Richard Bachmann

Zwischen Weiden und Eslarn

Geschichten aus der nördlichen Oberpfalz

Gespenster in der Literatur

Nachwort des Lektors

Nicht nur die mündliche Überlieferung, auch die sogenannte Hochliteratur hat sich viel mit Gespenster-Erscheinungen befasst: „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt“, – sagt kein Geringerer als Shakespeares Hamlet. Und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als ihm der Geist seines ermordeten Vaters erschienen ist, der ihn zur Rache auffordert. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass in dem vielleicht wichtigsten Drama der Neuzeit die Handlung von einem Gespenst ausgelöst wird.
Eine steile literarische Karriere machten Gespenster aber erst gut 150 Jahre nach Shakespeare, in der zweiten Hälfte des 18 Jahrhunderts. In England entstand der Schauerroman und breitete sich von dort über ganz Europa aus. Schlossgeister, blutige Nonnen und dämonische Mönche wurden kulturell plötzlich salonfähig. Man reibt sich verwundert die Augen, welch namhafte Autoren auch in Deutschland das Gespenster-Thema aufgreifen: Friedrich Schiller schrieb einen Roman mit dem Titel Der Geisterseher (1786). In Goethes Ballade Die Braut von Korinth (1798) erscheint ein weiblicher Vampir. Und was soll man erst zum Faust (1808) sagen, worin Geisterbeschwörung, Hexerei und Teufelsbündnis den Hauptteil ausmachen?
Dabei war Europa um diese Zeit doch schon „aufgeklärt“. Die Naturwissenschaften hatten gerade erst ihren Siegeszug angetreten. Doch je mehr die Vernunft gelobt und der Aberglauben bekämpft wurde, desto stärker wuchs der Widerstand der Dichter. Und nicht nur der Dichter: Die adlige Gesellschaft vertrieb sich die Zeit mit Tischrücken, magischen Séancen und alchemistischen Experimenten. Geisterseher wurden in der damaligen High Society herumgereicht wie Popstars. Ernsthafte Forscher wendeten sich erstmals Phänomenen wie dem hellseherischen Schlafwandeln und der Hypnose zu. Große Philosophen wie Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer schrieben eigens eine Abhandlung über das Geistersehen. Und das Volk? - Das Volk war ohnehin gespenstergläubig: Das neue Zeitalter der Vernunft hatte die Wunderheiler, Propheten, Teufelsaustreiber und Totenbeschwörer zwar in die Arbeitshäuser gesteckt. Aber schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts liefen sie wieder frei herum und fanden großen Zulauf.
Der Glaube an Gespenster war also ein gesellschaftsweiter Aufstand gegen Vernunft und Wissenschaft. Genauer gesagt gegen deren Allmachtsanspruch: Was nicht zählbar und messbar und experimentell überprüfbar ist, das existiert in der Wissenschaft nicht. Aber hier kommt der Satz des Hamlet wieder ins Spiel: Die Wissenschaft kann nicht ausschließen, dass es mehr gibt zwischen Himmel und Erde, als sie erkennen kann. Wissenschaft bleibt immer von ihren eigenen Denkvoraussetzungen abhängig. Was außerhalb ihrer Methode liegt, kann sie weder beweisen noch widerlegen. Bildhaft gesprochen: Die Wissenschaft gleicht einem Menschen, der mit einer rosarot gefärbten Brille auf die Welt gekommen ist. Diese rosarote Brille ist ganz fest mit seinem Kopf verwachsen. Und logischerweise schwört er Stein und Bein, dass alles, was er sieht, rosarot gefärbt ist. Er weiß ja nicht, was passiert, wenn er seine Brille abnehmen und alle Farben dieser Welt mit eigenen Augen sehen könnte. - Die Wissenschaft weiß nichts über Gespenster, weil sie das Leben nur durch die Augengläser der Mathematik und Physik betrachten kann. Wahr ist aber auch: Wer eine Behauptung aufstellt, der ist den Beweis schuldig. Nicht die Zweifler, sondern die Geisterseher müssen den Nachweis für Gespenster erbringen. Und eben weil sie für sich ein Wissen beanspruchen, das jenseits aller Wissenschaft ist, können sie ihre Erscheinungen auch nicht wissenschaftlich belegen.
Aber ist es denn überhaupt notwendig zu wissen, ob es Gespenster gibt? Selbst ein so kritischer Kopf wie der Dichter Gotthold Ephraim Lessing schrieb einmal über Shakespeare: „Vor seinem Gespenst in Hamlet richten sich die Haare zu Berge, sie mögen ein gläubiges oder ungläubiges Gehirn bedecken.“ – Man muss gar nicht an Gespenster glauben und kann sich dennoch vor ihnen fürchten. Der Mensch ist nicht nur eine logische Maschine, sondern eine widersprüchliche Mischung aus Vernunft und Gefühl. Kunst, Religion und Sozialleben machen ihn erst zu einem lebendigen Ganzen. Und die Sorge, dass kalte Wissenschaft und hemmungsloser Materialismus alles Zauberhafte und Schöne zerstören, war das Grundgefühl jener Zeit, als literarische Gespenster in Mode kamen. Seither sind Gespenster nicht mehr aus der Literatur hinwegzudenken. Die nachfolgenden Generationen trieben es noch viel bunter, allen voran die Romantiker. E.T.A. Hoffmann (1776-1822) zum Beispiel wurde mit seinen Geistergeschichten international erfolgreich. Schon die Zeitgenossen nannten ihn den „Gespenster-Hoffmann“. Er beeinflusste auch entscheidend den Amerikaner Edgar Allen Poe (1809-1849). Und diese beiden Schriftsteller begründeten eine ganz neue Art des fantastischen Erzählens, das mittlerweile eine selbstständige Literaturgattung ist. Selbst die großen Realisten konnten sich dem Fantastischen nicht entziehen: Theodor Storms berühmte Novelle Der Schimmelreiter (1888) ist eine waschechte Gespenstergeschichte. Theodor Fontane wiederum präsentierte Spukgeschichten in seinem Roman Vor dem Sturm (1878).
Bis heute gehen Gespenster in der Hochliteratur um. Kein Wunder eigentlich, denn die Bedingungen, die zu ihrer literarischen Erscheinung führten, haben sich nicht verändert, ja eher noch verschärft. Wohin man auch blickt: Wirtschaftliches Denken und der Irrsinn eines grenzenlosen Wachstums beherrschen mittlerweile jeden Winkel dieser Erde. Der globale Turbokapitalismus fegt die letzten Überbleibsel von Romantik, Poesie und heimatlicher Geborgenheit hinweg. Der zuverlässige Helfershelfer bei dieser Zerstörung des Planeten ist die allzeit bereite Wissenschaft. Und mehr noch als in der Vergangenheit wird der Mensch ausschließlich als materielles Lebewesen gesehen, das man am liebsten durch Roboter und Computer ersetzen würde. In seiner Erzählung Matere, das Schlossgespenst schreibt Richard Bachmann: „Die Menschen haben ihren Glauben verloren. Sie würden nicht mal dann einen Geist erkennen, wenn er direkt vor ihnen steht und sie mitten in die Nase zwickt.“
Gespenster-Erzählungen aus der mündlichen Überlieferung haben weit mehr mit der Hochliteratur gemeinsam, als eine einseitig akademische Lesekultur glaubt: „Der Aberglaube ist die Poesie des Lebens; deswegen schadet es dem Dichter nicht, abergläubisch zu sein“, sagt Goethe. Das mündliche wie auch schriftliche Erzählen soll den Menschen aus seinem prosaischen Alltagsleben herausholen und ihn ins Zauberland der Dichtung entführen. Dass es immer noch Menschen gibt, die ohne das Wunderbare nicht leben wollen, beweist ja gerade die Popularität der Gespenster auch in der rein schriftlichen Hochliteratur. Und heute bleibt ohnehin gar nichts anderes übrig, als die mündliche Überlieferung schriftlich festzuhalten. Sonst gehen diese Geschichten unwiederbringlich verloren. Die sozialen Voraussetzungen für das mündliche Erzählen gibt es nicht mehr: Die allgegenwärtigen Kommunikationsmedien und der hektische Pulsschlag unseres Lebens lassen das kaum mehr zu. Im ersten Erzählband von Richard Bachmann - Geschichten aus dem Grenzwald - wurde im Vorwort schon beschrieben, wie bedroht diese volkstümliche Kultur inzwischen ist.
Richard Bachmann hat die letzte Blüte der mündlichen Erzählkultur noch selbst erlebt – in der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Da gab es noch nachbarliche Treffen zum alltäglichen Austausch von Neuigkeiten. Und regelrechte Erzählabende, wo die Großeltern, Kinder und Kindeskinder zusammen am heimischen Herd saßen. So ist es kein Zufall, dass seine Erzählungen in den 50ern spielen. Fast alle gehen auf reale Erlebnisse realer Erzähler zurück, die er selbst noch gehört hat. In den jetzt vorliegenden Geschichten Zwischen Weiden und Eslarn ist der biografische Bezug noch stärker: Die nördliche Oberpfalz war dem Autor schon vertraut, als er in dem nahe gelegenen tschechischen Grenzort Eisendorf (Zelezna) seine Kindheit verbrachte. Nach den Wirren der Vertreibung wurden Altenstadt bei Vohenstrauß, später auch Pleystein zu einer zweiten Heimat. In der Erzählung Die Drei Handkreuze im Elm hat er zum Beispiel „Baptist Wallner“ (Name geändert) verewigt – einen Freund seines Vaters –

Als sich unsere Wege trennten, schüttelte er mir (…) kräftig die Hand und sagte: „Mach’s gut. Schreib alles genau so in deinem Buch auf, wie ich es dir erzählt habe. Meinen Namen lässt du bitte aus dem Spiel: Es ist die Geschichte, die zählt. Namen sind nur Schall und Rauch!“ – Er ging weiter Richtung Vohenstrauß. Müde, nachdenklich, leicht gebeugt. Er hatte so lebendig erzählt, dass ich vergessen hatte, wie alt er schon war. „Baptist!“, rief ich ihm nach: „Herzlichen Dank!“ Er drehte sich nur halb um und winkte mir flüchtig zu. Wer weiß, fragte ich mich, ob ich den alten Schwammerl-Freund meines verstorbenen Vaters noch einmal wiedersehe.
Noch in derselben Nacht schrieb ich seine Geschichten in der Stanzenbachstraße Wort für Wort nieder.

Die Bewahrung mündlicher Erzählungen verbindet Richard Bachmann mit der Bewahrung der eigenen Lebensspuren.
Dem flüchtigen Dasein etwas Beständiges entgegenzusetzen - das ist vermutlich der Grund, warum Geschichten überhaupt erzählt und aufgeschrieben werden. Dabei wird die schriftliche Kultur immer wieder zur Retterin der mündlichen Überlieferung. Die für unsere abendländische Dichtung grundlegenden Werke Homers, die Ilias und die Odyssee (ca. 900 v. Chr.), gingen aus einer mündlichen Erzählkultur hervor. Und auch von der Sagenwelt der Germanen wüssten wir rein gar nichts mehr, wenn sie nicht fleißige isländische Schriftsteller handschriftlich aufgezeichnet hätten (Edda, 13. Jahrhundert n. Chr.). Trotzdem bleibt es paradox, wenn mündliche Erzählungen in Form von Büchern erscheinen. Das lebendig gesprochene Wort verwandelt sich in schwarze Zeichen auf weißem Papier. Wird in Buchstaben, Wörtern und Sätzen gleichsam einbalsamiert. Zwar trotzt das Buch dem Vergessen und der Vergänglichkeit. Aber es ist auch ein untrügliches Zeichen dafür, dass die ursprünglich mündliche Kultur dieser Erzählungen verloren geht.
Ein gutes Beispiel ist Richard Bachmanns Erzählung Nachts am Kalten Baum: Sie entstand noch in den 1970er Jahren und blieb lange Zeit liegen. Der Autor holte das Manuskript erst wieder hervor, als er Zwischen Weiden und Eslarn plante. Er war sehr betroffen, wie veraltet seine Erzählung inzwischen geworden war. Der „Kalte Baum“ lag ja an der ehemaligen Bundesstraße 14. In den 70er Jahren, als die Erzählung entstand, hatte der Baum noch etwas Dörflich-Idyllisches, sogar leicht Unheimliches und Poetisches an sich. Der Verkehr war so mäßig, dass man noch den Charme der alten Landstraße von Vohenstrauß nach Wernberg erahnen konnte. Bis in die 50er Jahre waren dort Fuhrleute mit einem Pferdegespann gefahren. Zu ihnen gehörte auch der „Schaller Wastl“ (Name geändert), dem beim Kalten Baum Gespenster erschienen sind. Inzwischen fristet der Kalte Baum aber selbst nur noch eine gespenstische Existenz: Eine lärmende Autobahn (A6) bohrt sich in die Landschaft hinein. Die vorbeischießenden Fahrzeuge wirbeln im Winter aggressive Salznebel auf, die dem altehrwürdigen Baum den Garaus machen. Trotz eines gigantischen Schutzwalls und teurer Verpackungen mit einer Spezialfolie ist er nicht mehr zu retten. Er verliert seine Blätter und verkümmert zu einem Gerippe aus totem Holz. Vor einigen Jahren hat man einen neuen Baum in der Nähe gepflanzt. Doch auch dieser wird schon vom Salz zerfressen. – Welch eine Symbolik! Die alte heimatliche Schönheit und Poesie liegt im Sterben. Und etwas Neues wächst nicht mehr nach. Richard Bachmann hat sich entschlossen, seine Erzählung aus den 70er Jahren unverändert zu veröffentlichen. Sie ist selbst schon eine historische Erinnerung, die es zu bewahren gilt. Und sie zeigt, wie bedrückend schnell die Heimat ihr vertrautes Gesicht verliert.
Bleibt am Ende also nur ein pessimistischer Ausblick? Zu dieser Einschätzung könnte man leicht kommen, wenn man die Dinge nur geschichtlich betrachtet. Geschichte an sich hat schon eine melancholische Tendenz: Geschlechter kommen und gehen und im Grunde ist alles auf Sand gebaut. Die mündliche Erzählkultur ist unwiderruflich Vergangenheit. Sie lässt sich nicht einfach wieder herstellen. Und je moderner die Welt wird, desto beschleunigter erleben wir Veränderungen. Städte und Landschaftsbilder und Lebensweisen wandeln sich innerhalb eines einzigen Jahrzehnts viel schneller als früher in Jahrhunderten. In diesem Wirbelwind ständiger Veränderung verlieren viele ihren Halt, ihre Identität, erst recht ihren Sinn für heimatliche Kultur. – Aber sobald man den Menschen einmal als geistiges und seelisches Lebewesen betrachtet, sieht alles ganz anders aus. Denn warum interessieren uns Gespenster-Geschichten bis heute? Weil wir Lust am Gruseln haben, Lust an Fantasie. Weil wir Sehnsucht nach heimatlichen Geschichten haben, die uns und unserer Umgebung eine einmalige Identität verleihen. Und obwohl wir aufgeklärte Zeitgenossen sind, die selten oder gar nicht an das Übersinnliche glauben, lassen uns die letzten Fragen unserer Existenz niemals los. Schließlich geht es bei Gespenster-Erscheinungen um den alles entscheidenden Zweifel, ob die Seele nur materiell und sterblich oder ob sie immateriell und nicht an den Körper gebunden, also womöglich unsterblich ist. In seiner berühmten Gespenster-Ballade Lenore (1773) bringt Gottfried August Bürger diese Sehnsucht auf den Punkt:

Kein Sakrament mag Leben
Den Toten wiedergeben.
Bei Gott ist kein Erbarmen.
O weh, o weh mir Armen!

Die Frage nach einer höheren geistigen Wirklichkeit ist ebenfalls eine Gemeinsamkeit zwischen geschriebener Literatur und mündlicher Überlieferung. In Richard Bachmanns Erzählungen ist die Auseinandersetzung um die Glaubwürdigkeit der Gespenster-Erscheinungen ein durchgehendes Leitmotiv. Die Geisterseher zeigen hier ihre größte persönliche Betroffenheit. – In Nachts am Kalten Baum versichert der „Schaller Wastl“ -

Doch nichts auf der Welt konnte ihn davon abbringen, dem Burgfräulein und ihrem Liebhaber begegnet zu sein. Und der wilde Reiter war niemand anders als der hartherzige Burggraf, der durch das Unrecht an seiner Tochter zur ruhelosen Wiederkehr an den Ort seiner Tat verdammt ist. Da war sich der Schaller Wastl ganz sicher. Wenn man ihn fragte, warum er sich da so sicher sei, antwortete er immer „Dieser allerletzte Verzweiflungsschrei des Fräuleins, zum Zeitpunkt, als all der andere Spuk schon vorbei war, diesen Schrei höre ich bis heute. – Ich sage euch Diese Seele ist immer noch lebendig.“

Wenn es überhaupt einen Beleg für Gespenster gibt, dann im unmittelbaren eigenen Erlebnis. In Hamlet, dem großen Gespenster-Drama, heißt es -

Bei meinem Gott, ich dürfte dies nicht glauben,
Hätt’ ich die sichre, fühlbare Gewähr
Der eignen Augen nicht.

Es geht nicht darum, Gespenster wissenschaftlich zu beweisen. Sondern darum, ob wir überhaupt noch empfänglich sind für Fantasie. Ob wir bereit sind, in unseren Heimat-Gefühlen und romantischen Sehnsüchten eine seelische Realität zu erkennen, die für das Leben unverzichtbar ist. Oder ob wir in passiver Nostalgie und bloßer Sentimentalität verharren. Wenn wir alles Fantastische verlieren, sowohl in unserer Umwelt wie in uns selbst – dann liegt das auch an uns. Fantasie ist ein Menschenrecht, sagt Richard Bachmann sehr schön in seinem Vorwort. Aber von seinen Rechten muss man auch Gebrauch machen, wenn sie eine Wirkung haben sollen. Insofern ist der Erzählband Zwischen Weiden und Eslarn ein Zeichen der Hoffnung.

Stuttgart, im Februar 2011
Günter Bachmann