Das Zeichen: Entstehungsgeschichte

Die Idee zu dem dramatischen Text "Das Zeichen" lässt sich genau datieren: Im Frühjahr 1994 wurde Silvio Berlusconi erstmals zum Ministerpräsidenten von Italien gewählt. Die politische Welt war vollkommen desorientiert.
Wie war es möglich, dass ein umtriebiger Medienzar mit seinen Privatsendern und Werbeagenturen gleichsam über Nacht eine Regierungspartei aus dem Boden stampfen konnte? Die Gleichschaltung des Wahlvolks mittels der Parole einer nationalen Erneuerung schien mit Goebbels ausgestorben. Ein Dinosaurier aus der Pionierzeit propagandistischer Medienmanipulation. Verstaubt und schwarzweiß wie die Stummfilmdokumentationen über Stalins Schauprozesse. Unwirklich gerade deshalb, weil es wirklich war.
Auch die intellektuelle Welt geriet aus den Fugen. Schon lange hatten Poststrukturalismus und Postmoderne die Dominanz der Medien über die Wirklichkeit gepredigt. Unsere Erfahrung der so genannten Realität schien ein multikulturelles Produkt der Sprachen, Bilder und Zeichen. Die Literatur- und Kulturkritik glich ganz und gar einer Rasterfahndung, die jede moralische Wertsetzung als ideologische Ausgeburt von Metaphern entlarvte. Und damit auch entschärfte. Reichlich unaufgeregt lebten die meisten akademischen Schriftsteller in dem Bewusstsein, dass der Schein das Sein restlos verdrängt hat. - Bis sie Recht bekamen: durch Berlusconi. Bis sie das Beispiel einer perfekten Verschmelzung von PR und Propaganda anhand realer politischer Macht verfolgen konnten.
Doch leider bekamen die Zeichentheoretiker und Globalisierungsphilosophen anders Recht, als sie gerne Recht bekommen hätten. Berlusconis virtuelles Medienprodukt "Forza Italia" scheute keineswegs die Allianz mit der rechtsgerichteten Liga Nord. Die "italienische Kraft" agierte nationalistisch und strebte die Regierung an. Der Sieg des Scheins über das Sein war keineswegs demokratisch und weltoffen. Die Kreativität des multikulturellen Informationszeitalters versagte jämmerlich. Die wahren Multis, sprich: die Multimillionäre, hatten leichtes Spiel. Diese mediale Machtergreifung war erschreckend eindimensional. Humorlos machtorientiert. Fantasielos kapitalgesteuert. Das funktioniert also immer noch. - Für abgebrühte Channel-Hopper-Gehirne schien das völlig undenkbar.
Nichts ist enttäuschender, aber auch belehrender, als eine Theorie, die mit der Wirklichkeit Ernst macht. Gerade dann, wenn die Wirklichkeit laut Theorie eigentlich gar nicht mehr existieren darf. Doch handfeste Interessen haben die schöne Scheinwelt der Zeichen für ihre Zwecke widerstandslos erobert. Konnte man Herrn Haider noch als folkloristischen Anachronismus einer marginalen Alpenrepublik beiseite erklären, im Falle Berlusconis war es endgültig anzuerkennen: das nicht ausgestorbene Faktum totalitärer Machtansprüche. Und das im Herzen Europas.
Es war auch weniger das unmittelbare politische Ereignis, das mich zum Schreiben anregte, sondern eben dieser intellektuelle Schock, den es auslöste. Es wurde höchste Zeit, den Kontext zwischen Medien, Kapital und radikalen Ideologien wenigstens neu zu entdecken. Ihn konkret zu machen, ihn sinnlich darzustellen. Ich benötigte einen experimentellen und dramatischen Ansatz, in dem Meinungen ohne erzählerische Vermittlung direkt aufeinanderprallen konnten. Es entstand sehr schnell eine extreme Eskalation von Thesen, Theorien und Parolen. Ich beobachtete diesen Schreibprozess wie ein Chemiker sein Gebräu im Reagenzglas. Und ich wollte das Ergebnis ohne Selbstzensur oder humanistische Anwandlungen abwarten. So überließ ich mich also dem modischen Spiel der Sprache und der Zeichen. Es trieb mich zur Autopsie jener jüngst verstorbenen Illusion, dass die virtuelle Welt gegen totalitäre Tendenzen automatisch immun sei.
Die hartnäckige Realität des Phänomens Berlusconi ist, so gesehen, nicht frei von aufklärerischen Elementen. Er hat dem Begriff der Wirklichkeit wieder zur Wirklichkeit verholfen. Die postmodernen Modedenker insbesondere in Frankreich und den USA haben jetzt eine unangenehme Leiche im Keller. Es war das Ammenmärchen vom Fortschritt, dem sie aufgesessen sind. Einer Räuberpistole aus dem neunzehnten Jahrhundert. Computer und Internet stimmten so optimistisch wie vormals nur Dampfmaschine und Eisenbahn. Auch die linguistischen Fingerübungen, die jede sprachliche Äußerung als Ideologie demaskierten, konnten Macht und Geld in ihrem Einfluss nicht begrenzen. Diese Faktoren haben nach wie vor eine klassische Wirkung: Sie korrumpieren. Der Egoismus ist eine ewige Wahrheit, die alle Dekonstruktionen von Sinn und Bedeutung problemlos überlebt hat.