Zwischen Weiden und Eslarn

Geschichten aus der nördlichen Oberpfalz

Von Richard Bachmann

Vorwort

Die folgenden Geschichten sind zum größten Teil von mir erfunden. Doch manche haben auch einen wahren Hintergrund und berufen sich auf Erzählungen meiner Eltern, Großeltern und anderer Personen. Diese Geschichten versuche ich genau so wiederzugeben, wie ich sie noch in meiner Erinnerung habe.
Der nördliche Teil der Oberpfalz fügt sich fast nahtlos in die Ausläufer des Böhmerwalds ein. So spielen viele meiner Geschichten auch im sogenannten „Grenzwald“. (Siehe mein 2006 erschienenes Buch: „Geschichten aus dem Grenzwald“.) Nicht nur geografisch, sondern auch geschichtlich ist der nordöstliche Teil der Oberpfalz mit Westböhmen eng verbunden. Die Mentalität in dieser Grenzregion ist nicht überall gleich, in den Grundzügen jedoch sehr ähnlich. Und vielleicht gerade deshalb – eben weil sie sich sehr ähnlich sind – nehmen sich die „Bäijm“ (die Böhmischen) und „Stoipfalzbüffel“ (Steinpfalzbüffel, Oberpfälzer) gerne gegenseitig auf den Arm. Denn niemand streitet bekanntlich mit mehr Eifer als Verwandte.

Der nördliche Teil des Oberpfälzer Waldes ist, genau wie Westböhmen, ebenfalls ein Eldorado für Geschichten und Sagen. Das liegt wahrscheinlich an der inspirierenden Landschaft mit ihren waldbedeckten Bergen, den vielen Fischweihern und nicht zuletzt den Burgen aus dem Mittelalter. Sie liefern schon seit Jahrhunderten reichlich Stoff zum Erzählen.

Einige Namen von Personen und Ortschaften sind von mir frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Vorkommnissen wären also höchst zufällig. Doch vollkommen auszuschließen sind eventuelle Ähnlichkeiten nicht: Denn auch die erfundenen Geschichten sind nach Themen und Motiven geformt, wie sie in den wirklichen Erzählungen immer wieder vorkommen.

Stuttgart im Juli 2006
Der Autor.
Richard Bachmann

Das blaue Kopftuch

Die folgende Geschichte hat sich Anfang der Fünfzigerjahre zugetragen. Robert Braun (Name geändert) und Hans Wahlberg (Name geändert) wohnten damals in Altenstadt bei Vohenstrauß in der Stanzenbachstraße. Die beiden waren gut befreundet und unternahmen des Öfteren etwas zusammen.

Robert Braun hatte vor wenigen Monaten eine Lehre als Hohlglasmacher erfolgreich abgeschlossen. Hans Wahlberg hatte ebenfalls seine Maurerlehre beendet und so waren endlich einige Mark mehr in der Lohntüte. Robert hatte sich sogar eine „NSU-Quickly" zugelegt. Damals war ein Moped noch eine äußerst teuere Anschaffung. Er musste dafür einige Monate Schulden abbezahlen. Für eine Barzahlung hätte Robert viel zu lange sparen müssen. Wie junge Menschen nun einmal sind, wollte er das so begehrte Fahrzeug schnellstens erwerben. Denn wer eine „Quickly“ besaß, der war schon wer. Vor allem konnte man den Mädchen damit ungeheuer imponieren.
In der Stanzenbachstraße hatte noch keiner so ein tolles Zweirad. Auf dem Gepäckträger konnte man mehr schlecht als recht eine zweite Person mitnehmen. Obwohl dies polizeilich untersagt war, hielt sich kaum jemand an derlei Verbote.

Der Zusammenhalt in der Stanzenbachstraße war zur damaligen Zeit mehr als gut. Man traf sich beim Nachbarn oder bei Freunden, ohne sich vorher großartig anzumelden. Heutzutage kaum denkbar. Obwohl selten jemand mit Reichtümern gesegnet war, wurde das Wenige, was man hatte, mit anderen bereitwillig geteilt. Bei der Familie Stein (Name geändert) traf man sich sehr oft. Robert Braun wohnte im Nachbarhaus und Hans Wahlberg ein Stockwerk über den Steins. Frau Stein musste ihre Familie schon sehr lange alleine versorgen. Ihr Mann war sehr jung verstorben. Die siebzehnjährige Tochter Gerlinde war der Mutter eine große Hilfe. Die beiden Söhne Hans und Manfred arbeiteten in der nahe gelegenen Porzellanfabrik. Frau Stein war eine hervorragende Erzählerin. Ihr Einfallsreichtum und ihr Vorrat an Geschichten schienen unerschöpflich. Allein dieser Umstand genügte, um sich dort zu treffen.

An einem regnerischen Novembertag schauten Robert Braun und Hans Wahlberg wieder einmal bei den Steins vorbei. Das miese Herbstwetter musste Frau Stein wohl animiert haben, denn kaum hatten die beiden auf dem Sofa Platz genommen, begann sie ohne Aufforderung sofort zu erzählen.

Dass ich im schönen Egerland geboren bin, wisst ihr ja alle. Wintersgrün im Landkreis Ellbogen ist mein Geburtsort. Es war im Herbst 1941, als ich bei einem Sitzweilabend (so nannte man eine Zusammenkunft beim Nachbarn) eine Geschichte hörte, die ich bis heute wortwörtlich im Gedächtnis habe. Georg Winter, ein schon etwas betagter Herr, gab sie zum Besten. Eine Tante mütterlicherseits, so erzählte Herr Winter, war felsenfest davon überzeugt, dass die Seelen unserer verstorbenen Mitmenschen hin und wieder unter uns weilen. Auch würden diese uns Zeichen geben, die nicht zu widerlegen seien. Anfangs stand Georg Winter solchen Dingen äußerst skeptisch gegenüber. Ganz besonders, was die Geschichten seiner Tante anbetraf.
Eines Tages kam es zum offenen Konflikt: Besagte Tante ließ nicht den geringsten Zweifel daran: Sollte sie – was wegen des Altersunterschieds wahrscheinlich war – vor ihrem Neffen sterben, würde sie ihm ein Zeichen aus dem Jenseits schicken. Sie werde ihm beweisen, dass die Seele unsterblich sei und der Mensch die Sünde fürchten solle. Georg nahm derlei Gerede wieder einmal nicht Ernst. „Du wirst dazu nicht mehr in der Lage sein, meine liebe Tante!“, sagte Georg und ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Die Bemerkung Georgs brachte die Tante keineswegs aus der Fassung. „Dieses Lied haben schon viele Vögel gepfiffen“, meinte sie. Sie kenne aber eine Anzahl von Menschen, die ihren Lebenswandel nach einem Zeichen aus dem Jenseits drastisch umgestellt hätten.
Ein Jahr später war die Tante tatsächlich gestorben.
Da keine Sitzgelegenheit vorhanden war, lehnte er sich an die Bretterwand. Er sah zum großen schmiedeeisernen Eingangstor hinüber, durch das man in den Friedhof gelangte. Unwillkürlich musste er an seine Tante denken, die erst kürzlich dort beerdigt worden war. Wie hatte sie immer zu ihm gesagt: „Ich werde dir ein Zeichen geben, wenn ich vor dir sterbe!“ Georg lächelte wehmütig und sagte laut in Richtung Friedhof: „Bis jetzt hast du aber noch nichts von dir hören lassen!“ Seine Worte waren kaum verhallt, da hörte es plötzlich zu regnen auf. Als hätte jemand schlagartig einen Wasserhahn zugedreht. Das war dem Georg recht. Er konnte jetzt endlich seinen Weg fortsetzen.
Nach etwa 20 Minuten kam er zu seiner Wohnung und er freute sich schon auf sein Bett. Zuhause angekommen, legte er Mantel und Jacke im Flur ab und begab sich sofort in die Küche. Die zwei Flaschen Bier beim Arbeitskollegen und der Fußmarsch hatten ihn hungrig gemacht. Er wollte noch einen kleinen Imbiss zu sich nehmen. Deshalb ließ er sich ein großes Stück Bauernbrot mit Butter schmecken.
Die Tür zum behaglich eingerichteten Wohnzimmer war halb geöffnet, was ihm erst jetzt auffiel. Diese Tür hielt er sonst immer geschlossen, damit der Essensgeruch nicht in die gute Stube dringen konnte. Als er die Türe kopfschüttelnd zumachen wollte, folgte sein Blick dem schmalen Lichtstrahl, der vom Flur in das Wohnzimmer fiel. Dabei sah er deutlich den Sessel mit der Leselampe, der in der Ecke des Raumes stand. Er zog die Tür zu und erstarrte plötzlich zu einem Eisblock. Er konnte sich unendlich lange nicht mehr bewegen und hatte immer noch die Türklinke in der Hand. Wieder schüttelte er den Kopf und öffnete mit einem Ruck erneut die Tür: Er wollte es einfach nicht glauben - aber über dem Sessel lag ein Kleidungsstück. Schnell machte er das Licht an. Es war ein Damenmantel, der da fein säuberlich über der Sessellehne lag. Plötzlich bekam er so weiche Knie, dass er sich am Türrahmen festhalten musste: Kein Zweifel - es war eindeutig der Mantel seiner verstorbenen Tante! Fieberhaft tasteten seine Augen das ganze Zimmer ab. Wieder und wieder. Da war absolut niemand! Mühsam löste er seine Hände vom Türrahmen und bekreuzigte sich. Er fasste all seinen Mut zusammen und fragte mit zittriger Stimme in das Wohnzimmer hinein: „Tante, bist du das?“ Ein sanft aufklatschendes Geräusch ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Unwillkürlich starrte er zum Wohnzimmertisch: Da stand plötzlich die Handtasche seiner Tante! Groß und weis, mit einem schönen Messingverschluss! Genau an der Stelle, wo sie immer von seiner Tante abgestellt worden war, wenn sie mal zu Besuch kam! Georg Winter schlug in voller Panik die Tür zu, taumelte in die Küche und zitterte vor Kälte wie ein Häufchen Elend. Er brauchte eine geschlagene Stunde, bis er imstande war, sich wieder zu bewegen.
Er setzte sich fassungslos auf einen Stuhl am Küchentisch. Wollte ihm da jemand einen Schabernack spielen? Er gab sich einen Ruck und öffnete erneut das Wohnzimmer, wo immer noch Licht brannte. Mantel und Tasche waren unverändert an ihrem Ort. Eine ganze Zeit lang wanderte sein Blick wie irre zwischen den Objekten hin und her. Nur mit Mühe konnte er seine Gedanken ordnen. Dann fasste er den Entschluss, Mantel und Tasche in den Keller zu tragen. Dort hatte er eine alte Kiste stehen. Er packte Mantel und Tasche in das Behältnis und verließ fluchtartig den Kellerraum. Noch lange lag er wach im Bett und versuchte, eine Erklärung für das unheimliche Erlebnis zu finden. Er konnte alles drehen und wenden, wie er wollte: Die Tante hatte sich aus dem Jenseits gemeldet, so wie sie es zu ihren Lebzeiten versprochen hatte.
Georg Winter schlief in dieser Nacht sehr schlecht, um nicht zu sagen überhaupt nicht. Schon am Morgen des nächsten Tages ging er nach dem Frühstück in den Keller. Die Kiste, wo viele seiner Erinnerungen an schöne Kindertage seit Jahrzehnten aufbewahrt wurden, zog ihn wie ein Magnet an. Vorsichtig öffnete er sie. Er zuckte zurück wie von einer Schlange gebissen: Die Tasche und der Mantel der Tante waren spurlos verschwunden!
Georg Winter durchsuchte daraufhin das ganze Haus. Die Gegenstände waren unauffindbar. Sonst aber fehlte nichts. Alles lag auf seinem gewohnten Platz. Von diesem Tag an war Georg Winter restlos davon überzeugt, dass ihm seine Tante wahrhaftig ein Zeichen aus dem Jenseits gesendet hatte.

Frau Stein lehnte sich bequem in ihren Sessel zurück. Sie strich sich mit der rechten Hand über ihr blaues Kopftuch, das faltenreich ihr nicht weniger faltiges Gesicht umgab. Ihre lebendigen listigen Äuglein sprangen umher und musterten scharf alle Reaktionen auf ihre Erzählung. Besonders Robert Braun und Hans Wahlberg konnten sich eines ungläubigen Lächelns kaum enthalten. Plötzlich fixierte sie die beiden und sagte: „Ich werde euch auch ein Zeichen aus dem Reich der Toten geben, wenn ich diese Erde einmal verlassen muss! Besonders dir, mein lieber Robert. Ich weiß, du fürchtest rein gar nichts. Also wirst du mein bester Zeuge sein.“

Robert lachte, als er der Frau Stein antwortete: „Hoffentlich vergisst du nicht, dein Versprechen auch einzulösen!“ – „Keine Sorge“, meinte die Alte, „dich vergesse ich ganz bestimmt nicht. Du gehörst zu denen, die da glauben, die Welt gehöre ihnen. Das sehe ich dir an der Nasenspitze an, wenn du auf deinem schönen Moped sitzt!“ – Sie hatte schon ihren Sessel verlassen und verschwand ohne ein weiteres Wort in der angrenzenden Küche.

Vier Monate später verstarb Frau Stein.

Die Söhne Hans und Manfred waren zwischenzeitlich nach Schweden ausgewandert. Tochter Gerlinde war nun alleine. Doch ihre Brüder ließen sie nicht im Stich. Nur wenige Wochen – nachdem die Formalitäten für eine Einwanderung erledigt waren – holten Hans und Manfred auch ihre Schwester nach Skandinavien. Robert Braun und Hans Wahlberg hatten gute Freunde verloren. Vor allem vermissten sie die „Hutscherabende“ (Zusammenkünfte oder Plauderstunden) bei der Familie Stein. Doch wie es im Leben so geht, riss der Kontakt zwischen den ehemaligen Freunden und Nachbarn alsbald ab. Nur bei gelegentlichen Zusammenkünften in der Nachbarschaft kam manchmal das Gespräch auf die Familie Stein. Alle bedauerten das Ableben der Frau Stein. Nicht viele konnten so schaurig-schöne Geschichten erzählen wie sie.

Wieder zogen ein paar Monate ins Land. Es war ein Samstag, als Robert spät in der Nacht mit seiner „NSU-Quickly“ heimkam. Er hatte in einer ca. sechs Kilometer entfernten Ortschaft eine Tanzveranstaltung besucht. Er war hundemüde, als er sein Fahrzeug vor dem Abstellhäuschen im Hof der Stanzenbachstraße zum Stehen brachte. Und er freute sich drauf, am Sonntag mal richtig auszuschlafen. Das Abstellgebäude wurde von allen Hausbewohnern benutzt. Handwagen, Fahrräder, Moped usw. wurden hier untergestellt. Jede Familie hatte sich einen Platz gesucht, der ohne irgendeine Einteilung seitens der Hausverwaltung von allen Mitbewohnern respektiert wurde. Robert öffnete die Tür, um sein Fahrzeug abzustellen. Er war schon im Begriff zu gehen, als sein Blick in die linke hintere Ecke des Raumes fiel. Dort hatte die Familie Stein ihren Platz gehabt, als sie noch in der Stanzenbachstraße wohnte. Unmittelbar daneben hatte Roberts Vater seinen selbst gebastelten Handwagen abgestellt. Robert bemerkte trotz der schlechten Sichtverhältnisse, dass auf Vaters Wagen etwas lag, was dort nicht hingehörte. Er ging zum Handwagen und sah nach, vielleicht hatte Vater seine Jacke vergessen. Doch was da lag, war keine Jacke, sonder ein blaues Kopftuch! Robert zuckte plötzlich zusammen. Das war nicht irgendein beliebiges Kopftuch, sondern das der schon vor vielen Monaten verstorbenen Frau Stein! Nur zu gut kannte er dieses Kleidungsstück! Frau Stein hatte es tagtäglich – auch in ihrer Wohnung, wenn sie ihre Geschichten erzählte – getragen. Wie kam das Kopftuch auf Vaters Handwagen? Robert wagte nicht, es in seine Hand zu nehmen.

Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn, ein Gefühl, das er noch nicht kannte. Das also musste die panische Angst vor Gespenstern sein! Eine Angst, die ihn bei Erzählungen zwar faszinierte, doch in der Realität noch nie eine Rolle gespielt hatte. Unwillkürlich musste Robert an jenen Abend denken, als Frau Stein zu ihm und Hans Wahlberg sagte: „Ich werde euch beiden ein Zeichen aus dem Reich der Toten geben, wenn ich diese Erde einmal verlassen muss!“ – War das blaue Kopftuch etwa dieses Zeichen? Robert, starr vor Angst und Schrecken, stierte unentwegt auf das vor ihm liegende Tuch. Fluchtartig begab er sich zur Tür und drückte diese fest ins Schloss, um das schrecklich Gesehene hinter sich zu lassen.

Mit dem Ausschlafen wurde es nichts. Robert lag die ganze Zeit hellwach im Bett. Das Gesicht der Frau Stein verfolgte ihn. „Du wirst mein bester Zeuge sein!“ Immer wieder hörte er auch deutlich ihre Stimme. Alles war so realistisch, dass er froh war, als der Tag anbrach. Mit dem Licht kam etwas Selbstbewusstsein zurück. Robert versuchte, klar zu denken. Dieses blaue Kopftuch gehörte ohne jeden Zweifel Frau Stein. Er wusste ganz genau, dass es noch nicht da war, als er das Moped aus dem Abstellraum geholt hatte, um zu der Tanzveranstaltung zu fahren. Es war auch schon einige Monate her, als Gerlinde Stein nach Schweden auswanderte. In all dieser Zeit hatte Robert viele Male sein Fahrzeug aus dem Abstellraum geholt und nie dieses Kopftuch gesehen. Es konnte also unmöglich schon eine längere Zeit im Abstellhäuschen gewesen sein. Und Vater war, was Ordnung und Sauberkeit in diesem Raum anging, äußerst penibel. Dass da einfach ein Kleidungsstück oder dergleichen herumliegt, wäre ihm nie und nimmer entgangen. Robert nahm sich vor, gleich nach dem Aufstehen noch mal nachzusehen.

Wieder ging er zum Abstellhäuschen. Jetzt, bei Tageslicht, fühlte er keinerlei Angst mehr. Vorsichtig öffnete er die Tür. Im Stillen hoffte er, sich gestern Nacht getäuscht zu haben. Doch nein, er hatte sich nicht getäuscht! Noch immer lag das blaue Kopftuch auf Vaters Handwagen. Er hatte keine Scheu mehr, das Kopftuch in die Hand zu nehmen und genau zu untersuchen. Das war absolut sicher Frau Steins Kopfbedeckung. Fast andächtig legte er es auf den Wagen zurück und verließ den Abstellraum. Robert Braun war weder abergläubisch, noch gehörte er zu der Sorte Menschen, die an überirdische Dinge glauben. Daher ging er allen Möglichkeiten nach, wie das Kopftuch auf Vaters Handwagen im Abstellraum hätte kommen können. Er befragte hartnäckig alle Hausbewohner, die den Abstellraum nutzten. Doch niemand habe, so wurde ihm bestätigt, ein Tuch gesehen, geschweige denn ein Tuch deponiert. Auch Hans Wahlberg fand keine Erklärung, wie das Kopftuch der schon fast seit einem Jahr toten Frau Stein ins Abstellhäuschen hätte kommen sollen. Die beiden Freunde hatten bei ihren Nachforschungen tunlichst verschwiegen, warum sie das alles so genau wissen wollten. Hätten sie den Befragten den wahren Grund genannt – dass womöglich Frau Stein ein Zeichen aus dem Jenseits gegeben hatte – so wäre ihnen Spott und Häme sicher gewesen. So wissen bis zum heutigen Tag nur einige Familienmitglieder über die Sache mit dem blauen Kopftuch Bescheid.

Dass dies ein Zeichen der verstorbenen Frau Stein aus dem Jenseits sei, haben alle ausnahmslos entschieden zurückgewiesen. Mysteriös ist nur: Zwei Tage später war das blaue Kopftuch verschwunden und niemand hat es jemals wieder gesehen.
Nun, auch heute noch hören alle mit großem Ernst zu, wenn Robert Braun im engeren Familienkreis sein Erlebnis mit bestem Wissen und Gewissen erzählt. Robert selber ist natürlich auch voller Zweifel. Ihm widerstrebt es bis heute, an derlei Dinge zu glauben. Aber wie kam Frau Steins Kopftuch in das Abstellhäuschen? Es wird wohl für immer ein unauflösbares Rätsel bleiben.