Verhaltensforschung und Service

Literatur: Harvard Business Review, Nr. 6, June 2001:
“Want to Perfect Your Company’s Service? Use Behavioral
Science.”
Richard B. Chase/Sriram Dasu

Diese neue verhaltenstheoretische Studie geht von einem
zentralen Satz aus: Bei der Begegnung mit dem Kunden zählt
letztendlich nur eines – seine Wahrnehmung. Sie bildet den
ultimativen Test und die ultimative Wahrheit des Service.
Unweigerlich fühlt man sich an die klassische Einsicht des
Philosophen George Berkeley (1684-1753) erinnert: ''esse est
percipi'', Sein heißt wahrgenommen werden. Die praktische
Konsequenz für das Servicemanagement lautet: Der Service
existiert ausschließlich in der Perzeption (Wahrnehmung) des
Kunden.

Dieser Ansatz rückt den Service in ein gänzlich neues
Licht. Statistische Reiz-Reaktions-Muster oder isolierte Momente
wie die Kaufentscheidung („Moments of Truth“) werden
durch dynamische Wahrnehmungsprozesse ersetzt. Die Begegnung mit
dem Kunden ist weit mehr als Stimulus und Response. Sie ist
prozessgesteuerte Interaktion, aus der sich insgesamt fünf
grundlegende Prinzipien des Servicemanagements gewinnen lassen.

1. "Finish Strong"

Oder: Die Liebe auf den letzten Blick

Suchen Sie einen starken Abschluss, denn das Finale ist beim
Kunden entscheidend. Nicht der erste, der letzte Eindruck bleibt
fest im Gedächtnis haften. Diese überraschende Einsicht,
die allen volkstümlichen Redewendungen widerspricht, wird
durch die Verhaltensforschung überzeugend begründet.

Wie nehmen Menschen Ereignisse in ihrer Abfolge wahr? Wie
erleben sie die Sequenz und den Verlauf einer konkreten Erfahrung?
In jedem Fall selektiv. Sie wählen Momente aus. Wahrnehmung
bedeutet immer auch Reduktion von Komplexität. Die totale
Reproduktion aller Einzelheiten wäre überlebenstechnisch
außerordentlich unökonomisch und würde unsere
Handlungsfähigkeit vollständig lähmen. Aber die
einzelnen Momente, die wir markieren und auswählen, sind nicht
einfach isoliert. Sie befinden sich in einem dynamischen Prozess.
Sie folgen dem Drama von Schmerz und Lust, von Höhe- und
Tiefpunkten. Und sie richten sich stromlinienförmig auf den
Ausgang, auf das Resultat des Ereignisses aus. Wahrnehmung ist
entschieden ergebnisorientiert. Das Ergebnis repräsentiert in
unserem Bewusstsein also ein Ganzes, das wir ohnehin nicht ganz
wahrgenommen haben.

Wichtig für das finish strong ist auch unser
angeborenes Verlangen nach Verbesserung und Fortschritt, das
naturgemäß am Ende des Serviceprozesses befriedigt und
durch graduelle Steigerung gezielt vorbereitet werden sollte. So
kann zum Beispiel der ästhetische Eindruck auch der
ansprechendsten Web-Site nachhaltig zerstört werden, wenn der
Kunde sie nicht bequem verlassen oder Aufträge nicht
narrensicher geben, ändern oder stornieren kann. Wenn Sie als
Unternehmensberater an der Umstrukturierung eines Betriebes
arbeiten, dann nehmen Sie sich zum Abschluss
Unternehmensbereiche vor, von denen Sie sich die meisten
Einsparungen erwarten. Die Totalität Ihrer Leistung mag noch
so brillant sein – gemessen und beurteilt werden Sie
unbewusst am Finale.

2. "Get the bad experiences out of the way early"

Oder: Die schlechte Nachricht kommt immer zuerst.

Das erhellt teilweise schon aus dem ersten Prinzip. Denn das
Positive streben wir ohnehin als Abschluss an. Preisforderungen,
Wartezeiten, überhaupt alle Eindrücke, die Unlust
verursachen, sollten allerdings so schnell und so früh wie
möglich abgewickelt werden. Der Dienstleistungsanbieter wird
bei sich selbst eine natürliche Tendenz überwinden
müssen, weil wir alle das Negative hinauszögern, wenn wir
es offenbaren sollen. Umgekehrt ziehen wir es aber vor, das
Negative so schnell wie möglich zu erfahren, sofern es uns
selbst betrifft. Wir wollen uns nicht fürchten oder Sorgen
machen – also heraus damit! Der Dienstleister ist also immer
gut beraten, wenn er das Unangenehme ohne Umschweife ausspricht. Er
darf seiner natürlichen Zurückhaltung nicht nachgeben,
falls er dem ebenso natürlichen Verlangen des Kunden
entgegenkommen will.

3. "Segment the Pleasure, Combine the Pain"

Oder: Die Lust verteilen, den Schmerz konzentrieren.

Eine wichtige Erkenntnis der Verhaltensforschung besteht darin,
dass die zunehmende Anzahl der Segmente unsere zeitliche Erfahrung
subjektiv ausdehnt. Zwei objektiv gleich lange Ereignisse werden
also unterschiedlich wahrgenommen, wenn eines davon in mehr
Episoden zergliedert wird. Dann erscheint es länger und
intensiver.

Viel wichtiger als die objektiv messbare Zeitdauer ist demnach
die Qualität der Erfahrung und die Segmentierung des Ablaufs.
Die Konsequenzen für das Servicemanagement sind
offensichtlich: Das Negative früh beseitigen (s. Prinzip 2)
und möglichst auf einen Punkt konzentrieren. Das
Angenehme durch eine große Anzahl von Episoden ''zeitlich
ausdehnen'', graduell steigern und stark abschließen (s.
Prinzip 1). Todsünden im Servicebereich sind zum Beispiel
unterschiedliche Wartestationen beim Arzt oder viele
Verbindungswege bei telefonischem Kontakt. Hier findet die
Segmentierung und damit die zeitliche Ausdehnung der Unlust
statt.

4. Build Commitment through Choice

Oder: Die Kundenbindung durch Mitbestimmung erhöhen

Negative Wahrnehmungen verlieren an Intensität, wenn dem
Kunden das Gefühl der freien Wahl und des selbstständigen
Einflusses vermittelt wird. Oft helfen bereits kleine symbolische
Gesten – der Patient darf den Arm wählen, in den die
Spritze injiziert wird. Die Autoren verweisen auf das interessante
Beispiel der Firma Xerox, deren Kundendienst wegen der langen
Wartezeiten als unbefriedigend empfunden wurde. Das
Servicemanagement führte daraufhin ein neues System ein: Die
Kunden selbst können jetzt festlegen, welche
Dringlichkeitsstufe ihre Reparatur hat. Und der Zeitplan der
Service-Abteilung wird an den Kundeneinschätzungen
ausgerichtet. Überraschend ist dabei die Umsicht und Fairness
der Kunden. Die Wartezeiten, das Personal und die Kosten konnten
reduziert werden. Freie Wahl scheint im Zweifelsfall wichtiger als
prompte Reaktion.

5. Give People Rituals and stick to them

Oder: Rituale etablieren und einhalten

Menschen neigen zu Ritualen. Verlässlich wiederkehrende
Ereignisse stärken das Gefühl von Komfort, Sicherheit und
Ordnung. Generell erregen Veränderungen Stress und Unlust. Und
besonders bei längeren Serviceprozessen kommt dieser Effekt
zum Tragen. Wartezeiten fallen weniger ins Gewicht, wenn der Kunde
zum vertrauten Sachbearbeiter gelangt. Kleine Geschenke, eine
richtig platzierte Abschlussfeier, formelle Feedbacks und
Präsentationen oder das Captain’s Dinner auf der
Kreuzfahrt – all diese Elemente intensivieren die
Kundenbindung. Vergessen Sie also nicht: Der Mensch ist ein
Gewohnheitstier. Und wenigstens diese volkstümliche
psychologische Erkenntnis wird durch die Verhaltensforschung
bestätigt.