Richard Bachmann

Betrogen und vergessen

Die Geschichte des Kriegskindes Reinhard Bachner

Erschienen bei Monsenstein und Vannerdad.
Das Buch ist erhältlich im Buchhandel oder z. B. bei www.amazon.de (ISBN ISBN 3-86582-139-1)
Kontakt zum Autor: Richard Bachmann
Vorwort des Lektors

Die Geschichte des Reinhard Bachner steht stellvertretend für eine Generation, deren Kindheit in den zweiten Weltkrieg zurückreicht. Humorlos und schnell mussten diese Kriegskinder zu Erwachsenen werden. Und sie wurden in ihrer persönlichen Entwicklung genau dort geschädigt, wo es am meisten wehtut: In den ersten entscheidenden Lebenserfahrungen. Eine barbarische Diktatur, strenge Erziehung und materielles Elend - aus diesem Beton wurde das Fundament ihrer seelischen Identität gegossen. Die Kriegskinder hatten zweifellos sehr schlechte Karten gezogen. Und das nicht nur einmal. Denn nach dem Krieg waren sie, erneut durch gebieterische Notwendigkeit, zum mühsamen Wiederaufbau gezwungen. Sie opferten dem jetzt erblühenden Wirtschaftswunder ihre beruflichen Träume und Bildungsmöglichkeiten. Es galt zu arbeiten, nicht zu lernen. Und als die nachfolgende 68er-Jugend endlich für ein selbstbestimmtes Leben die Bahn brach, gehörten sie bereits zur neuen Elterngeneration. Die Kriegskinder standen dieser neuen Freiheit zwangsläufig sehr nüchtern und distanziert gegenüber. Sie blickten auf zähes Arbeiten seit frühester Kindheit zurück. Und die Tugenden, auf die sie sich stützten, hatten schließlich ihr Überleben gewährleistet. Sie anzutasten schien ihnen überdreht und gefährlich. Damit gerieten sie in eine sehr undankbare Rolle: Sie waren zwar die emsigen Arbeitsbienen, die den Luxus der Selbstverwirklichung geschaffen hatten. Doch sie selbst konnten innerlich nicht mehr daran teilhaben. Die Kriegskinder galten nur als eine Art fleißiger und unaufgeregter Übergang zur späteren Wohlstandsgesellschaft. Aller Ehren wert, aber reichlich bieder. Und so landete schließlich eine ganze Generation im Niemandsland der Geschichtsschreibung. Sie eignete sich nicht einmal für die politische Kritik, denn die Kriegskinder trugen nun wirklich keine persönliche Verantwortung für die Gräueltaten der Nazis. Sie verschwanden somit ganz unspektakulär aus dem geschichtlichen Bewusstsein.

Das Fazit: Die Kriegskinder gehören zu einer betrogenen, von der Geschichte kalt übergangenen und vergewaltigten Generation. Sie zahlten die Zeche für den Krieg schon bei der Geburt. Und sie litten auch am meisten unter den Konsequenzen dieses Krieges: Der Überlebensdruck Ende der 40er bis Ende der 50er Jahre kostete die zweite Chance im Leben: Nach der Kindheit im Krieg war es diesmal die Jugend nach dem Krieg, die für immer beschädigt wurde. Und am Ende war ihnen die individuelle Freiheit, die sie wirtschaftlich ermöglicht haben, nicht einmal mehr zugänglich.
Geschichte allerdings ist ein vielschichtiges, niemals ganz auszulotendes Problem. Die Kriegskinder zogen gelegentlich auch gute Karten. In den 60er und 70er Jahren waren sie in ihrem mittleren Alter. Sie konnten die Früchte des Wiederaufbaus mehr oder weniger genießen. Und heute, nach der Jahrtausendwende, sieht es ganz so aus, als ob wenigstens diese Generation noch mit einer halbwegs zureichenden und relativ sicheren Rente rechnen kann. Ein schwacher materieller Trost immerhin für die Kindheit und Jugend, um die sie betrogen wurde. Und wenn auch die 50er Jahre sehr mager waren - die Kriegskinder hatten dank ihrer gemeinsamen Erfahrungen und Werte menschlichen Zusammenhalt entwickelt. Sie hatten weniger Geld, aber mehr Empfänglichkeit für einfache Glücksmomente. Sie waren, ab den 60er Jahren, die Generation mit den ersten Partykellern und Mallorcareisen, die Generation der stolzen Autobesitzer und der sicheren Arbeitsplätze. Eben weil die Kinder des Krieges ihre traumatische Vergangenheit nicht vergessen konnten, wussten sie die Gegenwart mehr zu schätzen als die ruhelos umherirrenden 68er und deren Nachfolger.
Kulturell jedoch konnten sie den Verlust ihrer Entwicklungsjahre nicht verleugnen. Sie schotteten sich gegen Veränderungen des Lebensstils ab: Starker Individualismus, enthemmte Erotik, politische Systemkritik, die Suche nach spiritueller, künstlerischer oder auch sinnlicher Selbsterfahrung, überhaupt der Hang zum Extremen und zum Experiment - all das war den Kriegskindern ein Buch mit sieben mal sieben Siegeln. Verschlossen für immer. Ob zu ihrem Vorteil oder Nachteil, das soll hier nicht erörtert werden. Fest steht: Die Kriegskinder blieben vor allem auch darin eine betrogene Generation, dass sie ihr materielles Sicherheitsdenken nie ganz ablegen konnten. Das Verhängnis hatte es so gewollt, dass sie wenig Sinn für die schönen und idealen Seiten des Lebens entwickeln konnten. Denn kulturelle Erfahrungen sind ja, überlebenstechnisch gesehen, zuerst und vor allem nutzlos. Sie setzen ein Minimum an Freiheit von materiellen Zwängen voraus. Die Kriegskinder ahnten wohl im Innersten, dass der Mensch nicht nur vom Brot allein lebt. Doch sie hatten allzu sehr verinnerlicht, dass es ohne Brot todsicher gar kein Leben gibt. Und schließlich: Hatten nicht gerade sie ein teuer erworbenes Recht darauf, ausgiebig zu konsumieren, die neuen Bequemlichkeiten voll zu genießen, sich ein wenig zurückzulehnen?
Angesichts der heutigen Spaßmenschen, der wirtschaftlichen Kälte und der krisenhaften Veränderung unserer Wohlstandsgesellschaft könnte die Erfahrung dieser Generation wieder sehr wertvoll werden. Von ihr kann man lernen, was Standhaftigkeit und Selbstdisziplin zu leisten imstande sind; wie unverwüstlich ein Glauben an Werte macht; und wie zäh und erfindungsreich der Mensch ist, selbst wenn er täglich Gefahr läuft, alles zu verlieren. Ohne diese Fähigkeiten hätten die Kriegskinder weder den Krieg überlebt noch ein Wirtschaftswunder geschaffen. Und kein Mensch wird jemals eine ernsthafte Krise ohne Härte gegen sich selbst meistern können - und auch nicht ohne Glauben an eine mögliche und bessere Zukunft. Die Generationen nach den Kriegskindern flüchten sich allzu schnell in jämmerlichen Pessimismus und betrachten Lebenshärten als prinzipiell unzumutbar. Der paradiesische Ausnahmezustand - jahrzehntelanger ökonomischer Aufstieg und soziale Sicherheit - wird zu fraglos in den Rang eines Naturgesetzes erhoben. Solidarität und intensives Zusammenleben, meist aus der Not geboren, sind als Lebensgefühl kaum noch präsent. Die Generation der Kriegskinder kann uns also durchaus eine Lektion in überlebenswichtigen Fähigkeiten erteilen, die sich unter weit schlimmeren Bedingungen bewährt haben.
Zu diesem handfesten Zweck wurde Betrogen und vergessen geschrieben. Und dennoch verzichtet das Buch darauf, moralisch belehren zu wollen. Es überzeugt, indem es erzählt und darstellt. Und es schließt gleichzeitig eine Lücke in unserer Geschichtsschreibung: Richard Bachmann hat dem noch wenig durchleuchteten Alltag der Kriegskinder und ihrem Werdegang ein Denkmal gesetzt. Er liefert genau das, was bislang gefehlt hat: die anschaulichen Details. Er versichert sich schreibend einer Kindheit und einer Jugend, um die eine ganze Generation betrogen wurde. Dieser brutale Verlust lässt sich freilich nicht wieder gutmachen. Doch ein Buch wie dieses kann verhindern, dass diese betrogene Generation nicht auch noch zur vergessenen Generation wird. Die authentische Lebensgeschichte des Kriegskindes Reinhard Bachner, die Richard Bachmann (ebenfalls ein Kriegskind) hier nacherzählt, zeigt uns in größtmöglicher Nahaufnahme eine Welt, die uns abhanden zu kommen droht. Worüber nicht geredet wird, das existiert auch nicht. Das ist die Logik unserer Mediengesellschaft. Genau deshalb wirkt dieses Buch wie ein magischer Schlüssel, der uns den Blick auf eine verschollene Zeit öffnet. Die geschichtlichen Mächte können uns beherrschen. Das Gedächtnis aber liegt in unserer eigenen Hand. Das scheint mir die unausgesprochene Botschaft dieses Buches.

Günter Bachmann