Lean Thinking

Das Konzept des schlanken Denkens stammt aus der japanischen
Management-Praxis nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
Insbesondere Taiichi Ohno (1912-1990), damals der strategische Kopf
von Toyota, wird mit der neuesten industriellen Produktionsweise in
Verbindung gebracht. Durch die berühmte MIT-Studie "The
Machine That Changed The World" (1990) von James P. Womack,
Daniel T. Jones und Daniel Roos wird der revolutionäre Ansatz
dieser Methode erstmals einer breiten Öffentlichkeit
schlagwortartig bewusst: "Lean Thinking" erscheint als
dritte Phase eines unumkehrbaren Prozesses, der mit der
handwerklichen Produktion begann, dann zur großvolumigen und
standardisierten Massenproduktion in Reihen und Schüben
("queues and batches") führte – um
schließlich in variable und kleinvolumige Serien
überzugehen, die den oft unberechenbaren Marktschwankungen und
den differenzierteren Kundenansprüchen besser und schneller
gerecht werden. "Single-piece-flow" und "just in
time" werden heute von allen modernen Anbietern von Produkten
und Dienstleistungen angestrebt. Denn diese Methode vermeidet
einerseits die hohen Kosten handwerklicher Produktion, andererseits
die rigide, umständliche und unflexible Monotonie der
Massenherstellung. Und sie ist die billigste Produktionsweise, weil
ihre Logik gerade darin besteht, mit immer weniger Aufwand immer
mehr zu erreichen – bei gleichzeitiger Perfektionierung und
Qualitätssteigerung von Produkt und Service.
Das Label "Lean Thinking" ist US-amerikanischer, nicht
japanischer Herkunft und stammt aus der Feder oben genannter
Autoren. Das wichtigste japanische Stichwort ist "muda", was englisch am besten als "waste", deutsch als Müll, Abfall, Ausschuss oder,
abstrakter, als unnötiger Prozess-Schritt wiedergegeben wird.
Denn jede Aktivität, die Ressourcen verbraucht, ohne einen
ökonomischen Wert zu schaffen, ist per definitionem
"muda". Taichii Ohno, der erklärte Gegner aller
und jeder Form von "muda", hat sieben Quellen
spezifiziert, die Müll verursachen:

  • Überproduktion, die der tatsächlichen Nachfrage
    vorauseilt.
  • Die daraus resultierenden großen Lagerbestände, die
    über das notwendige Minimum weit hinausgehen.
  • Untätigkeit und Warten, weil der nächste konkrete Schritt
    in der Produktion nicht durchgeführt werden kann. Etwa wegen
    Terminschwierigkeiten mit Zulieferern oder weil der eigene
    Produktionsprozess wegen zu langer Umrüstungszeiten oder
    dogmatischer Kapazitätsauslastung teurer und unflexibler
    Maschinen ins Stocken gerät.
  • Unnötiger Transport von Material aufgrund geographisch
    zerstreuter Produktionsanlagen.
  • Eine übermäßige Bearbeitung von Teilen, verursacht
    durch schlechtes Werkzeug und schlechtes Design.
  • Unnötige Bewegungen von Mitarbeitern, die Teile, Werkzeuge
    oder auch Rat und Hilfe suchen.
  • Mangelhafte Teile, die eine Nachbearbeitung nach Ende des
    tatsächlichen Produktionsprozesses erfordern.

Womack und Jones fügen noch einen wichtigen, für die
japanische Mentalität offenbar selbstverständlichen Punkt
hinzu: "Waren und Dienstleistungen, die dem
Kundenbedürfnis nicht gerecht werden." (Lean Thinking,
S. 15)
"Muda" hängt durchweg mit den Systemzwängen
der Massenproduktion zusammen. Deshalb haben Womack und Jones die
intelligente und überlegene Praxis von Unternehmen wie Toyota
oder Honda in klare Handlungsanweisungen übersetzt, die Lean
Thinking für westliche Firmen erkennbar und anwendbar machen
sollen. Deutlich hervor tritt dabei ein Ansatzpunkt, der jeder
wirtschaftlichen Aktivität zugrunde liegt: Die Orientierung am
Kunden, die allen Geschäftsprozessen ihren Sinn, ihre
Ausrichtung und ihre ökonomische Wertschöpfung verleiht.
Dieser konsequente Grundgedanke bildet das erste von insgesamt
fünf Prinzipien, die eine schlanke Organisation befolgen
sollte:

1. Definieren Sie den Wert

Am Anfang von Lean Thinking steht der Wert (value). Der Wert
kann nur vom Endverbraucher definiert werden. Und der Wert hat nur
dann eine Bedeutung, wenn er in Form eines spezifischen Produkts
(und/oder einer spezifischen Dienstleistung) ausgedrückt wird,
das auf das Bedürfnis des Kunden mit einem bestimmten Preis zu
einer bestimmten Zeit exakt zugeschnitten ist. (Lean Thinking, S.
16ff.) Die genaue Spezifikation des Wertes durch ein spezifisches
Produkt für spezifische Kundenbedürfnisse ist also die
Basisoperation, die das ganze System trägt.
Obwohl der Kunde bekanntlich König ist, scheint diese
Voraussetzung nur in den seltensten Fällen vollständig
wahrgenommen zu werden. Denn der Wert wird freilich vom Produzenten
faktisch geschaffen. Aber eben nicht definiert. Womack/Jones
berichten ausführlich über die Blindheit von Herstellern,
die in ihre eigene Produktionsprozesse und Organisationsformen
derart verstrickt sind, dass sie glauben, sie liefern die
Definition des Wertes zugleich und in Eins mit dem Produkt. Selbst
Topmanager sitzen dieser Täuschung bereitwillig auf. Ihr Fokus
wird oft von der Technologie, den Kernkompetenzen und den
strategischen Absichten überlagert. Ob diese deckungsgleich
mit den Ansprüchen potenzieller Käufer sind, bleibt
fraglich, weil erstaunlich selten danach gefragt wird. Kurzfristige
Wettbewerbsprobleme, Kostensenkungsprogramme, vor allem die
nächsten Quartalszahlen füllen das Alltagsbewusstsein der
Führungskräfte so sehr aus, dass die
ausschließliche Definition des Wertes durch den Kunden
schlicht aus dem Blickfeld gerät. Die Folge ist ein hektischer
Ausgleich mangelhafter Wertschöpfung durch Abbau von
Arbeitsplätzen: das Downsizing-Syndrom. Nicht wenige Firmen,
so Womack und Jones, verwechseln "lean" mit
"mean" (englisch = gemein).
Können Sie sich vorstellen, wie ein Produkt-Entwurf
voranschreitet, vom ursprünglichen Konzept bis zur
Markteinführung? Wie ein Auftrag als Information durch Ihre
Organisation fließt, von der Anfrage bis zum gelieferten
Produkt? Und welche einzelnen Prozesse das Produkt selbst
durchlaufen muss, vom unbearbeiteten Rohmaterial bis hin zum
Endverbraucher? Können Sie wirklich ruhigen Gewissens sagen,
dass bei jedem dieser Schritte der Wert eindeutig spezifiziert und
geschaffen wird? - Mit diesen Fragen treiben schlanke Denker dicke
Organisationen in die Enge. Meist wird eben nur erwartet, dass die
Produkte Absatz finden. Marktanalysen, Statistiken und
Verbraucher-Tests mit unspezifischen Versuchspersonen können
die ernsthafte organisatorische Integration konkreter Kunden in den
Produktionsprozess nicht ersetzen. Als besonders abschreckendes
Beispiel wird die introvertierte deutsche Ingenieurskultur zitiert.
Dort verbreiten sich selbst die ranghöchsten Manager über
die kleinsten Details der Produktausstattung und neuer
Fertigungsmethoden. Aber wer spezifiziert ihren Wert? - Nicht die
Kunden, sondern die Ingenieure, die die Firma leiten. (Lean
Thinking, S. 17) Das führt nicht selten zu der
Mentalität, dass den Kunden erst beigebracht werden soll, was
ihre wahren Bedürfnisse sind. Dass sie die technischen
Feinheiten der Produkte vielleicht gar nicht richtig zu
schätzen wissen: "Ein zentrales Charakteristikum der
Krise der deutschen Industrie seit dem Ende des kalten Krieges ist
das dämmernde Bewusstsein, dass die komplexen Spezialdesigns
und die anspruchsvollen Produktionstechnologien, die von deutschen
Ingenieuren favorisiert werden, zu teuer für die Kunden sind
und oft an ihren wahren Bedürfnissen vorbeigehen."(Ibd.)
Worauf es also ankommt, das ist eine Neukonzeption des Wertes aus
der Perspektive des Kunden. (Lean Thinking, S. 18) Dieses alles
entscheidende Prinzip macht bereits deutlich, dass Lean Thinking
die Arbeitswelt tatsächlich revolutioniert hat: Wer Ernst
nimmt, dass letztlich die Kaufentscheidung des Kunden den Wert
definiert, wird bestrebt sein, die gesamte Wertschöpfungskette
an dieser Instanz auszurichten. Der Gedanke des kommunikativen
Netzwerks entsteht. So entwickelte Toyota nach dem Zweiten
Weltkrieg ein Distributionssystem, in dem Zulieferer, Hersteller,
Händler und Kunden eng zusammenarbeiteten. Die Verkäufer
dekorierten nicht nur den Ausstellungsraum. Sie gingen auf die
Kunden zu ("aggressive selling"). Ihre Wünsche und
ihr Verkaufsverhalten wurden in riesigen Datenbanken gesammelt und
ausgewertet, gerade so, als handle es sich um ein anthropologisches
Forschungsprojekt. Das Ziel: Lebenslängliche Markentreue wird
mit konkreten Hinweisen konkreter Toyota-Kunden gezielt
gefördert. Und diesem obersten Gebot der Wertdefinition haben
sich alle Produktionsprozesse auch firmenübergreifend zu
unterwerfen. (Machine, S. 66f.) Dies mag angesichts der japanischen
Mentalität, die Zulieferer durch wechselseitig stützende
Kapitaleinlagen zu industriellen Großfamilien
("keiretsu") zusammenschweißt, durchaus etwas
leichter fallen. Aber auch die japanische Industrie hat später
Fehler gemacht, die aus ihrer stark national orientierten
Produktionsweise hervorgingen. Im Zeitalter der Globalisierung
hatte sie es versäumt, rechtzeitig auch im Ausland komplette
Produktionsanlagen aufzubauen, die auf den jeweiligen Markt
zugeschnitten sind. Das Dogma, zu Hause herzustellen, unterlief die
Einsicht, dass eine direkte Produktion vor Ort
Währungsschwankungen und Protektionismus ausschaltet, einen
direkten Zugriff auf den Kunden gewährleistet und für die
notwendigen Produktvarianten sorgt. Ausgerechnet die japanischen
Autohersteller missachteten einen Grundsatz des Lean Thinking:
Alles nach Möglichkeit auf engem Raum vor Ort herzustellen und
zu liefern. Der Fehler ist spätestens seit den 80er Jahren
erfolgreich korrigiert.

2. Identifizieren Sie den Wert-Strom

Der Wert-Strom (value-stream) umfasst alle spezifischen
Aktionen, die notwendig sind, um ein spezifisches Produkt
hervorzubringen. Den gesamten Wertstrom zu identifizieren ist der
nächste Schritt zur schlanken Firmenorganisation. Und dies
schlägt sich in drei wesentlichen Management-Aufgaben
nieder:

  • Problemlösungs-Aufgabe (problem-solving task): Sie reicht
    vom Konzept über das detaillierte Design und die Technik bis
    zum Produktionsbeginn.
  • Informations-Management-Aufgabe (information management task):
    Sie geht von der Auftragsannahme über die genaue Zeitplanung
    bis zur Lieferung.
  • Physikalische Umwandlungs-Aufgabe (physical transformation
    task): Erstreckt sich vom Rohmaterial bis auf das fertige Produkt
    beim Kunden.

Nach der Definition des Wertes ist also die Identifikation des
gesamten Prozesses, durch den der Wert geschaffen wird,
unabdingbar. Die "value stream analysis" ist ein
mächtiges Mittel zur Wahrnehmung und anschließenden
Beseitigung von "muda". Denn erst jetzt lässt sich
eindeutig bestimmen, was unzweifelhaft Wert schafft und was nicht.
Dabei werden vor allem zwei Formen des Organisationsmülls
hervortreten: Einmal der vorläufig unvermeidliche Müll,
der durch die gegenwärtigen Technologien und
Vermögenswerte (wie den Maschinenpark) verursacht wird.
Denkbar sind auch politische und soziale Rahmenbedingungen, die aus
Gründen der Legalität zu akzeptieren sind. Oder
Mentalitätsprobleme mit Geschäftspartnern, die noch nach
dem alten System arbeiten, nichtsdestotrotz aber Teil des
gemeinsamen Wert-Stroms sind. Die Idee eines Stroms deutet schon
darauf hin, dass Lean Thinking nicht nur im Bereich der
Kommunikation, sondern ebenso konsequent im Bereich physikalischer
Produktion statische Strukturen firmenübergreifend
auflöst. Angestrebt wird dabei freilich nicht die
herkömmliche vertikale Integration, sondern eine freiwillige
Allianz, deren Lebensdauer genau so lange vorhält wie die
Lebensdauer des Produkts. (Lean Thinking, S. 21) Durch die
Wert-Strom-Analyse werden aber auch, zweitens, die vermeidbaren,
also unnötigen und keinen Wert schaffenden Schritte sichtbar,
die relativ problemlos erkannt werden können. Diese ergeben
nämlich schlicht keinen Sinn, ob man sie nun isoliert
betrachtet oder auch mit anderen Schritten kombiniert. Letztlich
bezeichnet diese Identifikationsarbeit den Anfang zu einer
unendlich fortschreitenden Perfektionierung des eigenen Systems,
die das idealtypische Ziel von Lean Thinking ist: „Unser
ernster Rat an heutige schlanke Firmen ist einfach: Zur Hölle
mit Ihren Konkurrenten. Treten Sie in den Wettbewerb mit der
Perfektion, indem Sie alle Aktivitäten identifizieren
und beseitigen, die ‚muda‘ sind.“ (LeanThinking,
S. 49)

3.) Flow: Bringen Sie die Wert schaffenden Schritte in einen kontinuierlichen Fluss

Sie haben also den Wert aus der Perspektive des Kunden
präzise spezifiziert und den "value-stream"
identifiziert. Darauf folgt der dritte Schritt, der sinnvoll anhand
der Produktionsumstellung bei Toyota rekonstruiert werden kann:
Unterschiedliche Prozess-Schritte werden in eine unmittelbar
aufeinander folgende Sequenz gebracht. Das Produkt befindet sich in
einem kontinuierlichen Herstellungsprozess (continuous flow). Dies
setzt den Grundgedanken voraus, dass eine Sache auf einmal gemacht
wird (single-piece-flow). Kleinere und variablere Mengen werden
produziert (low-volume-production). Maschinen werden miniaturisiert
(right-sizing) und können ohne großen Aufwand
umgerüstet werden. Kleinvolumige Produktion entspricht den
zyklischen und labilen Marktanforderungen und wechselnden
Kundenbedürfnissen besser und schneller, der Output ist
höher, die Kosten und die Fehlerrate niedriger. Wenn das
Produkt nicht mehr zwischen verschiedenen, weit voneinander
entfernten Anlagen hin und her wandert, wenn es nicht mehr in der
Warteschleife steht, um von unflexiblen Massenproduktions-Maschinen
weiterverarbeitet zu werden, wenn es also ununterbrochen
fließt, dann haben Sie eine radikale Verbesserung erreicht.
Lean Thinkers nennen diese grundlegende Neuordnung des
Produktionsprozesses „kaikaku“.
Diese Produktionsmethode hat dramatische Auswirkungen auf die
Firmenorganisation. Funktionales Abteilungsdenken stirbt mit der
Massenproduktion. Wer nicht mehr in „queues and
batches“ produziert, benötigt engagierte
funktionsübergreifende Prudukt-Teams, die sicherstellen, dass
alle am „single-piece-flow“ Beteiligten ständig
miteinander kommunizieren. Inklusive der Arbeiterinnen und
Arbeiter, von denen wertvolle Verbesserungen des Prozessflusses
angeregt werden. Neben der allgegenwärtigen und
grenzüberschreitenden Kommunikation ist also Teamwork und das
Managen von vielen simultanen Prozessen gefragt. Auch die
Führungsqualitäten ändern sich. Wenn es der
Organisation nicht gelingt, ihre Firmenkultur auf diese
Anforderungen abzustimmen, wird sie schlicht vom Abteilungsdenken
ausgebremst. Notwendig sind Team-Manager, die über eine
starke, von der Firmenleitung unmissverständlich legitimierte
Autorität verfügen. Außerdem muss
Teamfähigkeit auch in der Bezahlung und bei Beförderungen
den Ausschlag geben. In Japan werden die übergeordneten
Team-Organisatoren eines Produkts "shusas" (Toyota)
oder auch LPLs (large-project leaders (Honda)) genannt. Sie
genießen ein außerordentlich hohes Ansehen und sind
gleichsam die Inkarnation des von ihnen betreuten Produkts:
"In einer Ära, wo die Kompetenzen nicht so sehr
technisch als vielmehr sozial und organisatorisch sind – und
weit jenseits des Zugriffs irgendeines Einzelnen, müssen die
traditionellen Handwerker jetzt die Gestalt des "shusa"
annehmen." (Machine, S. 113)
Neben der Beschleunigung aller Kommunikationsprozesse durch Inter-
und Intranet ist die Konzentration auf den
"single-piece-flow" ein mächtiges Triebrad
für Wissensarbeit, ständiges Lernen und ungehinderten
Informationsfluss geworden. Schon Taichii Ohno hat das
Abteilungsdenken und die damit zusammenhängende Manie, am
Markt vorbei in unendlichen Reihen und Schüben zu produzieren,
heftig kritisiert. Seiner Ansicht nach ist der Zivilisationsprozess
an dieser unsinnigen Produktionsweise schuld: Die ersten Farmer
orientierten sich am Modell des Aufspeicherns von
Erntebeständen und haben die Weisheit der Jäger, eine
Sache auf einmal komplett durchzuführen, verdrängt. (Lean
Thinking, S. 22) Eine näher liegende Analyse scheint mir
einfach folgende: Die Unbeständigkeit und globale Erweiterung
des Marktes sowie die immer differenzierteren Kundenansprüche
machen „single-piece-flow“ zur unabdingbaren
Notwendigkeit. Die Geschwindigkeit, mit der exakt geliefert werden
kann, was der Käufer wünscht, entscheidet mehr als alles
andere über den Erfolg. Der Zeitdruck, der durch die
Informationstechnologie bedeutend gesteigert wurde, schlägt
sich in den Übersichtstafeln, den so genannten „process
maps“ nieder, die jedem Mitarbeiter in einer schlanken
Produktion verdeutlichen, auf welchem Weg das Produkt gerade ist
und was zur Geschwindigkeitserhaltung bzw. -steigerung des
Produktionsprozesses unmittelbar zu tun ist.
Kurz gesagt: Die Dinge laufen schneller, wenn Sie sich auf das
Produkt und seine Bedürfnisse konzentrieren und nicht auf die
Organisation oder Ausrüstung, so dass all die
Aktivitäten, die für das Design, die Bestellung und
Herstellung von Produkten gebraucht werden, in einem
kontinuierlichen Fluss sind.

4. Pull: Lassen Sie den Kunden das Produkt ziehen

Das bedeutet: Sie können den Kunden jetzt das Produkt von
Ihnen ziehen lassen, so wie er es braucht; statt dem Kunden ein
Produkt aufzudrängen, das oft nicht gewollt wird. (Lean
Thinking, S. 24) Wir erinnern uns: Die Identifikation der
wertschöpfenden Schritte sowie der kontinuierliche Fluss der
Produktion hatten ihren entscheidenden Anstoß von der
Wertdefinition des Kunden erhalten. Hier schließt sich der
Kreis wieder: beim zahlungswilligen Käufer. Er bestimmt nicht
nur die Marktrealität, sondern jetzt auch Ihr Unternehmen.
Vorbei die Überschussproduktionen, die man zu Dumping-Preisen
losschlagen muss. Vorbei die riesigen Bestände, die Unsummen
verschlingen. Vorbei die Metaphysik der Verkaufsprognosen für
unkalkulierbare Märkte. Das Nervensystem einer schlanken
Organisation reagiert sensibel auf jede Berührung mit dem
Klienten. Die Kundschaft ist immer schon im Team, wenn Sie
entscheiden, wann Sie was in welcher Stückzahl
herstellen.
Um die Logik des „pull thinking“ zu verstehen, schlagen
Womack/Jones folgende einfache Übung vor: Denken Sie an einen
realen Kunden, der einen Bedarf für ein reales Produkt hat und
arbeiteten Sie sich dann rückwärts durch alle Schritte
durch, die erforderlich sind, um das gewünschte Produkt zum
Kunden zu bringen.

5. Streben Sie nach Perfektion

Wenn Sie alle vorstehenden Maßnahmen durchgeführt
haben, dann beginnt etwas „sehr Seltsames“ (Lean
Thinking, S. 25): Es entsteht ein endloser Prozess der
Verbesserung, eine endlose Annäherung an Perfektion. Aufwand,
Zeit, Raum, Kosten und Fehler können immer weiter reduziert
werden. Wer den Wert-Strom identifiziert hat und alle Schritte in
einen schnelleren kontinuierlichen Fluss bringt, der bemerkt erst
jetzt die zahllosen versteckten Quellen für
„muda“. Der Müll wird durch das unausgesetzte
Bestreben, diesen Fluss zu beschleunigen, immer weiter freigelegt.
Und je stärker der Auftraggeber „zieht“, desto
effektiver wird „muda“ beseitigt: „Engagierte
Produkt-Teams im direkten Dialog mit den Kunden finden immer
Möglichkeiten, den Wert noch präziser zu bestimmen und
lernen immer besser, den Fluss und Zug im Unternehmen zu
steigern.“ (Lean Thinking, S. 25) Dies ist, nach der
radikalen Neuausrichtung der Produktionsweise (kaikaku), die zweite
Verbesserungsphase: das so genannte „kaizen“, ein
Prinzip gradueller, stets fortschreitender Verbesserung.
Der vielleicht wichtigste Antrieb zur Perfektionierung beruht auf
der Idee einer durchgehenden und totalen Transparenz aller
Aktivitäten. Ein wesentliches Merkmal des schlanken
Unternehmens ist ja nicht zuletzt die visuelle Darstellung des
Produktionsprozesses. Ob nun Subunternehmer, Zulieferer,
Systemintegratoren („assemblers“), Händler, Kunden
oder Mitarbeiter: Alle müssen alles sehen, was in der
Produktion gegenwärtig abläuft. Und so „ist es
einfach, bessere Wege zur Schaffung von Wert zu entdecken. Mehr
noch: Es gibt ein fast sofortiges und sehr positives Feedback
für Mitarbeiter, die Verbesserungen erzielen.“ (Lean
Thinking, S. 26) Ein großer Vorteil des
“single-piece-flow” besteht vor allem darin, dass die
unmittelbar in der Produktion Beschäftigten Fehler sofort
entdecken und beseitigen können. Umständliche und
kostenintensive Nachbearbeitungen am Fertigprodukt entfallen somit
fast vollständig. Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden dazu
ermutigt, bessere Lösungen zu finden, Vorschläge zu
machen und ihr wertvolles praktisches Wissen frei auszutauschen.
Undenkbare Zustände gewiss für alte
Massenproduktionsbetriebe. Ein Geheimnis des Erfolges von Lean
Thinking scheint mir deshalb vor allem die effektive und offene
Kommunikationsstruktur zu sein, die es im Unternehmen nachhaltig
fördert. Im Hause Honda herrscht nicht umsonst folgende
Maxime: „Wir wünschten, wir könnten ein ganzes Auto
in einem großen Raum entwerfen, technisch gestalten,
herstellen und montieren, sodass jeder Beteiligte einen
persönlichen Kontakt zu allen anderen hat.“ (Machine, S.
200)

Lean Thinking versus German Technik

Unter diesem Titel findet sich eine interessante Fallstudie
über das deutsche Unternehmen Porsche (Lean Thinking, S.
189-218). Interessant deshalb, weil Porsche ein besonders typischer
Repräsentant für deutsche Technikorientierung ist,
andererseits aber seit Beginn der 90er Jahre einen überaus
erfolgreichen Umbau zu einer schlanken Organisation vollzogen hat.
Wendelin Wiedeking, vormals Leiter des Autoteileherstellers Glyco,
wurde 1991 als „change agent“ von Porsche engagiert und
stieg nach kurzer Zeit zum Vorstandsvorsitzenden auf. Wiedeking
machte seinen direkten Mitarbeitern zur Auflage, „The Machine
that changed the World“ zu studieren. Er weckte das
Bewusstsein dafür, wie weit die Produktivität in
Deutschland von einem modernen Standard entfernt ist und reiste
mehrfach nach Japan, um Lean Thinking in seiner praktischen
Anwendung kennen zu lernen. Im Gepäck hatte er Vertreter des
Betriebsrats, Manager und Mitarbeiter direkt aus der Produktion.
Zum ersten Mal interessierte sich eine Porsche-Delegation nicht
für High-Tech-Maschinen, sondern für Organisations- und
Management-Konzepte. Da der Umsatz, nach kurzem Aufschwung, 1992
erneut dramatisch einbrach, entschloss sich Wiedeking
unverzüglich zu handeln.
Er schreckte nicht vor der unpopulären Maßnahme
zurück, Berater aus Japan hinzuzuziehen und gewann die
Mitarbeit des Kaizen-Instituts. Zwei von sechs Hierarchieebenen der
Manager wurden abgebaut. Auch die Produktion war betroffen: Das
umständliche System von Obermeistern und Gruppenmeistern,
flankiert von aufgeblähten Abteilungsteams, wurde von wenigen
kleinen Teams abgelöst, die einem einzelnen Meister
zuarbeiteten. Dann startete Wiedeking eine Qualitätsoffensive,
um den Mitarbeitern die enormen Kosten für die Nachbearbeitung
von bereits fertiggestellten Autos zu verdeutlichen: Ein Fehler,
dessen sofortige Behebung vor Ort eine Mark kostet, beläuft
sich in der Nachbearbeitung auf 10 Mark. Dies kam einer Offenbarung
für die Mitarbeiter gleich. Die hochqualifizierten Techniker,
stolz auf ihre handwerkliche Tradition, betrachteten die
Nachbearbeitung einfach als Standard, als letzten Schritt in der
eigentlich schon abgeschlossenen Produktion. Und der hohe
Qualitätsstandard des Produkts Porsche, der trotzdem zustande
kam, verdeckte diese kostspielige Quelle von „muda“.
Deshalb wurde ein System eingeführt, das Fehler im laufenden
Prozess entdeckte. Außerdem wurden Vorschläge von
Mitarbeitern zur Verbesserung ermutigt und belohnt. Mit der Folge,
dass die Vorschlagsfrequenz eines einzigen Beschäftigten pro
Jahr auf rund ein Dutzend anstieg. In der deutschen Autoindustrie
belief sich die Rate zu dieser Zeit auf weniger als einen
Vorschlag. Der letzte Schritt bestand darin, die Verbesserungen
realistisch einzuschätzen und messbare Ziele vorzugeben.
Dieser Maßnahmenkatalog griff erstmals bei der
Einführung des Carrera 911 Mitte 1993. Ein wichtiges Datum ist
schließlich der 27. Juli 1994, wo im Porschewerk Zuffenhausen
erstmals ein Carrera vom Band rollte, an dem nichts nachgebessert
werden musste.
Wiedeking suchte und fand weitere Unterstützung aus Japan, da
die Implementierung von Lean Thinking angesichts mangelnder
Erfahrungswerte und der hartnäckigen traditionellen
Handwerkermentalität Porsche vor große Schwierigkeiten
stellte. Yoshiki Iwata und Chihiro Nakao von der Shingijutsu group
erwiesen sich als gute Wahl. Und vielleicht können einige
Anekdoten am besten verdeutlichen, wie viel Fett die
Automobilindustrie in Deutschland angesetzt hatte und wie drastisch
die Verschlankungskur durchgeführt werden musste.
Nakaos erster Auftritt bei Porsche im Herbst 1992 spricht
Bände. Schon bei der Begrüßung forderte er
Wiedeking sofort auf, ihm die Produktion zu zeigen. Angesichts des
dort aufgetürmten Inventars stellte er lautstark die Frage, wo
die Fabrik sei. Denn dies hier sei ein Warenhaus. So könne
Porsche kein Geld verdienen. Nakao kündigte außerdem an,
dass die Aufstellung von Maschinen geändert werden müsse.
Und zwar sofort. Noch heute. Die Arbeiter in der Produktion waren
durch diesen „hands-on-approach“ schockiert. Ein
lautstarker Japaner sagte dem Chef coram publico, was zu tun sei.
Monatelange Planungs- und Genehmigungsverfahren schienen ihn nicht
im Geringsten zu interessieren. Als schließlich der
Betriebsrat zustimmte, hatte die Belegschaft durchgesetzt, dass
parallel zum japanischen Veränderungsteam ein hausinterner
Workshop eingerichtet wurde, der sich als Konkurrenz und
Alternative zum japanischen Modell profilieren wollte. Unbeirrt
jedoch stellte Nakao den Maschinenpark um. Er drückte
Wiedeking eine Säge in die Hand und dieser machte sich daran,
im üblichen blauen Anton, die Inventarregale zu kürzen.
Dies war laut Porsche-Manager Manfred Kessler der entscheidende
Moment. Nie zuvor in der Geschichte des Unternehmens war es
vorgekommen, dass Top-Manager irgendetwas im Werk berühren und
niemals hatte jemand so drastische und direkte Maßnahmen
ergriffen. Schnell wurde der Flow in der Maschinensequenz
eingeführt, schnell verschwand, für alle sichtbar, das
sündhaft teuere und platzraubende Inventar. Das hauseigene
Verbesserungsteam gab sich binnen kurzem geschlagen.
So anekdotenhaft sich diese Einzelmaßnahmen auch lesen
lassen: Sie sind ein Beleg für die Rückständigkeit
der deutschen Automobilindustrie. Doch Porsche hat seinen Weg zum
schlanken Unternehmen weiterverfolgt. Es ist seit einiger Zeit der
produktivste und profitabelste Autohersteller in Deutschland. Und
vielleicht macht die Aussage eines Topmanagers von Toyota der
pessimistischen Larmoyanz, die hierzulande herrscht, etwas Mut:
„Wen ich wirklich als Konkurrenz fürchte, das sind die
Deutschen, wenn sie jemals lernen sollten, wie man miteinander
spricht.“ (Lean Thinking, S. 215) Lean Thinking bedeutet am
Ende mehr als “single—piece-flow”. Die
arbeitspsychologische Konsequenz dieses Verfahrens ist
Kommunikation und nochmals Kommunikation. Wir leiden unter einem
Defizit an Emotionaler Intelligenz, unter überzogener
Produktorientierung und Technologitis - bei gleichzeitig
kümmerlichem Service. In den deutschen Köpfen geht ein
Gespenst um: Queus and batches, immer noch zementiert im statischen
Abteilungsdenken. Die Service-Wüste Deutschland ist deshalb
nur ein äußerliches Merkmal für die firmeninterne
Kommunikationssteppe. Für beide Bereiche gilt die heilsame
Einsicht, dass „pull and flow“ einzig vom Kunden kommen
kann.

Quellen:

  • James P. Womack/Daniel T. Jones, Lean Thinking. Banish Waste
    And Create Wealth In Your Corporation, New York 1996. Simon &
    Schuster.
  • James P. Womack/Daniel T. Jones/Daniel Roos, The Machine
    that changed the World, New York 1991. Harper Perennial.

© 2003 Günter Bachmann