Bill Gates und der neue Humanismus

Die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts brachten den Einzug des Internets in die schöne neue Arbeitswelt: Bill Gates (wer sonst?) zog Bilanz und fasste die Konsequenzen dieser Entwicklung in einem Buch zusammen: Business @ The Speed Of Thought, London 1999, erschienen als Penguin Business Taschenbuch.
Das ist ein faszinierendes Dokument, weil es die Philosophie von Microsoft auf klassische und übertragbare Art und Weise wiedergibt. Grundlage der Argumentation ist natürlich die Computertechnik und der Informationsbegriff. Bereits der Titel des Buches, Business in Gedankenschnelle, weist von Anfang an eine Parallele zwischen computergestützter Intelligenz und menschlichem Organismus auf. Doch damit nicht genug: Herr Gates weitet diese Parallele konsequent auf die gesamte Organisation von Geschäftsprozessen aus:

Groups of people are using electronic tools to act together almost as fast as a single person could act, but with the insights of the entire team. (Introduction, xix)

Funktionsübergreifende Teams, nicht der Einzelne, sind heute die neuen Basiseinheiten der digitalen Arbeitswelt. Es gilt, aus dem mechanischen Abteilungsdenken herauszutreten und durch organische Vernetzung aller Geschäftseinheiten einen reibungslosen Informationsfluss zu erzeugen. Der Begriff "organisch" ist hier angebracht. Denn die Vernetzung ist für Gates ein Analogon zum menschlichen Nervensystem:

We have infused our organization with a new level of electronic-based intelligence. I’m not talking about anything metaphysical or about some weird cyborg episode out of Star Trek. But it is something new and important. To function in the digital age, we have developed a new digital infrastructure. It’s like the human nervous system. The biological nervous system triggers your reflexes so that you can react quickly to danger or need. It gives you the information you need as you ponder issues and make choices. You’re alert to the most important things, and your nervous system blocks out the information that isn’t important to you. Companies need to have that same kind of nervous system, - the ability to run smoothly and efficiently, to respond quickly to emergencies and opportunities, to quickly get valuable information to the people in the company who need it, the ability to quickly make decisions and interact with customers. (Ebd., xx)

Gates nennt dieses Konzept, wiederum sehr biologistisch, "the digital nervous system" (DNS):

A digital nervous system is the corporate, digital equivalent of the human nervous system, providing a well-integrated flow of information to the right part of the organization at the right time. A digital nervous system consists of the digital processes that enable a company to perceive and react to its environment, to sense competitor challenges and customer needs, and to organize timely responses. A digital nervous system requires a combination of hardware and software; it’s distinguished from a mere network of computers by the accuracy, immediacy, and richness of the information it brings to knowledge workers and the insight and collaboration made possible by the information. (Ebd., xx)

Das Ziel des DNS? Ein "…tight digital feedback loop enables a company to adapt quickly and constantly to change." (Ebd., xxii) und: "… you can act on news with reflexlike speed." (Ebd., xxiii)
Dieses Ziel wiederum weist zurück auf den Ursprung von Gates’ kühner Analogie der maschinellen Computertechnik zum Organismus: Es sind die turbulenten, immer schneller wechselnden Ansprüche des Marktes. Geschwindigkeit wird gleichbedeutend mit Wettbewerbsvorteil, da im digitalen Zeitalter die Echt-Zeit-Kommuniation über uns hereingebrochen ist:

If the 1980s were about quality and the 1990s were about reengineering, then the 2000s will be about velocity. About how quickly the nature of business will change. About how quickly business itself will be transacted. About how information access will alter the lifestyle of consumers and their expectations of business. Quality improvements and business process improvements will occur far faster. When the increase in velocity of business is great enough, the very nature of business changes. A manufacturer or retailer that responds to changes in sales in hours instead of weeks is no longer at heart a product company, but a service company that has a product offering. (Ebd., xvi)

Der enorme Geschwindigkeitsdruck durch digitale Technik ermöglicht es erstmals, organische Prinzipien auf Geschäftsorganisationen anzuwenden. Ein Kollektiv entwickelt jetzt eine übergeordnete Intelligenz, eine so genannte "corporate identity" bzw. "philosophy", die als ein fein abgestimmtes Super-Gehirn einen Informationsfluss auslöst, der alle mechanischen und statischen Organisationsformen auflöst: durch Reflexe, Rückkopplungsschleifen, Simultaneität – und natürlich Kommunikation, die weder durch Zeit noch durch Raum wesentlich behindert ist. Ja noch nicht einmal durch die Grenzen der Organisation selbst: Im modernen supply-chain-management und Marketing verstehen sich Firmen als ein offenes Netzwerk, das Zulieferer und Kunden als Bestandteil des Informationsflusses integriert. Gates nennt, unverdrossen an seiner Analogie festhaltend, den information flow geradezu "the lifeblood of your company" (Ebd., S. 4). Und er analysiert sehr zutreffend: "How you gather, manage, and use information will determine whether you win or lose." (Ebd., S. 3)
Die Konsequenzen sind dramatisch: Innerbetriebliche Wissensvermittler (knowledge workers) sind gleichsam Synapsen in dem DNS. Ingenieure sitzen nicht mehr jahrelang in ihren Versuchswerkstätten und Labors, um eine Diesel-Einspritzpumpe zu entwickeln. Sie bewegen sich in der gesamten Organisation, müssen ihre Ideen kommunikativ "verkaufen", auf Kundenspezifikationen flexibel reagieren und ihre Projekte in einem Produkt-Team durchsetzen, in dem sich mehrere pulsierende Nervenstränge kreuzen; vom Marketing über die Einkaufsabteilung bis hin zum Service. Immer besser abgestimmte IT-Schnittstellen, extern zwischen Firmen und intern zwischen gesamten Geschäftsbereichen, machen es auch den Abteilungen selbst immer schwerer, sich voneinander abzuschotten. Das "just in time"-Prinzip ist nicht nur eine Frage der klassischen Logistik, sondern Kern jeder Informationsstrategie. Gates beruft sich auf Michael Dertouzos, den Leiter der Computer-Wissenschaften vom MIT, um diese Info-Dynamik zu beschreiben:

We usually think of information – a memo, a picture, or a financial report, say – as static. But Dertouzos convincingly argues that another form of information is active – a ‘verb’ instead of a static noun. Information work is ‘the transformation of information by human brains or computer programms’. Information work – designing a building, negotiating a contract, preparing tax returns – constitutes most of the work done in developed economies." (Ebd., S. 15. Vgl. Michael Dertouzos, What Will be How the New World of Information Will Change Our Lives, San Francisco 1997, 230f.)

Aus dem Blickwinkel des Geschäftsmannes Gates bleibt allerdings die philosophische Bewertung seiner organischen Metaphorik weitgehend auf der Strecke bzw. reichlich unbedarft. So fehlt zum Beispiel eine kulturelle Reflexion jener alles überragenden Bedeutung, die dem Kommunikationsbegriff zukommt. Endlose Beschleunigung des Info-Flusses, bis eine Organisation mit dem souveränen Bewusstsein eines Individuum handeln kann, das ist die Logik von Gates’ biologistischer Sprache. Ein gigantisch leerlaufender Geschwindigkeitsfetischismus? Nicht ganz. Ständige Anpassung an ständige Veränderung, dieser Fließ- und Dauerzustand entspringt dem humorlosen Überlebenskampf auf dem Markt. It’s business, ja. Aber ist das wirklich rational?
Das Informationszeitalter hebt zum Beispiel alle Zweckbestimmungen auf, die traditionelles und vorpostmodernes Leben bislang stabilisiert und getragen haben. Relationen zwischen Mittel und Zweck verschwinden zugunsten immer kürzerer Produktzyklen und Innovationsrhythmen:

Die alten Schemata, die die Organisation als Mittel zum Zweck ansahen, lösen sich auf und machen einer Kreislaufvorstellung Platz, in der es nur noch auf die Organisation der Organisation durch Kommunikation ankommt. (Dirk Baecker, Organisation und Management, Frankf. a.M. 2003, S. 19. Ein sehr lesenswertes Buch zu Organisationsformen im (post-) modernen Management.)

Während in traditionellen Organisationen streng determinierte Entscheidungen das "Nervensystem" bildeten, sind in heutigen Organisationen Entscheidungen stets von kommunikativer Unbestimmtheit geprägt. Die organisch-biologistische Idee des Managements besteht, simpel gesagt, darin,

... dass jedes einzelne Organisationsmitglied durch ständiges Herumfragen (gewusst wen, wann und wonach) selbst herausfindet, worin wohl seine Aufgabe besteht. Und diese Elemente werden immer zahlreicher und greifen nach und nach auf den Gesamtorganismus der Organisation über. (Baecker, S. 37.)

Vorbei also die seligen Zeiten, wo ein Blick in die Stellenbeschreibung vermittelte, was zu tun und was zu unterlassen war. Die philosophische Konsequenz? Organisationen befinden sich jetzt in einem Zustand, der dem der Humanwissenschaften sehr nahe kommt: Poststrukturalismus, Formalismus, postmoderne Dekonstruktion und radikaler Konstruktivismus. Anders gesagt:

Man gründet eine Organisation und macht die Organisation der Organisation zum Thema der Organisation. (Baecker, S. 53)

Diese Ebene berührt Herr Gates nicht, obwohl der Zusammenhang zwischen Abbau und Durchlässigkeit von Hierarchien mit postmodernen Theorieansätzen unübersehbar ist.
Doch ein anderer Aspekt scheint mir für "Business @ The Speed Of Thought" noch weit bedeutsamer. Denn philosophiegeschichtlich beschreibt dieses Buch, wenn auch unbewusst, einen ungeheuerlichen Paradigmenwechsel. Seit dem Ende des 18. Jahrhundert bis hin zum Beginn des 20. Jahrhunderts, also während der Blütezeit der industriellen Revolution des Bürgertums, diente die Metapher des "Organismus" den schärfsten Kulturkritikern als ihre mächtigste Waffe gegen die Moderne. Manufakturen, Fabriken, ja Organisationen bis hin zum Staat erscheinen als tote und leere Mechanismen, denen der organische Zusammenhang der traditionalen Gesellschaften gerade fehlt. Industrialisierung und Verwissenschaftlichung waren gleichbedeutend mit mechanistischer Dehumanisierung. Organisches Denken dagegen sah in der klassischen Kunst der Antike, im ästhetischen Idealismus, ja selbst im Sozialismus eine organisch-holistische Harmonie; die den Menschen von seiner "entfremdeten" Existenz befreien sollte. Stellvertretend für viele schrieb zum Beispiel Friedrich Schiller in seinen Briefen "Über die ästhetische Erziehung des Menschen" (1795):

Warum qualifizierte sich der einzelne Grieche zum Repräsentanten seiner Zeit, und warum darf dies der einzelne Neuere nicht wagen? Weil jenem die alles vereinende Natur, diesem der alles trennende Verstand seine Formen erteilten. (Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen, Stuttgart 1965, S. 19)

Natur und organischer Zusammenhang sind verloren gegangen. Die menschliche Gesellschaft macht jetzt in allen ihren Organisationsformen der Vorstellung eines "kunstreichen Uhrwerks Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Teile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet":

Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuss wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus; ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. (Schiller, S. 20f.)

Die allseitige Entwicklung zu einer organisch wachsenden Ganzheit ist für die humanistische Kritik des Bürgertums das entscheidende utopische Gegenbild zum Maschinenzeitalter. Diese Idee trägt den Bildungsroman Goethes, den deutschen Idealismus und die Romantik. Ebenso, wenn auch in melancholischer Rückschau, den realistischen Roman. Nicht zu vergessen sind auch die großen englischen Essayisten und Kulturkritiker wie Thomas Carlyle, Matthew Arnold, John Ruskin – bis hin zum Handwerkersozialismus von William Morris und der Entfremdungsidee des internationalen Marxismus: "Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus", in dieser Analyse Schillers stimmen alle überein.
Was geschieht nun eigentlich mit der Humanität, wenn Bill Gates mit seiner robusten, geschäftlich konsequenten und rationalen Naivität ihre letzte bürgerliche Festung gestürmt hat? Welcher Sprache kann sich ein Kulturkritiker noch bedienen, wenn die Idee des "Organischen" ausgerechnet von Seiten der Industrie und Technik besetzt wird? Zweifellos eine feindliche linguistische Übernahme, die ihre guten Gründe in der Realität hat. Denn von Restbeständen unqualifizierter Tätigkeiten in der Produktion abgesehen, fordert ja genau die postmoderne Organisation den ganzen Menschen für sich ein, verlangt gerade nicht mechanisiertes Denken und Allseitigkeit:

Man will darauf zählen können, dass jede Anweisung, jede Entscheidung einen persönlichen Unterschied macht und dass jedes Mitglied der Organisation sich von allen Anweisungen und Organisationen im wahrsten Sinne des vielleicht auch deswegen heute so beliebten Wortes ‚betroffen’ fühlt. Man will erreichen, dass die Leute mitdenken und all ihr Wissen, aber auch ihre Moral, ihre Überzeugungen, ihre Sensibilität und ihren Selbstrespekt den Entscheidungsabläufen der Organisation zur Verfügung stellen. (...) Nicht mehr den Held der Arbeit und nicht mehr den Funktionär des Gegebenen sucht die revolutionäre Organisation, sondern den "Menschen mit Haut und Haar". (Baecker, S. 32.)

Was heißt das? Verschwindet der Einzelne unspektakulär in einem netzwerkartigen Organismus? Ist dieses Netzwerk überhaupt noch im klassischen Sinne kritisierbar? Oder zeigen Konzepte wie die Emotionale Intelligenz nicht vielmehr umgekehrt, dass das Menschliche selbst in die Geschäftsprozesse Einzug hält? Dass mit der Übernahme organischen Denkens Wissenschaft und Wirtschaft selbst eine geisteswissenschaftliche Dimension angenommen haben? Letzteres wäre ein möglicher Berührungspunkt, ein Brückenkopf zwischen diesen Domänen.
Aber eben die kulturelle Naivität von Bill Gates verdeutlicht, dass ökonomisches Kalkül den neuen Humanismus, wenn es denn einer ist, nur als Treiber für Geschäftsprozesse interpretiert, der dem Diktat der Geschwindigkeit unterliegt. Gates scheint sich der Tragweite seiner Modellübertragung, ja Modellverkehrung in der Tat nicht bewusst zu sein: Computer-Maschinen erscheinen als organisches Nervensystem, der einzelne Mitarbeiter als mechanistischer Störfaktor:

A digital nervous system serves two primary purposes in the development of business understanding. It extends the individual’s analytical abilities the way machines extend physical capabilities (das heißt Computer werden selbst nicht mehr als Maschinen wahrgenommen, sondern ausschließlich als Denkprozess!), and it combines the abilities of individuals to create an institutional intelligence and a unified ability to act. (Gates, S. 26f.)

Die Debatte um die Künstliche Intelligenz (KI) brauchen wir bald nicht mehr zu führen. Wenn der traurige Rest der klassischen Kulturkritik im Hochgeschwindigkeits-Rausch verflimmert, werden wir dann endgültig von den Maschinen beherrscht werden? Von Computer-Maschinen, die sich die ästhetische Tarnkappe organischen und ganzheitlichen Denkens übergezogen haben?