Entscheidungsfindung

Literatur:
Sloan Management Review, Frühjahr 2001
“Decision Making: It’s Not What You Think”
Auch in: Harvard Business Manager 6 (2001)
Henry Mintzberg/Francis Westley

Seit Herbert Simons Administrative Behavior (1957) ist es
zum Standard-Wissen geworden: Informationen sind niemals
vollständig. Sie sind ihrem Wesen nach unendlich, können
stets erweitert, ergänzt und modifiziert werden. Wer darauf
warten wollte, alle Informationen zu finden, die für ein
komplexes Problem wichtig sind, der könnte niemals eine
Entscheidung treffen. Da man also eine Grenze ziehen muss und
niemals alle Daten zusammenbekommt, die eine objektiv absolut
rationale Lösung zuließen, ist jede Entscheidungsfindung
unaufhebbar subjektiv, unaufhebbar intuitiv. Dieser irrationale
Rest bleibt bestehen, auch wenn die Analysen noch so brillant und
gründlich sind. Herbert Simon plädiert deshalb
dafür, eine pragmatisch befriedigende, gut begründete
Entscheidung zu treffen, in die auch Erfahrung und Gefühl
eingehen. Das heißt: ein Satisficing zu erreichen
– und nicht die illusionäre Perfektion. Das bedeutet
freilich noch nicht, dass man sich rückhaltlos zu einem
straight from the guts im Stil von Jack Welch bekennt. Es
geht um die schlichte Anerkennung der Tatsache, dass Entscheidungen
ein explosives Gemisch aus Rationalität und Intuition
sind.

Aus geisteswissenschaftlicher Sicht ist dieses Ergebnis
keineswegs überraschend. Generationen von Studenten haben
gelernt, dass der so genannte hermeneutische Zirkel jede
rationale Analyse bestimmt: Um ein Ganzes zu verstehen,
benötige ich ein Vorverständnis der Teile, aus dem es
sich zusammensetzt. Um die Teile zu verstehen, benötige ich
wiederum ein unausgesprochenes Bild des Ganzen, das bereits der
Auswahl bestimmter Details zu Grunde liegt. Streng genommen enden
wir bei der Einsicht Immanuel Kants, dass wir nur
Zusammenhänge erkennen, die wir schon im Vorfeld methodisch in
ein Problem hineinprojiziert haben. Das jedoch ist kein Grund, in
unproduktiven Skeptizismus zu verfallen: Denn was sollten wir mit
Erkenntnissen anfangen, die sich nicht auf unser kulturelles
Vor-Verständnis beziehen lassen? Der hermeneutische Zirkel
konstituiert Bedeutung und Sinn - solange wir ihn nicht vergessen,
solange wir uns also bewusst sind, dass unser Interpretieren und
Erkennen niemals absolute, sondern bloß relative und
diskutierbare Einsichten hervorbringt.

Der oben genannte Artikel geht nicht auf diese grundlegenden
Diskussionen ein. Er plädiert für eine Erweiterung der
Entscheidungsfindung, da viele Entscheidungen erwiesenermaßen
sprunghaft, zirkulär und unvorhersehbar in der
geschäftlichen Praxis ablaufen. Auch rein empirisch lässt
sich feststellen: Das rationale Modell genügt nicht. Die
Autoren entwerfen deshalb sehr brauchbare Typen der
Entscheidungsfindung, in denen die Rationalität nur eine unter
mehreren Varianten darstellt:

Typ 1: Zuerst überlegen – das rationale Modell

Für diesen Typ brauchen wir ein klar definierbares Problem.
Ferner Ursachen, die tatsächlich analysierbar sind. Dann folgt
der Entwurf rationaler Lösungsmodelle, die sich messen und
hinsichtlich ihrer Relevanz sinnvoll vergleichen lassen. Das beste
Modell wird dann ausgewählt und umgesetzt.

Anwendungsgebiete dieses rationalen Typs finden sich in der
Wissenschaft, der Planung und Programmierung, aber auch in der
sachlichen und faktenorientierten Diskussion.

Das Ergebnis dieser Art der Entscheidungsfindung sind
sprachliche Kategorien und Argumente, die auf einem rationalen
Konsens beruhen. Der Dissens steckt aber gewöhnlich im Detail.
Denn sprachliche Argumentationen zwingen Teammitglieder noch nicht
dazu, in den Einzelproblemen übereinzustimmen. Trotz des
übergeordneten Bekenntnisses zur Rationalität sind
Wörter leider vieldeutig und erzeugen sehr leicht Streit und
Missverständnisse.

Die Methode Zuerst überlegen ist deshalb vor allem
problemorientiert. Sie setzt einen Zusammenhang voraus, der in sich
schon gut strukturiert ist. Sie erfordert klar umrissene Aufgaben,
sehr zuverlässige Daten, eine nachvollziehbare Ordnung –
und sehr viel Disziplin der Teammitglieder.

Typ 2: Zuerst sehen

Visuelles Imaginieren spielt bei Entscheidungen oft eine Rolle.
Im Unterschied zu den stets ambivalenten Wörtern zwingt die
Aufgabe, ein gemeinsames Bild zu entwerfen, zu einem echten
und wortwörtlich sichtbaren Konsens. Dieser Typus integriert
Lösungen zu einem oft überraschenden Ganzen. Und für
alle Beteiligten stellt es einen kreativen Prozess her. Wer mit
Worten nicht weiter kommt, der zeichne zusammen mit seinen
Gesprächspartnern ein Bild.

Die Anwendungsgebiete für dieses Modell werden in der
Kunst, bei Visionen und bei Ideen lokalisiert. Es empfiehlt sich,
wenn viele Elemente in eine innovative Lösung zu integrieren
sind. - Und wenn ein echter Konsens und funktionsübergreifende
Kommunikation angestrebt werden. Als vorbildlich verweisen die
Autoren auf das Kreativitätsmodell, das in den 20er Jahren von
dem Gestaltpsychologen G. Wallas entwickelt wurde: Die Beteiligten
sollten vorbereitet sein, indem sie bereits unsystematisch
lösungsbezogenes Wissen akkumuliert haben. Sie sollten eine
Phase der Inkubation, eines bewussten und unbewussten
Brütens über Lösungsmöglichkeiten bereits
durchlaufen haben. Nur durch diese Vorarbeiten ist die
Erleuchtung, ein plötzliches „Sehen“ der
Lösung wahrscheinlich. Am Ende steht die Verifikation,
die gewissenhafte Überprüfung der aufgefundenen
Entscheidung durch Verstand und Rationalität.

Im Unterschied zum rationalen Typ ist diese Art der
Entscheidungsfindung lösungsorientiert.

Typ 3: Zuerst handeln

Es gibt Situationen, in denen weder überlegen noch sehen
weiter bringt. Dann vor allem, wenn das Problem völlig neu und
verwirrend, scheinbar ausweglos und außerordentlich riskant
ist. Hier ist pragmatisches Handeln und Experimentieren angezeigt.
Intuitives trial and error. Handeln und Lernen sind
bekanntlich ein Zyklus. Sie unterstützen sich gegenseitig.
Vielseitiges Probieren lässt Rückschluss darauf zu, was
funktioniert und was nicht funktioniert. Ein ständig
fließendes Feedback erlaubt immer gezieltere Tests, immer
gezieltere Hypothesen, bis man im Optimalfall die Lösung
erreicht hat.

Anwendungsgebiete finden sich im Handwerk, in riskanten
Lebens-Situationen, bei Lernprozessen - und generell in
praxisbezogener Erfahrung. Man muss handeln, wenn man nicht mehr
weiter weiß. Denn wer handelt, kann nicht länger
zurückhaltend sein und muss Entscheidungsmodelle an der
überlegenen Komplexität der Wirklichkeit konkret
messen.

Die Methode ist eindeutig lernorientiert.

Fazit:

Diese Typen der Entscheidungsfindung können natürlich
auch misstrauisch stimmen. Sie bilden eine verführerisch
geschlossene Triade, die sich auf grundlegende anthropologische
Elemente wie Wissenschaft, Kunst und Handwerk bezieht. Vielleicht
allzu glatt und widerspruchsfrei. Denn in allen Entscheidungen
können sich natürlich rationale Analysen, visuelles Sehen
und experimentelles Handeln überschneiden. Das räumen die
Autoren selbst ausdrücklich ein. Dennoch handelt es sich um
ein idealtypisches Schema, das auch für die Praxis an Relevanz
gewinnt. Bei einem schon gegebenen Produktionsprozess wird man am
besten rational, bei der Entwicklung neuer Produkte am besten
visuell, bei der Einführung einer neuen Technik am besten
handelnd vorgehen. Zweifellos lässt sich die nicht
reduzierbare Irrationalität aller Entscheidungsprozesse mit
dieser Typologie weit besser erfassen, als durch die Konzentration
auf nur eine Methode. Besonders das rationale Modell verfällt
am leichtesten der Irrationalität, wenn es absolut gesetzt
wird.

© 2002 Günter Bachmann