Georgs siebzigster Geburtstag

Eine Erzählung von Richard Bachmann

Georg, Jahrgang 1933, hatte auf Drängen der Familie nun doch eingewilligt, seinen siebzigsten Geburtstag in einem größeren Rahmen zu feiern. Er hatte sich lange dagegen gesträubt! Er wollte mit Maria, seiner Ehefrau, für ein paar Tage verreisen und so nebenbei seinen Geburtstag feiern. Seine beiden Töchter Ilse und Hertha sowie sein Sohn Herbert waren entrüstet, dass er sich einfach so aus dem Staub mache, wie sie es formulierten. Sie waren der Meinung, Vaters "Siebzigster" muss mit allem Drum und Dran gefeiert werden, und zwar im erweiterten Kreis der Familie. Enkel, Schwiegersöhne und Töchter waren der gleichen Meinung. Also hatte Georg letztendlich doch zugestimmt.
Morgen war es dann so weit. In der Gaststätte "Zur Linde" war am Nachmittag die Kaffeetafel und auch das Abendessen bestellt. Georg saß mit seiner Frau beim Nachtessen und beide besprachen noch einmal alle Details, die ihnen für den morgigen Tag wichtig erschienen. Er konnte es trotzdem nicht lassen, zu bemerken, dass er sich nicht erinnern könne, dass sein Vater oder gar Großvater ihren siebzigsten Geburtstag gefeiert hätten. Er konnte sich noch gut an Großvaters Worte erinnern: "Eine Geburtstagsfeier ist Blödsinn!" Er, der Großvater, war nämlich felsenfest davon überzeugt, dass einige nur zur Feier kamen, um sich auf Kosten des Jubilars den Bauch voll zu schlagen. In einer Gaststätte zu feiern war damals sowieso nicht üblich. Maria machte eine abwertende Handbewegung, als sie sagte: "Damals kannst du nicht mit heute vergleichen." Georg aber ließ nicht locker: "Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater, geschweige denn Großvater irgendeinen Geburtstag gefeiert hätten!" Er erklärte seiner Frau beharrlich weiter, dass die jetzige Bundesregierung nichts Gutes mit den Rentnern und Pensionären vorhabe. Die neue Gesundheits-, Kranken- und Rentenreform sei sozial unausgewogen. Es fehle eine solidarische Belastung der hohen und höchsten Renteneinkommen, die Sozis hätten ihre eigenen Ursprünge vergessen. "Dieser Geburtstag kostet uns eine schöne Stange Geld," schimpfte Georg weiter, "das sollten wir uns lieber sparen!" "Gib endlich Ruhe, jetzt hilft deine Schimpferei eh nichts mehr!" Maria erhob sich, um den Tisch abzuräumen und Georg musste sich damit abfinden, dass morgen sein "Siebzigster" gefeiert wird.

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Dann war er da, der 6. August, ein Mittwoch mit herrlichem Wetter und sogar Georg schien guter Laune zu sein. Schon am frühen Morgen kamen Gratulanten ins Haus. Der Musikverein, in dem er aktives Mitglied war, spielte vor dem Haus ein Ständchen. Maria sorgte anschließend dafür, dass jeder Musiker, es waren deren 23 mit dem Dirigenten, einen Schnaps bekamen. Durch die schmissige Blasmusik aufmerksam gemacht, wusste nun die ganze Straße, dass Georg ein Fest zu feiern hatte. Die Zahl der Gratulanten wollte kein Ende nehmen. Georg, der außer einem Schulter-Arm-Syndrom und kleineren Rheumaattacken noch einigermaßen fit war, merkte bereits jetzt, noch vor der eigentlichen Feier, dass dies gewiss kein leichter Tag für ihn werden würde.
Als Georg im Gasthof "Zur Linde" ankam, war das Nebenzimmer, in dem die Feier stattfinden sollte, bereits gut gefüllt. Die Tische waren u-förmig aufgestellt und die beiden Töchter Ilse und Hertha hatten für die Sitzordnung gesorgt. Ilse führte ihren Vater an seinen Platz, wo schon seine Frau und sein bester Freund, der 80-jährige Otto, Platz genommen hatten. In seiner näheren Umgebung saßen der Sohn, die Töchter mit ihren Ehepartnern und die Enkel. Otto, mit dem Georg schon viele Jahre befreundet war, überreichte ihm ein Geschenk mit den Worten: "Ich hoffe, dir damit eine kleine Freude zu bereiten!" Georg wusste natürlich schon seit geraumer Zeit, was sich in dem fein säuberlich eingepackten Geschenkkarton befand. Es war ein Buch mit dem vielsagenden Titel: "Fit bis ins hohe Alter." Otto war übrigens Eisenbahner mit Leib und Seele. Obwohl schon lange in Rente, beziehungsweise Pension, war "seine" Eisenbahn immer noch sein Lebensinhalt. Warum Georg vom Inhalt des Geschenks wusste, war ganz einfach. Otto war schon seit Wochen unterwegs, um zu erfragen, wo man das Buch bekommen könne. So war es ein Leichtes, den Inhalt des Geschenks zu erraten.
Als die Kaffeezeit vorbei war, bildeten sich einige Gesprächsgruppen an den Tischen. In unmittelbarer Nähe von Georg hatten sich seine Schwiegersöhne mit ein paar jungen Leuten zu einem Gespräch zusammengesetzt. Man tat sich keinen Zwang an und Georg konnte ohne Anstrengung der Unterhaltung folgen. Ilses Mann, von Beruf Lebensmittel-Chemiker, führte gerade das Wort. Sie hatten ihren Sommerurlaub in der Karibik verbracht. Sein Hobby war das Tauchen und so mussten sich seine Zuhörer die präzisen Schilderungen seiner waghalsigen Tauchgänge anhören. Herthas Ehemann war Verwaltungsbeamter im gehobenen Dienst. Wenn man ihn reden hörte, war er der Einzige, der schwer arbeiten musste. Doch nicht die Arbeit an sich, so wiederholte er gebetsmühlenhaft, sondern die Verantwortung sei belastend und lasse ihn nicht zur Ruhe kommen. - Er sei vier Wochen in Mexiko gewesen. Als die Urlaubserlebnisse bis ins kleinste Detail abgehandelt waren, kam die aktuelle Tagespolitik an die Reihe. Georg hörte wie einer der Jüngeren sagte, wenn nicht bald die "Alten" zur Sanierung der Renten herangezogen würden, bliebe für seine Generation wohl nichts mehr übrig! Ilses Mann - der Taucher - pflichtete ihm bei und setzte noch einen drauf: "Meine Alten sind schon wieder für zwei Wochen in Bad-Füssing gewesen, dabei waren sie im vorigen Jahr erst 14 Tage auf Mallorca!" Der Jüngere fragte: "Was machen sie denn um Gotteswillen in Bad-Füssing?" Mein "Alter" denkt, wenn er eine Kur und medizinische Anwendungen machen lässt, kann er wieder besser laufen," antwortete Ilses Mann.
"Wie alt ist er denn?", fragte sein Gegenüber. "72 Jahre ist er und er weiß genau, dass die ganze Sache nichts nützt." "Da haben wir ja den besten Beweis," kommentierte der Jüngere, "da können die Krankenkassen ja kein Geld mehr haben!" Georg wäre am liebsten aufgestanden und hätte sich in das Gespräch eingemischt. Wuste er doch, wie schlecht es dem Vater seines Schwiegersohnes ging. Der war über vierzig Jahre in seinem Beruf als Straßenpflasterer tätig und seine Knie waren dementsprechend kaputt. Otto zupfte ihm am Ärmel und bat ihn, sitzen zu bleiben. Unwillkürlich musste Georg an seinen Großvater denken. Wie hatte er doch immer gesagt? "Da kommen Leute, die sich einfach auf deine Kosten den Bauch voll schlagen!" Endlich unterbrach der Nachbartisch seine Unterhaltung, und aus welchem Grund wohl? - Das Essen wurde serviert! Maria kümmerte sich um alles und um jeden, sie wollte, dass Georg eine schöne Feier bekam. Dieser war sehr schweigsam geworden, obwohl das Essen sehr gut war, wollte es ihm nicht so richtig schmecken.
Erst als die "Drei-Mann-Kapelle" zu spielen anfing, schien Georg wieder etwas in Stimmung zu kommen. Otto war zwar zehn Jahre älter als Georg, trotzdem tanzte er noch gerne, nur wenn ein schnelles Stück gespielt wurde, musste er passen. Sein Asthma und Hüftleiden ließ es nicht zu, derlei Tänze zu riskieren. Ilse und Hertha forderten ihren Vater zum Tanzen auf, wobei sie ihm klar machten, dass er heute die wichtigste Person sei. Nach einiger Zeit jedoch berief er sich auf sein Alter und wehrte somit weitere Tanzaufforderungen ab. Die Enkel trugen zu Ehren des Großvaters jeder ein Gedicht vor und sein Sohn hielt eine zehnminütige Rede. In dieser Ansprache wurden Georgs Verdienste um die Familie hervorgehoben. Auch die großzügige Unterstützung, die er seinen Kinder während ihrer Ausbildung zukommen ließ, wurde lobend erwähnt. Überhaupt gab es an diesem Abend noch viel Lob für Georg, dem dies aber gar nicht recht war, wusste er doch nur zu gut, wie schwer die Zeiten damals waren, als er und seine Maria geheiratet hatten. Sie hatten jung geheiratet, er erinnerte sich noch genau daran, was für eine schlichte Hochzeitsfeier es 1956 für sie gegeben hatte. Da war sein siebzigster Geburtstag heute ein wahrer Luxus dagegen.
Maria war gegenwärtig nicht oft an seiner Seite, sie kümmerte sich, dass alles nach Plan ablief. So musste das "Geburtstagskind" mit seinem Freund Otto vorlieb nehmen, was er auch sehr gerne tat. Sie plauderten über dies und jenes, aber vor allem über die Zeit, wo es in der Familie noch selbstverständlich war, dass Alt und Jung zusammenlebten. Mittlerweile hatte sich die gleiche Runde am Nebentisch wieder eingefunden. Gestärkt von dem vorzüglichen Essen und einigen Gläsern Wein, hatte man gleich den Faden der vorangegangenen Unterhaltung wieder gefunden. Einer der Jüngeren am Tisch fragte, wo dieses Jahr der Skiurlaub verbracht werden sollte. Was ihn betraf, er würde seinen in Kanada verbringen. Georgs Sohn Herbert, von Beruf Abteilungsleiter in einem mittleren Kaufhaus für Textilien, hatte noch keine konkreten Pläne, was den Winterurlaub anbetraf. Er werde die Flaute in der Firma nach den Weihnachtsfeiertagen nutzen, um 10 oder 12 Tage zum Skilaufen zu fahren. Dann wurde ausgiebig über die zu hohen Hotel- und Skiliftpreise geschimpft, die bald nicht mehr zu bezahlen seien. Ilse und ihr "Tauchgänger" hielten nichts von einem Skiurlaub, sie wollten ein paar Tage auf den Kanarischen Inseln verbringen, wenn diese auch nicht mit den Malediven zu vergleichen waren, aber tauchen könnte man da auch. Natürlich blieb das Thema Politik nicht aus. Einer fragte, was sie denn von dem Vorschlag hielten, den ein Politiker vor einigen Tagen gemacht habe, nämlich alten Menschen über achtzig Jahre nicht mehr die volle medizinische Leistungen zu gewähren.
Grundsätzlich, meinte Ilses Ehemann, hat dieser wohl Recht, nur hätte er eine behutsamere Formulierung wählen müssen. "Ich bin der Meinung," meldete sich der, der seinen Winterurlaub in Kanada verbringen will, "dass man diesen Leuten keine neuen Hüftgelenke mehr einsetzt!" Bis auf Herbert pflichteten ihm alle bei! Dieser meldete Bedenken an, was die Altersgrenze anbelangt. Man könne einen rüstigen und relativ gesunden Achtzigjährigen nicht zumuten, dass dieser seine noch verbleibende Lebenszeit mit Krücken herumlaufen müsse. Die Ärzte müssten eben von Fall zu Fall entscheiden, ob es sich noch lohnt zu operieren, war Herberts Meinung.

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Georg, der das Gespräch, ob er es nun wollte oder nicht, mit anhören musste, war schockiert. Da saßen Leute, die ihm zum Teil sogar nahe standen und unterhielten sich über Menschen wie eine auslaufende Ware, die, sollte sie nicht die Qualitätsprüfung bestehen, einfach aus dem Sortiment genommen wird. Inzwischen hatte sich Ilses Schwiegervater von Georg verabschiedet. Er schien von dem Gespräch am Tisch der jungen Leute nichts mitbekommen zu haben. Georg konnte dies nur Recht sein, denn etwas Schlimmeres hätte dem ehemaligen Straßenbauarbeiter nicht passieren können, als zu erfahren, was der eigene Sohn von der älteren Generation hielt. Endlich wechselten die Jungen Leute das Thema und fingen an, Witze zu erzählen. Sie bestellten sich noch eine Flasche "Spätlese," obwohl einige Flaschen hervorragender Wein im Kühler auf dem Tisch standen. Nun ja, das Beste ist gerade gut genug, wenn man es selber nicht bezahlen muss.

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Otto und Georg hatten nun wieder etwas Zeit, um sich ein bisschen aus ihrer eigenen Jugendzeit zu erzählen. "Man könnte schon etwas neidisch werden, wenn man die jungen Leute heute so reden hört," wandte sich Otto an seinen Freund, "so richtig Urlaub gemacht habe ich eigentlich nie!" "Ja mein Lieber," antwortete Georg, "wir hatten damals andere Sorgen, als auch nur im Entferntesten an Urlaub zu denken!" Dann hatte jeder von den beiden so einiges zu erzählen, wie es in den fünfziger und anfangs der sechziger Jahre war. Die 48-Stundenwoche war schon eine Erleichterung, hatte man doch auch schon 52 Stunden und länger gearbeitet. Die Arbeitsbedingungen waren in dieser Zeit auch nicht gerade gut. Veraltetes Werkzeug und fast keine Erleichterungen durch moderne Technik machten die Arbeit oft zur Schinderei. Ein Stundenlohn unter achtzig Pfennig war keine Seltenheit. Die Karenztage im Krankheitsfall, 1957 immerhin noch drei Tage, (weder Krankengeld noch Lohnfortzahlung), vorher sogar noch mehr, schmälerten oft bedenklich den spärlichen Wochenlohn. Zwei Wochen im Kalenderjahr war für viele das Maximum, was es an Urlaub gab. "Die Urlaubstage," führte Georg weiter aus "nutzte ich, um liegengebliebene Arbeiten, wie zum Beispiel Maler- und Tapezierarbeiten in der Wohnung durchzuführen." "Zum Holzmachen für die oft strengen Winter waren die Urlaubstage bestens geeignet," meinte Otto und lachte. " Nie hätte ich in jener Zeit daran gedacht, mal 6 Wochen Urlaub zu bekommen. "Lassen wir dass, es ist Schnee von Gestern, lass uns noch ein kühles Bier zusammen trinken!" Georg gab gerade die Bestellung auf, als sich seine Frau Maria zu ihnen setzte. "Habt ihr Zwei jetzt genug geschimpft?" Fragte sie und spielte damit auf die vorangegangene Unterhaltung der Jüngeren am Nebentisch an. Otto versicherte, dass die Sache abgehackt sei, wie er sich auszudrücken pflegte und humpelte in Richtung zu den Toiletten davon. "Der läuft auch immer schlechter," stellte Maria fest, fügte aber gleich hinzu, dass die Ursache wohl berufsbedingt sei. Otto war nämlich lange als Rangierarbeiter bei der Eisenbahn tätig gewesen. Georg konnte es sich nicht verkneifen zu sagen: "Otto sollte sich so schnell wie möglich neue Hüftgelenke einsetzen lassen, bevor dies für Achtzigjährige nicht mehr gemacht wird." "Fang nicht schon wieder an," sagte Maria erbost, "ich kann deine Lästerei schon nicht mehr hören. "Ja, ja," antwortete Georg, "ist schon gut, immer schön den Mund halten, dann hat man keine Probleme."

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Die Musik schickte sich an, ihr letztes Stück zu spielen und irgendwie war Georg froh, dass dieser Geburtstag sich dem Ende näherte. Die Töchter samt Enkel und der Sohn kamen zu ihm an den Tisch und versicherten ihm, so einen schönen Tag schon lange nicht mehr erlebt zu haben. Sogar die jungen Leute kamen, um, wie sie einstimmig versicherten, sich für diesen tollen Abend zu bedanken. Da einige von ihnen schon ziemlich alkoholisiert waren, wirkten die Dankesbekundungen irgendwie komisch. Höflich bedankte sich Georg für ihr Kommen, was ihm nicht leichtfiel.
Langsam leerte sich der Raum und als Maria die letzten Gäste verabschiedet hatte und die Musikkapelle bezahlte, bestellte Georg zum Leidwesen seiner Frau noch einmal zwei Bier. Otto schmerzten die Beine und war daher froh, sich noch mal setzen zu können. Als Otto nach einem kräftigen Schluck aus seinem Glas dem Freund versicherte, dass die Geburtstagsfeier großartig war, wurde Georg fast wütend. "Fang nicht du auch noch an zu lügen. Wenn ich noch einmal zurückkönnte, - nochmals würde ich meinen Siebzigsten in diesem Rahmen nicht feiern!" Er nahm sein Glas, leerte es mit einem Zug und forderte seinen Freund auf, mit ihm zu gehen. "Komm, du alter Knabe, lass uns nach Hause gehen," meinte Georg, "ich war froh, dass du da warst und das meine ich ehrlich!" Otto drückte ihm die Hand, dieser Händedruck sagte Georg mehr, als die vielen, die er am heutigen Tag in Empfang nehmen musste.

Im August 2003 Richard Bachmann