreicheren Strasse durch eine üppige Waldlandschaft. Dann ein gewohnter, aber immer wieder faszinierender Anblick: die Kreuzberg-Kirche. Das Wahrzeichen von Pleystein! Hoch oben steht sie, auf dem so genannten Schlossberg, mitten im Ort, auf wunderschönen Rosenquarzfelsen. Die erste Kreuzberg-Kirche geht in das Jahr 1814 zurück. Bei einer wütenden Feuersbrunst am 10. Juli 1901 brannte das Gotteshaus bis auf die Grundmauern ab. Im Mai 1908 wurde die im Barockstil neu errichtete Wallfahrtskirche eingeweiht. Der Augustinerorden übernahm die Wallfahrtsstätte. Er wirkte dort bis 1965. Nach dem Abgang der Augustiner übernahm das Kreuzbergkloster die Kongregation der Oblaten des Hl. Franz von Sales, bis zum heutigen Tag.

Von Pleystein fahre ich weiter in Richtung Vohenstrauß, wo sich an diesem Tag der Kreis schließt. Bei meiner Schwester Ingeborg, wo ich nach dem Tod meiner Eltern überwiegend die Oberpfalzbesuche verbringe, wird über meine Tageserlebnisse ausgiebig diskutiert. Bei solchen Anlässen werden auch alte Erinnerungen aufgefrischt und so manche Episode, die schon längst in Vergessenheit geraten ist, zum Besten gegeben. Auch dieses "Zusammensitzen", wie das bei uns genannt wird, sind für mich Stunden, die ich nicht missen möchte. Oft ist es schon weit nach Mitternacht, bis sich die Runde auflöst.

Im Januar/Februar 2003 Richard Bachmann.