<h2>Die Totenanlegerin==

Erzählung von Richard Bachmann
Die Ortschaft Ruhdolfstein (Name geändert) liegt zwischen Vohenstrauß und Weiden. Eines jener Dörfer, wie es sie im Oberpfälzer Wald zuhauf gibt. Eigentlich gäbe es auch nichts Besonderes zu berichten, – hätte sich da nicht folgende Geschichte zugetragen.
Seit einigen Wochen erzählte man sich in der Gemeinde sehr seltsame Dinge. Viele Jahre schon war Anna Heckler (Name erfunden) in Ruhdolfstein als Totenanlegerin tätig. Die Fünfzigjährige war verständlicherweise kein gern gesehener Gast. Denn wenn man sie rief, dann gab es zuverlässig einen Toten.
Frau Heckler war trotz ihres traurigen Geschäfts eine resolute Frau und wusste die Abneigung gegen ihre Person richtig einzuschätzen. Wer wird schon gern an sein letztes Stündlein erinnert? Ihre Arbeit, das wurde von allen bestätigt, machte sie gut. Sie wusch und bekleidete die Verstorbenen mit größter Sorgfalt und war vom Sterbebett bis zur letzten Ruhe stets zur Stelle. Ihr Bruder Josef Heckler (Name erfunden), seines Zeichens Totengräber in Ruhdolfstein, sorgte dagegen für ihre letzte Ruhestätte. War seine Schwester unterwegs, um ihre Arbeit zu verrichten, schuftete Josef auf dem Friedhof, um das Grab auszuheben. Da beide nicht verheiratet waren, lebten sie zusammen in einem kleinen Häuschen unmittelbar neben dem Gräberfeld. Anna war sehr streng mit ihrem Bruder. Dieser neigte nämlich dazu, hin und wieder ein Seidl Bier oder einen Schnaps zu viel zu trinken. Eine Untugend, die Anna überhaupt nicht leiden mochte. So kam es schon mal vor, dass sie sich in die Haare gerieten.
An einem grauen Herbsttag wurde Frau Heckler ins Haus des Gemeindevorstehers Alois Schwarz (Name geändert) gerufen. Dessen Vater war 91-jährig gestorben. Noch bevor sie das Trauerhaus erreichte, begegnete sie dem Pfarrer. „Gelobt sei Jesus Christus!“, grüßte sie ihn. „In Ewigkeit Amen!“, antwortete Hochwürden. Anna war zwar nicht sonderlich gut auf den Geistlichen zu sprechen, zu einem Gruß reichte es aber dennoch. Seit man sich im Ort erzählte, dass sie öfter Vorahnungen habe, war das sonst so gute Verhältnis gestört. Der Herr Pfarrer war verärgert. Er konnte so ein abergläubisches Geschwätz, wie er es nannte, nicht dulden. Doch Annas Bruder erzählte im Gasthaus jedem, der es hören wollte, dass seine Schwester das so genannte zweite Gesicht habe. Er, Josef Heckler, habe dies schon selbst erlebt. Anna wurde nun vom Gemeindevorsteher ins Sterbezimmer gebracht. Der Tote lag mit erstarrtem Blick im Bett, als stiere er die Zimmerdecke an. Die Totenanlegerin drückte ihm die Augen zu. Dann zog sie ihm die Kleider aus, um den Leichnam zu waschen. Jeder Handgriff saß. Die Verwandten hielten respektvoll Abstand und beobachteten Anna Heckler bei ihrer Arbeit. Die Bürgermeisterin hatte schon ein weißes Hemd und den schwarzen Anzug zurechtgelegt. Nach etwa einer Stunde war alles erledigt. Der Verstorbene lag, den Rosenkranz in den gefalteten Händen, perfekt angezogen im Bett. Die wenigen weißen Haare hatte die Totenanlegerin ordentlich nach hinten gekämmt. Gleich darauf wurde der Totenschrein gebracht und Anna schritt zu ihrer letzten Amtshandlung: dem Einsargen. Wie im Ort üblich, wurde der Leichnam in die Leichenkammer gebracht. Diese befand sich in der kleinen Kapelle im Friedhof. Josef Heckler hatte mittlerweile schon ganze Arbeit geleistet. Das Grab war ausgehoben. Pickel und Schaufel lehnten noch am frischen Erdreich neben der Grube. Josef hatte durch die schwere Arbeit natürlich Durst bekommen und den wollte er nun im Wirtshaus löschen.
Als Anna Heckler nach Hause kam und ihr Bruder nicht da war, wusste sie sofort, dass der Kerl wieder den halben Lohn vertrinken würde. Deshalb beschloss sie, nach ihm zu sehen. Als sie wenig später das Gasthaus betrat, sah sie ihn inmitten einiger Zechkumpane sitzen. Er schien schon einiges über den Durst getrunken zu haben.
„Anna, komm setz dich zu uns!“, rief er der Schwester zu.
„Einen Teufel werde ich tun, du kommst sofort nach Hause!“, antwortete sie.
„Gemach“, meinte einer aus der Runde, „er wird doch noch seinen Krug austrinken dürfen!“ Wobei er selber zum Bierseidl griff und es auf einen Zug leerte.

„Noch ne Runde, Wirt!“, rief er und forderte die Totenanlegerin auf, Platz zu nehmen. Diese erfasste die Situation sehr schnell: Mit Schimpfen würde sie im Moment nichts erreichen. Daher setzte sie sich, wenn auch widerwillig, zu den lustigen Zechern. Gönnerhaft bestellte ihr der Bruder einen Becher Wein.
Wenig später betrat ein Fremder den Schankraum. Er setzte sich an den Nebentisch und murmelte so etwas wie einen Gruß zu der Runde hinüber.
„So spät noch unterwegs, mein Herr? – Was wollen Sie trinken?“, fragte der Wirt. „Ein Seidl Bier und wenn es geht, hätte ich auch gern etwas zu essen!“, antwortete dieser. „Geht in Ordnung, mein Herr!“, sagte der Wirt, konnte aber seine Neugier doch nicht bezwingen und knüpfte ein Gespräch an: „Ich habe Sie hier bei uns noch nie gesehen.“
„Ich komme aus Rohrstadt, muss aber heute noch nach Steinrieth.“ (Ortsnamen erfunden) - „Da haben Sie aber noch ein gutes Stück Weg vor sich!“, meinte der Wirt. Dann eilte er zur Theke, um das Bier zu holen. Seiner Frau gab er Bescheid, doch etwas Essbares für den Fremden zuzubereiten.
Am Tisch von Josef Heckler war inzwischen eine wortkarge Bierruhe eingekehrt. Seine Schwester nutzte die Gelegenheit und drängte zum Aufbruch. Doch heute schien der Totengräber besonders hartnäckig zu sein. Er versprach seiner Schwester mit Engelszungen, dass dies nun ganz bestimmt das letzte Seidl sei, das er bestelle. Um die Unterhaltung wieder in Gang zu bringen, fing er, sehr zum Verdruss seiner Schwester, mit seinem Lieblingsthema an: „Ich sage euch, so wahr ich hier an diesem Tisch sitze, wenn meine Schwester will, kann die euch sagen, wer von uns der Nächste ist!“ - „Was soll das heißen - der Nächste?“, fragte einer aus dem Kreis dazwischen. „Ganz einfach: Sie weiß oft schon Tage vorher, wenn einer in Rudolfstein stirbt. - Und wer!“
Einige am Tisch ließen den Totengräber wissen, dass sie an seinem gesunden Menschenverstand Zweifel hätten. Andere dagegen meinten, er habe einfach zu viel getrunken. Er sei ein Opfer seines Berufs, so etwas schlage aufs Gemüt. Doch Heckler blieb bei seiner Behauptung. Als alle erwartungsvoll auf die Totenanlegerin schauten, mussten sie jedoch feststellen, dass Anna gar nicht zugehört hatte.
Sie saß geistesabwesend auf ihrem Stuhl und schaute unentwegt auf den Fremden am Nebentisch. Erst als ihr Bruder mit der Hand an ihre Schulter fasste und sie heftig rüttelte, erwachte sie wie aus einem abgrundtiefen Schlaf. Sie sah verwirrt in die Runde. Drauf erhob sie sich, um die Gaststätte grußlos zu verlassen. Als sie am Tisch des Fremden vorbeikam, hielt sie kurz inne, sah ihm ins Gesicht und ging weiter. Noch bevor der verblüffte Bruder sie zurückhalten konnte, hatte sie das Lokal verlassen. Der Totengräber verstand die Welt nicht mehr: Erst wollte sie, dass er unbedingt mit nach Hause gehen sollte. Nun ging sie weg. Kampflos. Einfach so.
„Die hat doch kaum etwas getrunken! Warum ist sie plötzlich gegangen?“, fragte jemand den Josef. Doch der konnte sich selber keinen Reim darauf machen. Mehr zu sich selber als zu den anderen sagte er leise: „Sie hat wohl wieder das zweite Gesicht bekommen.“ – „Ach geh! Sei lustig!“, sagte ein Trinkgenosse und lachte: „Wenn ich nach dem zehnten Seidel heimgehe, seh’ ich bei meiner Alten auch immer zwei Gesichter, die sie mir keifend entgegenstreckt!“ Die Runde brach in schallendes Gelächter aus. Doch Josef verzog keine Miene. Auch er schien es plötzlich eilig zu haben. Nachdem er seine Zeche bezahlt hatte, verließ er die Bierwirtschaft. Als er zu Hause ankam, war seine Schwester schon zu Bett gegangen. Müde von der schweren Arbeit am Nachmittag und bleischwer vom Alkohol, legte er sich schlafen.
Am nächsten Morgen war Anna Heckler schon früh zur Gastwirtschaft unterwegs. Sie war unruhig und nervös, als sie eintrat. Verwundert fragte der Wirt, was sie denn schon so früh am Morgen von ihm wolle. “Wann ist der Fremde gestern Abend gegangen?“, fragte sie. „So gegen 23 Uhr, er wollte noch nach Steinrieth!“, antwortete der Wirt. Dann erzählte er, dass der Fremde seinen Hut vergessen habe.

„Wo ist dieser Hut?“, wollte die Totenanlegerin wissen.
„Er liegt noch auf der Ablage im Gastzimmer – warum fragst du?“
Statt zu antworten sagte sie hastig: „Kann ich den mal sehen?“ – Dann gingen beide in den Schankraum.
Die Totenanlegerin sah sich den Hut sehr genau an. Sie schaute sogar hinter dem Schweißband nach und fand schließlich, was sie suchte. Auf einem weißen Textilstreifen stand in Großbuchstaben geschrieben: FRANZ BUCHMÜLLER ROHRSTADT.
„Darf ich den Hut mitnehmen?“, fragte aufgeregt die Totenanlegerin.
Als der Wirt nach dem Grund fragte, antwortete sie ihm, dass sie demnächst nach Rohrstadt käme, somit könnte sie den Besitzer ausfindig machen. Obwohl der Wirt keineswegs verstehen konnte, weshalb man „wegen einem alten Hut“ Nachforschungen anstellen wolle, war er einverstanden. Eilig verlies daraufhin Anna Heckler das Gasthaus. Schon zwei Tage später fuhr sie mit dem Postautobus nach Rohrstadt.
Auf direktem Weg besuchte sie den dortigen Leichenwärter. Sie wollte ein vertrauliches Gespräch „unter Kollegen“ führen, um sich nach diesem Franz Buchmüller zu erkundigen. Ein älterer Herr empfing sie freundlich. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, kam sie sofort zur Sache. „Ich suche einen Herrn namens Franz Buchmüller!“ - „Nun, Rohrstadt ist zwar nicht gerade eine große Stadt, aber alle Bewohner kenne ich dennoch nicht!“, antwortete der Mann. Lächelnd fügte er hinzu: „Mit Namen von Verstorbenen kann ich Ihnen da schon besser dienen.“ - „Und, gibt es einen unter ihnen mit diesem Namen?“, fragte sie ungeduldig. Nach längerem Überlegen antwortete er mit „Nein“. Enttäuscht verließ Anna Heckler das Haus. Sie hatte sich etwas ganz anderes erhofft. Sie hatte wieder einmal eine dieser Visionen gehabt. Sie sprach nicht gerne darüber, nur ihrem Bruder hatte sie einmal davon erzählt. Seit dieser Zeit, vor allem aber, wenn er getrunken hatte, plauderte Josef im Wirtshaus ihr Geheimnis aus. Die ganze Sache war ihr peinlich. Sie wollte von nun an niemandem mehr – auch ihrem Bruder nicht – ihre Erlebnisse mitteilen. Der vergessene Hut war nur ein Vorwand gewesen, nach Rohrstadt zu fahren. Sie glaubte nämlich, dass mit diesem Franz Buchmüller etwas nicht stimmte. Schon bei der ersten Begegnung in der Gaststätte in Ruhdolfstein hatte sie eine dunkle Vorahnung. In der Nähe der Bushaltestelle in Rohrstadt befand sich ein Gasthaus. Da sie noch nichts gegessen und getrunken hatte, wollte sie jetzt einkehren. Es waren nur wenige Gäste in der Wirtstube. Sie bestellte sich eine Tellersulz und ein kleines Bier. Der Wirt, schon ein älterer Herr, brachte ihr das Gewünschte. „Sie sind aber nicht von hier“, sprach dieser sie an. „Nein – sind Sie denn ein gebürtiger Rohrstädter?“, fragte sie zurück. „Ja, ich bin ein echter Rohrstädter!“ - „Ich suche nämlich jemanden“, setzte sie die Unterhaltung fort. „Kennen Sie einen Mann namens Franz Buchmüller?“, fragte die Totenanlegerin. Der Wirt überlegte nicht lange, dann nickte er mit dem Kopf: „Ja, den kenne ich!“ - „Können Sie mir sagen, wo er wohnt?“
Erstaunt bemerkte der alte Wirt, wie aufgeregt die Frau war. Dann erzählte er ihr, dass dieser Buchmüller viele Jahre Gast bei ihm gewesen war. Seine Eltern stammten übrigens aus Steinrieth und als sie noch lebten, hatte sie Buchmüller dort regelmäßig besucht.
Anna Heckler hatte aufmerksam zugehört. Doch nun wollte sie endlich die Adresse von jenem Herrn Buchmüller. - „Nichts leichter als das“, bemerkte der Wirt, „er liegt in Steinrieth auf dem Friedhof. Dort ist er vor einigen Jahren beerdigt worden.“

Die Totenanlegerin war keineswegs überrascht. Wie hatte doch der Fremde in der Gasstätte in Ruhdolfstein gesagt? „Ich muss heute noch nach Steinrieth!“
„Ist Ihnen nicht gut?“, fragte der Wirt besorgt, als er sah, wie bleich die Frau plötzlich wurde.
„Nein, es geht schon wieder“, antwortete Anna und hatte es plötzlich eilig. Sie beglich ihre Zeche und ging zur Autobushaltestelle.
Es war gegen 20 Uhr, als sie in Ruhdolfstein ankam. Im Gasthaus brannte noch Licht. Sie ging hinein, um zu sehen, ob ihr Bruder sich unter den Gästen befand. Doch der war nicht da. Der Gemeindevorsteher Alois Schwarz und der Pfarrer saßen am Stammtisch. Die beiden waren über Anna Hecklers Erscheinen etwas verwundert. Diese ging ansonsten nicht alleine in ein Wirtshaus. Es sei denn, sie suchte ihren Bruder. Im gleichen Moment kam der Wirt aus der Küche.
„Hättest dir den Weg nach Rohrstadt sparen können“, meinte er. „Der Herr war bis vor einer halben Stunde noch hier. Er wollte seinen Hut abholen!“
Die Totenanlegerin fragte mit tonloser Stimme: „Der, wo vor drei oder vier Tagen hier war?“ - „Wer denn sonst?“, entgegnete der Wirt verdutzt. Erst jetzt bemerkte er, wie krank und blass Anna aussah.
Kraftlos setzte sie sich auf einen Stuhl an den Tisch, wo der Bürgermeister und Hochwürden saßen. Was ist bloß mit der Heckler los, sinnierte der Wirt, wusste er doch, dass sich der Pfarrer und Anna nicht grün waren. „Bist du ganz sicher“, wandte sie sich erneut an den Wirt, „dass es der Mann aus Rohrstadt war?“
„Natürlich bin ich mir da sicher, ich tröstete ihn noch wegen seinem Hut und er versprach, gelegentlich vorbeizukommen, um ihn abzuholen!“
Jetzt wurde es dem Gemeindevorsteher zu dumm. Er wollte wissen, was es mit diesem Mann, der seinen Hut suchte, eigentlich auf sich hatte. Der Wirt, der gerade einen Gast bediente, meinte: „Lasst es euch von der Anna erklären.“

Die aber hütete sich, etwas Bestimmtes zu sagen. Könnte doch der Herr Pfarrer wieder fuchsteufelswild werden und sie als eine gottlose Person bezeichnen. Sie hatte andere Sorgen. Ohne einen Gruß verließ sie das Wirtshaus. Wenn der Wirt Recht hatte, so würde dies bedeuten, dass Franz Buchmüller, der angeblich in Steinrieth begraben war, noch lebte.
Ihr Bruder schien wieder getrunken zu haben. Sie hörte ihn laut durch die Zimmertür schnarchen, als sie heimkam. Sie aber konnte nicht einschlafen in dieser Nacht. Immer und immer wieder musste sie an diesen Mann aus Rohrstadt denken. Dass er nicht mehr am Leben sein konnte, davon hatte sie sich selbst überzeugt. Warum fand Franz Buchmüller keine Ruhe? Erst gegen Morgen fielen ihr die Augen zu. Spät am Vormittag wurde sie wieder wach. Sie wollte sich gerade einen Kräutertee machen, als ihr Bruder in die Küche kam. „Wir bekommen bestimmt noch Arbeit heute! Wie ich soeben erfahren habe, fand man einen Toten direkt am Ortsausgang.“ Ohne von ihrer Tätigkeit aufzuschauen fragte Anna: „Einer aus Ruhdolfstein?“ - „Nein, es ist wohl ein Fremder!“, sagte Josef unwirsch und verließ die Küche. „Dann geht er uns nichts an!“, rief sie ihm hinterher. Trotzdem ließ ihr der Tote keine Ruhe und so ging sie zum Bürgermeister. Auf dem Weg dahin begegnete sie dem Sargschreiner, der den Fremden bereits auf seinem Wagen zur Leichenkammer in die Friedhofskapelle brachte.
„Sollst zum Bürgermeister kommen, Anna!“, rief er ihr zu. „Bin gerade auf dem Weg zu ihm!“, sagte sie und ging zum Wagen, auf dem der Tote lag. „Kennst du ihn?“, fragte sie den Schreiner, dabei hob sie etwas die Decke an – und erschrak. Da, unter dieser Decke lag Franz Buchmüller! „Kennst du etwa den Toten?“, fragte der Sargschreiner. Die Totenanlegerin stand wie angewurzelt vor dem Wagen.
„Und ob – das ist der Mann aus Rohrstadt, der - und das weiß ich genau - in Steinrieth begraben ist!“ Der Schreiner verstand kein Wort. Wenn der Mann auf seinem Wagen dieser Buchmüller war, konnte der doch nicht gleichzeitig in Steinrieth beerdigt sein. Sein erster Gedanke war, dass die alte Heckler jetzt wohl einen Schaden im Oberstübchen habe.
Die aber hatte es eilig, den Gemeindevorsteher zu sprechen. Der hörte sich in aller Ruhe die Geschichte an, die die Totenanlegerin ihm da erzählte.
„Das ist der größte Quatsch, den ich je gehört habe!“ Wütend stand er auf und rief: „So, dass erzählst du nun auch unserem Pfarrer, Anna, hast du mich verstanden?“
„Den Teufel werde ich tun!“, schrie nun ihrerseits die Heckler.
„Du kommst jetzt mit, wir gehen beide hinüber ins Pfarrhaus, kapiert?“
Wütend drängte der Bürgermeister die Totenanlegerin aus der Amtsstube. Er schubste sie förmlich zum Haus hinaus. Immer noch widerwillig begab sich Anna in das Pfarrhaus. Hochwürden war zwar erstaunt über den plötzlichen Besuch, bat die beiden aber ins Amtszimmer. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und legte das Brevier zur Seite, in dem er gerade gelesen hatte. Mürrisch grüßte Anna den Pfarrer mit einem „Gelobt sei Jesus Christus!“ Dann forderte dieser sie auf, ihr Anliegen vorzubringen.

Anna Heckler erzählte alles, was sie wusste, vermied jedoch, dem Pfarrer von ihren Vorahnungen zu berichten. Das übernahm zum Leidwesen von Anna das Gemeindeoberhaupt. Ohne etwas zu beschönigen oder gar wegzulassen, erfuhr Hochwürden vom Bürgermeister die ganze Geschichte. Hatte die Totenanlegerin ein Donnerwetter erwartet, so sah sie sich getäuscht. Nachdem der Pfarrer einige Male im Zimmer auf und ab gegangen war, sagte er: „Ich bin davon überzeugt, dass sich alles aufklären wird.“ Und nach einer kurzen Pause fuhr er fort: „Kümmern Sie sich jetzt erst einmal um den Toten, Frau Heckler. Da er in unserer Gemeinde aufgefunden wurde, sind wir auch zuständig.“ Der Gemeindevorsteher fügte hinzu, dass, sollte der Tote Familie oder Verwandte haben, diese entscheiden könnten, wo er beerdigt werden solle.
Als die Totenanlegerin die Leichenkammer betrat, hatte der Sargschreiner den Leichnam schon aufgebahrt. Der Tote lag angekleidet, so wie er gefunden wurde, auf der Bahre. Während Anna ihre Arbeit aufnahm, sah sie sich ihn ganz genau an. Für sie bestand nicht der geringste Zweifel – es war der Mann, der vor einigen Tagen seinen Hut im Wirtshaus vergessen hatte. Die örtliche Polizei von Rohrstadt stellte anhand eines Fotos fest, dass es sich bei dem Toten zweifelsfrei um Franz Buchmüller handeln musste. Da er weder Familie noch Verwandte hatte, musste die Gemeinde Ruhdolfstein, in der er gefunden wurde, die Beerdigung und deren Kosten übernehmen.
Nur - wer war der Mann, der unter dem Namen „Franz Buchmüller“ in Steinrieth auf dem Friedhof lag? Josef Heckler, der Totengräber, bekam vom Gemeindevorsteher den Auftrag, ein Grab auszuheben. Da ein Amtsarzt aus Rohrstadt den Totenschein auszustellen hatte, musste die Beerdigung um einen weiteren Tag verschoben werden. Der Arzt machte schließlich den amtlichen Vermerk: Tod durch Herzstillstand! Inzwischen war die Totenanlegerin dermaßen mit ihren Nerven herunter, dass man sich ernstlich um sie Sorgen machen musste. Sie ging zur Kirche, um zu beten. Nachts wachte sie ständig auf und bekam Schreikrämpfe. Ihr Bruder nahm immer mehr Alkohol zu sich, um diese unheimlichen Anfälle seiner Schwester zu überhören. Am Abend vor der Beerdigung ging Anna Heckler nochmals in die Friedhofskapelle. Am frisch aufgeworfenen Grab blieb sie stehen. Hier, so schoss es ihr durch den Kopf, sollte der Franz Buchmüller also zum zweiten Mal beerdigt werden? Sie konnte einfach nicht glauben, dass er schon vor Jahren in Steinrieth beigesetzt wurde. Andächtig sprach sie am noch leeren Grab ein Gebet für diesen armen Franz Buchmüller, der nach ihrer Ansicht, aus welchen Gründen auch immer, nicht zur Ruhe kommen konnte. Inbrünstig bat sie den lieben Gott darum, die arme Seele möge ihren ewigen Frieden finden. Noch nie in ihrem Leben hatte sie so ernsthaft ein Gebet gesprochen.
Langsam ging sie anschließend den schmalen Weg zur Kapelle hinauf. Die Tür zur Leichenkammer war nur angelehnt. Bestimmt hatte ihr Bruder vergessen, sie zu schließen. In der Leichenkammer war kein Fenster. Die Petroleumlampe, die immer brannte, wenn ein Toter aufgebahrt war, spendete nur schummriges Licht. Doch so viel war zu erkennen – die Totenbahre war leer! Der Sarg samt Inhalt war verschwunden.
Anna Heckler war alles andere als ängstlich. Sie starrte auf die leere Bahre. Ein furchtbarer Gedanke nahm von ihr Besitz: Der tote Franz Buchmüller ist verschwunden. Für einen kurzen Moment verlor sie völlig die Nerven. Sie schrie um Hilfe. Doch die Totenanlegerin hatte sich schnell wieder gefasst. Hatten ihr Bruder und der Sargschreiner den Toten womöglich in die Kapelle gebracht, nachdem sie ihn hergerichtet hatte? Sie betrat das kleine Kirchlein – von einem Sarg aber war nichts zu sehen. Schlimmes ahnend und völlig verstört ging sie zum Gemeindevorsteher. Der benachrichtigte den Herrn Pfarrer und dann marschierten alle drei zum Friedhof. Obwohl sie eine sorgfältige Suche nach dem verschwundenen Leichnam durchführten, war dieser nicht auffindbar. Auch Josef Heckler, der Totengräber, beteiligte sich etwas später an der Suche; aber auch er fand den Sarg mit der Leiche nicht.
Der Bürgermeister schaltete die Dorfpolizei ein. Ganz Ruhdolfstein wurde abgesucht – ohne Erfolg! Der Vorfall wurde der Polizei in der Kreisstadt gemeldet, die der Sache ebenfalls nachging. Doch der Sarg samt Leiche blieb unauffindbar. Die Totenanlegerin erkrankte nach diesem Vorfall schwer. Sie redete im Fieberwahn wirres Zeug und ihr Bruder Josef erzählte im Dorfwirtshaus, dass seine Schwester ständig den Namen Buchmüller erwähne. Doch die Heckler erholte sich nach einigen Tagen wider Erwarten schnell. Sie ging auch ohne zu zögern erneut ihrem Beruf nach. Allerdings fiel auf, dass sie sehr schweigsam geworden war. Sie redete nur das Allernotwendigste. In ganz Ruhdolfstein und Umgebung war das Verschwinden des verstorbenen Franz Buchmüller Tagesgespräch. Nur allmählich beruhigten sich die Leute wieder ein wenig.
An einem Novembertag des gleichen Jahres, in dem diese mysteriöse Geschichte passiert war, machte sich Anna Heckler auf den Weg nach Steinrieth. Sie fühlte sich wie eine Umhergetriebene und wollte der Sache auf den Grund gehen. Nach einem langen Fußmarsch erreichte sie gegen Mittag die Ortschaft. Sie sprach im dortigen Pfarrhaus vor. Der Geistliche wusste natürlich von dem spurlosen Verschwinden einer Leiche mitsamt Sarg in Ruhdolfstein. Wie sein dortiger Amtsbruder war aber auch er ein standhafter Gegner abergläubischer Geschichten. Nur gab es in diesem Fall einfach eine unangenehme Tatsache: Viele Menschen hatten den Herrn Buchmüller in Ruhdolfstein gesehen. Erst lebendig und dann tot. Und deshalb lehnte der Pfarrer ganz besonders energisch jeden Glauben an solche Dinge ab.
Genau wie in Ruhdolfstein stieß Anna also auch hier auf taube Ohren bei der Geistlichkeit. Sie gab aber noch immer nicht auf. Sie bat um Einsicht ins Kirchenbuch, wo alle Verstorbenen der Gemeinde eingetragen sind. In der Hoffnung, die zudringliche Besucherin loszuwerden, stimmte der Herr Pfarrer zu. Doch fand er tatsächlich einen Vermerk im Kirchengemeindebuch. Da stand schwarz auf weiß: Franz Buchmüller, darauf folgte dessen Geburtsdatum mit Geburtsort. Weiterhin war zu lesen – gestorben am, mit dem Sterbedatum und dem Tag der Beisetzung. Nach diesen Unterlagen war Franz Buchmüller bereits vor fünf Jahren gestorben. Die Totenanlegerin verließ das Pfarrhaus, um auf dem nahe gelegenen Friedhof die Grabstätte des Franz Buchmüller aufzusuchen. Dort traf sie eine alte Frau, die ihr half, das Grab zu finden. Von derselben erfuhr sie, dass der Franz, den sie selbst gut gekannt hatte, an einer rätselhaften Krankheit gestorben war. Böse Zungen hatten nach seinem Tod behauptet, er habe seine Seele dem Teufel verschrieben. Was, so die alte Dame, natürlich Unsinn sei. Franz starb an seiner kranken Seele. Er hatte irgendwann in seiner Jugend schwere Schuld auf sich geladen. Leider wusste niemand etwas Genaueres. Da der alten Frau die Geschichte mit dem verschwundenen Leichnam aus Ruhdolfstein bestens bekannt war, meinte sie: „Der Franz kommt halt nicht zur Ruhe wegen seiner großen Schuld!“ Lange standen die beiden Frauen noch am Grab von Franz Buchmüller. Dann machte sich die Totenanlegerin auf den Nachhauseweg. Die Zweifel aber blieben. Zu gerne hätte sie gewusst, ob Franz Buchmüller wirklich in seinem Grab in Steinrieth lag. Eine Exhumierung aber kam für die Behörden nicht in Frage, da der in Ruhdolfstein abhanden gekommene Sarg samt Leiche nie gefunden wurde. Damit fehlte ein konkretes Beweisstück.
Vielleicht war Buchmüllers nochmaliges Erscheinen in Ruhdolfstein die Erlösung seiner geplagten Seele?