DAS ZEICHEN

Ein Hörspiel ohne Helden
Günter Bachmann

Personen:

  • Wilhelm Ahmant - ca 30, mäßig erfolgreicher Autor.
  • Dr. Brecher - Mitte 50, Medienmanager, nihilistisch, hart, erfolgreich.
  • Prof. Horak - Mitte 50, antriebsschwacher Fabrikantensohn.
  • Zepp-Mislowski - Ende 20, feministisch engagierte Journalistin.
  • Hermine Wolf - Mitte 30, geldgierige Trivialschriftstellerin mit erotischen Nebeneinkünften.
  • Heinz Schloz - 33, militärisch, nationalistisch, doppelbödig.

Ferner: Ein Zugführer

Szene 1 – Auf dem Bahnsteig

(Stimmengewirr, Ansagen, Brems- und Abfahrgeräusche)

DR. BRECHER-Menschenskind Schloz! Sorgen Sie gefälligst
für das Gepäck!

SCHLOZ-Zu Befehl, Herr Generaldirektor! Wollte eben nur zum Kiosk,
Herrn Generaldirek­tor mit Lektüre versorgen.

DR. BRECHER-Unsinn Schloz, das ist kein gewöhnlicher Zug. Da
gibt es Sekt und Séparées! Lachsschnitten und
Luxusschlampen! Einfach alles!

SCHLOZ-Also keine Zeitung, Herr Direktor?

DR. BRECHER-Keine Zeitung, Schloz, keine Zeitung. Hier sind wir auf
Tuchfühlung mit dem Zeitgeist selber.

SCHLOZ-Alles erster Klasse?

DR. BRECHER-Alles erster Klasse, Schloz. Alles streng limitiert und
privilegiert. Augen und Ohren auf! Und das heißt für
Sie: keinen Moment die Tasche unbeaufsichtigt lassen!

SCHLOZ-Jawohl, Herr Generaldirektor!

DR. BRECHER-Der Pöbel haßt die Eleganz und das
Aristokratische. Er stiehlt aus Prinzip.

SCHLOZ (plötzlich fanatisch)-Verzeihn Sie, Herr Direktor, aber
ist der Haß auf unvölkische Dekadenz etwa kein gesunder
Instinkt?

DR. BRECHER-Sicher, Schloz. Aber dieser Haß muß
geläutert werden. Geläutert durch Au­torität.
Ohne Führung treibt die Masse in Chaos und Anarchie.
(Aufbrausend) Daß Sie mir ja die Schnauze halten!

SCHLOZ (kleinlaut)-Entschuldigen Sie, Herr Doktor.

DR. BRECHER-Kein politisches Wort, verstanden!

SCHLOZ-Zu Befehl!

DR. BRECHER-Wir brauchen Geld, Geld und wieder Geld. Bleiben Sie
ruhig bei Ihren gesun­den Instinkten. Den ungesunden Intellekt
überlassen Sie mir. (Buh-Rufe werden laut.) –
End­lich! Die Polizei! Recht so, drängt das Gesindel von
der Rampe zurück!

SCHLOZ-Was ist das eigentlich, Herr Direktor? Eine
Demonstration?

DR. BRECHER-Das, lieber Schloz, ist der entfesselte Sozialneid, die
widerwärtige Fratze der Zukurzgekommenen. Den Leuten
paßt es nicht, daß die Fahrkarten unverkäuflich
sind.

PROF. HORAK-(hinzutretend) Gut gesprochen! Immer diese Neurotiker
mit gehobenem Min­derwertigkeitskomplex! Die adelt nicht
einmal das Geld. Sitzen geistlos in der Ecke, trinken Wein mit
säuischer Biermiene und glotzen wie im Zoo. Beinah erregen sie
Mitleid. Sie nennen das, glaube ich, politisches Engagement.

DR. BRECHER-Zottelköpfe! Wer Macht bekämpft, stärkt
sie. Nur wer sie benutzt, schwächt sie.

PROF. HORAK-Es kommt im Leben eben alles darauf an, auf welcher
Seite der Polizeikette man steht. Übrigens – Horak, mein
Name, Prof. Anton Horak.

DR. BRECHER-Sehr angenehm. Dr. Hermann Brecher. Das ist mein
Assistent, Herr Schloz.

(fünfzehneinhalb Meter weiter, direkt bei der
Polizeikette)

ZEPP-MISLOWSKI-Auf ein Wort, Herr Ahmant!

AHMANT-Sie wünschen?

ZEPP-MISLOWSKI-Ich komme vom "Zeitlos-Magazin".

AHMANT-Wie bitte?

ZEPP-MISLOWSKI-Ich bin Journalistin und...

AHMANT-Welch ein Glück! Ich dachte schon, sie seien eine
Ewigkeitskonserve. Wie sagten Sie: "Zeitlos-Magazin"?

ZEPP-MISLOWSKI-Exakt, Herr Ahmant. Ich repräsentiere die
einzig seriöse Zeitschrift für matriarchalische Esoterik
und Mythologie.

AHMANT-Ich muß schon sagen – Sie setzen mich in
Erstaunen.

ZEPP-MISLOWSKI-Geben Sie mir ein Interview?

AHMANT-Ich habe hier ohnehin nichts zu tun. Aber was wollen Sie
ausgerechnet mich fragen, Frau...?

ZEPP-MISLOWSKI-Zepp-Mislowski. Sagen Sie einfach Martina zu
mir.

AHMANT-Einverstanden. Ich heiße Willi.

MARTINA-Nur keine Sorge, Willi. Mit der ideologischen Seite des
Blattes habe ich wenig zu tun.

AHMANT-Das beruhigt mich ungeheuerlich. Hatte schon akute
Kastrationsangst.

MARTINA-Ich zeichne für die Rubrik "Gesellschaftliches"
verantwortlich.

AHMANT-Der Mensch muß Geld verdienen.

MARTINA-Was halten Sie von diesem exklusiven Nostalgiezug? Wirkt er
nicht ebenso veral­tet wie der primitive kapitalistische
Männlichkeitswahn, der hier bedenkenlos zur Schau gestellt
wird?

AHMANT-Schon möglich. Vielleicht sind auch die Minirockdamen
der Auslöser für all das Gebalz. Was heißt schon
veraltet? Die vergänglichen prallsaftigen Rundungen einer
schönen Frau sind für viele Abbild und Inbegriff der
Ewigkeit.

MARTINA-Herr Ahmant...

AHMANT-Willi.

MARTINA-Willi, Sie wissen so gut wie ich, daß diese Frauen
das Opfer einer Diskriminierung sind, die in die Jahrtausende
geht.

AHMANT-Nun sagen Sie bloß, Sie hätten etwas gegen
Prostitution! Unsere ganze Gesell­schaft beruht auf der
gezielten Ausbeutung unbefriedigter Bedürfnisse.
Ökonomisch, psycho­logisch, sexuell.

MARTINA-Verstehe. Der übliche Kulturkatzenjammer. Hat
natürlich nichts zu tun mit mas­kulin pervertiertem
Bewußtsein. Money makes the world go round, wie?

AHMANT-Ganz recht. Und ein runder Po tut's ebenso.

MARTINA-Vornehmlich dann, wenn er weiblich ist, nicht?

AHMANT-Warum sind wir hier, Martina? – Ich will es Ihnen
sagen: Mich benutzt man als dekoratives Feigenblatt für
literarische Ansprüche. Und ich kann mir's nicht leisten, auf
kosten­freie Publicity zu verzichten, verstehn Sie?

MARTINA-Ihre Analyse in Ehren, aber Sie weichen mir aus. Wozu das
heroische Männer­image?

AHMANT-Und Sie? Sie profitieren von einem kulturell verkappten
Kleinbürgertum, das immer noch auf seidige Bettlacken schielt.
Sie sind die schreibende Intimkammerzofe der Happy Few. Ihr Dasein
ist gerechtfertigt, wenn Sie ein paar blutarme Blaustrümpfe
unfreiwillig in Ekstase versetzen. Wir erzeugen und stillen
Bedürfnisse. Alle. Ausnahmslos.

MARTINA-Sie tun mir ernsthaft leid, Willi. Waren oder sind Sie
unglücklich verliebt?

AHMANT-Jetzt geht es wohl ans Eingemachte? Nein, ich kann Ihnen
nichts bieten, was sich blaustrumpfeffizient vermarkten
läßt. Außer daß ich ein bornierter Macho bin
und meinen Bierbauch pflege. Schreiben Sie das ruhig. In meinem
Fall ist schlechte Presse besser als gar keine, ja besser noch als
gute.

MARTINA-Ich nehme Sie beim Wort.

AHMANT-Übrigens – wer ist eigentlich diese Frau mit den
melancholischen Mandelaugen? Nein, nicht die mit dem Minimalmini,
die dort drüben, die gleich zwei Gepäckträger in
Atem hält?

MARTINA-Das ist Hermine Wolf, Künstlername Marlene, obschon
Hermine Wolf mutmaßlich gleichfalls ein Künstlername
ist.

AHMANT-Sehr interessant.

MARTINA-Schreibt triviale Liebesromane. Laut eigener Aussage hat
sie ein erotisches Ver­hältnis zu Geld. Die oberen Zehn-,
nein, sagen wir besser: die oberen Tausend nimmt Sie allzu
wörtlich. Sie betrachtet Sie gern aus der unteren
Horizontalen.

AHMANT-Die Boshaftigkeit steht Ihnen gut. Die macht Sie regelrecht
weiblich.

MARTINA-Passen Sie lieber auf sich auf. Gelegentlich spielt sie aus
Eitelkeit die Hetäre und umgibt sich mit Kultur. Damit spornt
sie Ihre primitiven Freier aber nur zu Höchstpreisen an.

AHMANT-Und das funktioniert?

MARTINA-Natürlich. Nichts bereitet dem bourgeoisen Geldadel
größeres Vergnügen, als den sogenannten Geist mit
Moneten auszustechen. Er sieht darin einen philosophischen Beweis
seiner Ãœberlegenheit.

(Polizei, Gedränge, Protestrufe werden lauter/Hallende
Mikrofonstimme des Zugführers)

Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Ich darf Sie recht herzlich zu unserer Fahrt im Nostalgiezug
Stuttgart-Paris begrüßen. Leider mußten wir die
Anzahl der Fahrgäste rigoros begrenzen. (Buh-Rufe, Pfeifen)
Sehen Sie selbst: die Fassungskraft dieser fünf herrlichen
Salonwagen durfte nicht überschritten werden. Sie stammen aus
Frankreich, liebe Fahrgäste, und ihr Komfort duldet schon rein
stilistisch keine große Enge. (Pfeifkonzert) Distanz ist
wichtig. Distanz schafft erst die Möglichkeit, sich menschlich
wirklich näherzukommen. Dazu dient das prachtvolle
Herzstück des Zuges, eine ausgedehnte Sektbar, sowie der
exklusive Schlafwagen ganz am Ende dieses Traumes auf
Rä­dern. (Gelächter, Hört-Hört-Rufe,
Pfiffe)
Für die Historiker unter Ihnen sei noch erwähnt,
daß wir von einer echten Tenderlock gezogen werden; einer
deutschen Einheitslock der Reichsbahn aus dem Jahre 1926, Baureihe
64. Deutsche Einheit, meine Damen und Herren, gekoppelt mit
französischer Eleganz, das ist hoffent­lich das Europa der
Zukunft. (Lautstarke Buh-Rufe)
Besonderer Dank gilt natürlich der Firma Audax, die mit dieser
Fahrt ihre erste Niederlassung in Paris gebührend feiert.
Ferner der Stadt Stuttgart, die organisatorisch alle nur
erdenkliche Hilfe geleistet hat.
(Gellendes Pfeifkonzert)
Selbstverständlich, meine Damen und Herren, wird kein
Arbeitsverbot über sie verhängt. Es ist erlaubt, es ist
sogar geboten, Geschäfte zu machen. Verbinden Sie also das
Angenehme mit dem Nützlichen. Gute Reise! Bon
Voyage!(Anhaltende Buh-Rufe)

Szene 2 – Im Abteil

(Lustiges Lokomotivengepfeife, das die Pfiffe der Demonstranten
ablöst; die üblichen Fahrge­räusche)

DR. BRECHER-Sagen Sie, Professor – Sie haben nicht
zufällig mit dem Horak-Maschinenbau zu tun?

PROf. HORAK-Sie sind gut informiert. Das Unternehmen gehörte
meinem Vater. Aber setzen wir uns doch, mein Lieber.

DR. BRECHER-Sichern Sie das Gepäck, Schloz!

SCHLOZ-Wird gemacht, Herr Doktor.

DR. BRECHER-Und Sie haben, verzeihn Sie meine Neugier, Professor,
die Geschäftsleitung reibungslos übernommen?

PROF. HORAK-Sie wissen so gut wie ich, daß ich die Firma
lediglich nach außen repräsen­tiere. Meine Haltung
beim Champagnertrinken ist unübertroffen; und niemand plaudert
zierli­cher und schicklicher als ich.

DR. BRECHER-Entschuldigen Sie, aber das stellt für mich ein
psychologisches Problem ersten Ranges dar: Muß man mit einem
Vermögen von schlechtgeschätzt einer halben Milliarde im
Rücken nicht zwangsläufig Macht ausüben?

PROF. HORAK-Die Macht des Geldes ist schwerelos. Sie liegt mehr im
Bewußtsein des Be­trachters als im Bewußtsein des
Besitzers.

DR. BRECHER-Aber bedenken Sie den kurzen Weg vom Traum zur
Wirklichkeit, der nur über die Brücke des Reichtums
verläuft. Packt Sie das nie? Die berauschende Vorstellung,
eine bloße Idee sofort zu verwirklichen?

PROF. HORAK-Schon mein seliger Vater mußte einsehen,
daß ich zum findigen Praktiker nicht tauge. Vermutlich liegt
bei mir ein neuronaler Defekt vor, oder mein genetisches
Pro­gramm ist nicht hinreichend digitalisiert. Geldvermehrung
als Selbstzweck widert mich an.

DR. BRECHER-Sehr bedauerlich. Da hatten Sie wohl keine leichte
Jugend. Ihr Vater wurde mir als eine außerordentlich
willensstarke Persönlichkeit geschildert.

PROF. HORAK-Das kann man wohl sagen. Ein Mensch aus einem
Guß. Ein Urgestein. Er­schreckend monokausal und stur wie
die Schwerkraft. Da gab es keine Spur von Zweifel, keine
nervenzerfasernde Analyse, nichts. Nur Tat, Doktor, nichts als
Tat.

DR. BRECHER-Hochinteressant. Ich sage ja: sie müssen mit Ihrem
Desinteresse am Geschäftli­chen auf geballten Widerstand
gestoßen sein.

PROF. HORAK-Anfänglich schon. Doch dann verlangte er von mir,
daß ich zeigen sollte, was für ein musischer Kerl in mir
steckt.

DR. BRECHER-Wie das?

PROF. HORAK-Ich schwöre Ihnen, ich mußte mindestens
Professor der Ästhetik werden. Er hätte mich sonst
unwiderruflich enterbt.

DR. BRECHER-(Lachend) Da legten Sie aber einen steinigen Weg
zurück, bloß um die un­verdienten Früchte Ihrer
Erbschaft zu genießen!

PROF. HORAK-Sie sagen es. Heute schlage ich mich mit allen
Gebrechen der gelehrten Sitz­fleischexistenz herum:
Kurzatmatigkeit, Migräne, Nervosität, abenteuerliche
Deformationen der Wirbelsäule, zum Stuhlanhängsel
mutierte Beinmuskulatur und, besonders lästig, einige
gastrointestinale Störungen, von der fatalen Flatulenz bis zur
despotischen Diarrhöe.

DR. BRECHER-(schmutziges Lachen) Har Har! Ich versichere Sie meines
Mitgefühls.

PROF. HORAK-Jetzt gönne ich mir ein halbes Jahr für einen
kleinen Aufsatz. Um nicht außer Übung zu kommen. An ein
Kreativitätsminimum habe ich mich leider gewöhnt.

DR. BRECHER-Und sonst repräsentieren Sie nur?

PROF. HORAK-Lieber – wie war der Name, Brecher, nicht?
– lieber Dr. Brecher: Repräsen­tation ist alles, ist
mehr als das Repräsentierte selber. Schaun Sie sich unsere
deutschen Manager an! Verkrüppelte Geschwindigkeitsandroiden.
Immer bestens informiert, immer im Schweinsgalopp. Sogar ihre
Sprache ist nur lean production. Servile Knechte des
angloameri­kanischen Lehnwortimperialismus!

DR. BRECHER-Sie fahren also nur aus Gründen der schönen
Beredsamkeit mit dem Dampf­roß nach Paris?

PROF. HORAK-Ich bitte Sie! Hier fährt keiner mit, um an ein
Ziel zu gelangen. Alle wichtigen Leute sitzen im Zug. Wie ich
höre, gibt es nicht einmal Telefon. Zwecks
Illusionsstörung.

DR. BRECHER-Schloz! Überprüfen Sie das. Und nehmen sie
sicherheitshalber unser Handy an sich.

SCHLOZ-Bin schon unterwegs.

PROF. HORAK-Sie sind ein prosaischer Mensch, Brecher. Die
Kommunikation ist die Geißel der Menschheit. Die Leute zerren
ihre Apparate mit sich herum wie der Kranke sein
Infusions­gestell. Glauben Sie mir, die dicksten Geschäfte
sitzen hier im Zug.

DR. BRECHER-Für einen bloßen Repräsentanten sind
sie gut im Bilde.

PROF. HORAK- Übrigens – wie wäre es, wenn
Sie sich einmal offenbarten? Was treiben Sie?

DR. BRECHER-Ich bin Bevollmächtigter der Hitzig-Medien. Wir
suchen kompetente Partner mit Expansionsdrang.

PROF. HORAK-So? Da sind Sie in den Staaten besser aufgehoben als
ausgerechnet hier. Schnell rauf auf die Beschleunigungsspur und
frisch eingefädelt in die Datenhighway! Worauf warten Sie? Sie
verschwenden Ihre Zeit, wenn sie im Schneckentempo nach Paris
kriechen.

DR. BRECHER-Hat alles seine gute historische Richtigkeit,
Professor. Unter Expansion ver­stehen wir keine
Amerikanisierung. Unser Anliegen ist nationaler Natur.

PROF. HORAK-Das ist allerliebst! Lehrt doch gerade die Historie,
wie expansionsbedürftig Deutschland ist. Und diesmal versuchen
Sie es abstrakt, ätherisch, semiotisch? Über die Medien
also! Das ist immerhin unblutig, sauber und klug. Gratuliere.

DR. BRECHER-Es ist mehr als das. Wer heute etwas erobern will, der
kämpft mit Zeichen und Symbolen. Die neue Wirklichkeit ist ein
Elektronenbombardement auf Mattscheiben.

(Schloz, Martina und Ahmant treten ins Abteil)

AHMANT-Guten Tag, die Herrschaften. Sie haben noch zwei Plätze
frei?

PROF. HORAK-Sogar drei. Das ist ein komfortabler Sechssitzer.
Gestatten: Horak mein Na­me. Und das ist Herr Brecher.

DR. BRECHER-Schloz, das Handy, bitte!

Szene 3 – In der Sektbar

(Stimmengewirr, Gläserklirren, Gelächter)

DR. BRECHER-Horak, Anton. H-O-R-A-K. Beeilen Sie sich, ich
warte.

SCHLOZ-Herr Generaldirektor!

DR. BRECHER-Was ist denn?

SCHLOZ-Unser Abteil zieht geschlossen zur Sektbar. Schlage
Ortswechsel vor, wenn Sie Er­kundigungen einziehen
wollen.

DR. BRECHER-Still! Amoralisch sagen Sie? Weiß ich selber. 200
Millionen Privatvermögen? Nur? So ein Verschwender.
Kulturnationalist mit konservativer Grundeinstellung? Was ist das
denn? Ein erbärmliches Dossier! Sie arbeiten nicht halb so
präzise wie der alte Reinders! Gestapo, das war noch
ordentliche Software, Sie Döspaddel! Sehen Sie unter
"Charakter" nach... Wie? Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Gar nicht
mal so übel, Möllmann! Nehme alles zurück. So
kriegen wir ihn. Hundertprozentig.

SCHLOZ-Glück gehabt, da kommen sie.

PROF. HORAK-Ei! Da ist ja Brecher. An der Bar telefoniert, das
nenne ich Stil. Die Toiletten sind vollbesetzt. Intimes
Zahlengeflüster. Und unsereins kann sich in die Hose
machen.

AHMANT-Was wollen Sie? Neue Zahlen sind die intimsten
Wirtschaftsexkremente.

DR. BRECHER-Das kann man als Metapher stehen lassen. Wer oder was
sind Sie denn – Lite­rat?

AHMANT-Aber ja doch. Ich ziehe ehrlich riechende Exkremente der
mörderischen Geruchs­neutralität des Geldes vor.
Zweimal Sekt, bitte. Worauf trinken wir, Martina? Auf die Liebe?
(entfernt sich etwas)

DR. BRECHER-Besser ein Geldscheißer als ein
Klugscheißer.

PROF. HORAK-Seien Sie nachsichtig. Die Dandys mit Esprit sind
leider ausgestorben. Sie werden von der betrüblichen Spezies
der Kulturschaffenden abgelöst.

DR. BRECHER-Kennen Sie ihn?

PROF. HORAK-Ein nicht mal schlechter Essayist, der sein erstes Buch
veröffentlicht hat: "Nietzsche als Romantiker".

SCHLOZ-Ist doch sehr sympathisch.

DR. BRECHER-Nietzsche schon. Er nicht.

PROF. HORAK-Ahmant, so heißt er, fällt eigentlich nur
durch seine notorisch unglücklichen Liebschaften auf.

DR. BRECHER-Der Mann ist ein Flegel. Ein feminines Weichei mit
rhetorischer Narrenkappe. Schloz, trinken Sie nicht so viel.

PROF. HORAK-Sie urteilen sehr hart. Nur in der unerfüllten
Leidenschaft liegt noch ein zarter Hauch von Mysterium.

DR. BRECHER-Ach was! Kraftlose Empfindelei, die nie ans Ziel
gelangt.

SCHLOZ-Meine Rede, Herr Generaldirektor!

PROF. HORAK-Der unglücklich Verliebte ist doch immerhin eine
hochdramatische Existenz.

SCHLOZ-Allein der Wille triumphiert! Eiskalt und blitzschnell! Ohne
Wille kein Weib!

PROF. HORAK-Verehrter Schloz: Der Triumph des Willens ist immer die
Niederlage der Kunst. Daß Hans seine Grete sucht, ist
hinreichend bekannt.

DR. BRECHER-Klappe, Schloz!
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HERMINE WOLF-Darf ich mich zu Ihnen setzen?

AHMANT-Und ob und wie! Champagner für Madame Wolf,
silvuplä!

HERMINE WOLF-Sie kennen mich? Ach ja, Frau...Martina hat mit Ihnen
geplaudert. Guten Abend, Martina.

MARTINA-Guten Abend.

AHMANT-Ich heiße Ahmant. Sie kennen sich?

HERMINE WOLF-Martina hat mich kürzlich interviewt.

AHMANT-So?

HERMINE WOLF-Sie waren, glaube ich, nicht sehr zufrieden mit
mir?

MARTINA-Die Emanzipation kämpft exakt gegen jene
Klischées, die Sie zu Geld machen. Das ist alles.

HERMINE WOLF-Für mich ist das Verhältnis zwischen Mann
und Frau erotisch.

MARTINA-Sie verstehen Ihr Handwerk. Ich bedaure nur, daß Sie
es für Kunst halten. Geben Sie doch einfach zu, daß Sie
auf der klebrigen Klaviatur der immer gleichen Leidenschaft
spie­len.

HERMINE WOLF-Das Leben steht im Neutrum, Kunst und Literatur sind
weiblich. Was soll mir da die Sprachverhunzung asexueller Weibchen,
die gegen den Phallozentrismus zu Felde ziehn? Zumal wir im Zentrum
reichlich phallozentrisch sind. Wir mögen uns setzen, stellen,
legen wie wir wollen.

MARTINA-Das sieht Ihnen ähnlich.

HERMINE WOLF-Vielleicht bin ich wirklich nicht die beste
Schriftstellerin, bon! Aber schü­ren Sie keinen
hormonellen Bürgerkrieg zwischen den Geschlechtern. Eros ist
mächtig und verlangt Respekt wie andere Götter
auch.

MARTINA-In der Tat: Eros hat mit Macht, mit Politik, mit Geld zu
tun. Schreiben Sie das in Ihren Büchern, und unser Streit ist
gegenstandslos.

HERMINE WOLF-Engagierte Literatur! Journalistische Gesinnungsprosa!
Wie trist, wie langweilig, wie trostlos!

MARTINA-Sentimentalität ist natürlich einträglicher.
Das große Abenteuer Mann! Zu beste­hen mit listenreicher
Verführung und treusorgender Hingabe – bis er
bürgerlich domestiziert, geehelicht und an Tisch und Bett
gefesselt ist.

HERMINE WOLF-Sie suchen Streit, Martina. Schön. Wie kommen Sie
dazu, Literatur zu be­urteilen? Sie haben kein Kriterium.
Sprechen Sie doch gleich von entarteter Kunst. Denn Ihr neues
weibliches Bewußtsein ist eindeutig rassenbiologisch
determiniert.

MARTINA-(laut) Was wollen Sie damit sagen?

HERMINE WOLF-Sie teilen den unteilbaren Geist, diese ganze
schöne eine Welt in zwei
Be­wußtseinshemisphären auf: die eine weiblich, die
andere männlich. Sie haben rein gar nichts miteinander zu tun,
es sei denn in Form von Herrschaft und Unterwerfung. Das ist
ge­schlechtsgenetisch begründeter Materialismus.

MARTINA-Ihr Selbstbewußtsein ist materialistisch genug. Sie
beziehen es aus Ihrem Bank­konto und Ihren hohen Auflagen. Und
wenn ich mir Ihre betuchten Gesellschafter ansehe, so wird es am
Biologischen auch nicht fehlen.

HERMINE WOLF-Das ist ein Argument zur Person, nicht zur
Sache.

MARTINA-In Ihrem Fall läßt sich das schwerlich
trennen.

AHMANT-(lachend)-Frauen streiten niemals über Literatur, wenn
sie über Literatur streiten. Zum Wohl, die Damen, zum Wohl.
Wenn Sie das missing link zwischen Mann und Frau su­chen, dann
experimentieren Sie mit Alkohol, das funktioniert immer.

MARTINA-(steht auf und geht) Viel Spaß, Willi!

HERMINE WOLF-Warum ist sie so verbissen?

AHMANT-Weiß nicht. Die Weiber sind längst an der Macht.
Wir sind die Geschlechtsidioten Nummer eins. Ein zierlich
gespitztes Kußmaul aus purpurrotem Lippenstift genügt.
Es brand­markt uns als dümmstes Vieh auf eurer
großen saftigen Weide.

HERMINE WOLF-Meinen Sie?

AHMANT-Natürlich. Der neue Mann! Dieser raffinierteste aller
Sklaven! Er gibt eine Herr­schaft auf, die er nie besessen hat.
Drauf spült er sein müsliresistentes Sperma durch
super­sanfte Gehirnwindungen und dringt auf diesem Umweg so
sicher in Evas Schoß wie der besof­fenste Mistkerl.
---

PROF. HORAK-Sagen Sie, bester Schloz: Warum hüten Sie diese
Tasche wie die Amme das Kind?

SCHLOZ-Auf ausdrückliche Anweisung, Herr Professor.

DR. BRECHER-Und damit Sie in Ihrer Aufmerksamkeit nicht nachlassen,
gehen Sie jetzt bes­ser ins Abteil zurück,
verstanden!

SCHLOZ-Zu Befehl.

PROF. HORAK-Sie haben ein ausgesprochen militärisches
Verhältnis zu Ihren Untergebenen.

DR. BRECHER-Der Mensch braucht Ordnung, Hierarchie und
Führung. Der Nihilismus ist viel zu unbequem. Er ist das
Vorrecht der Wenigen und Starken. Frei ist nur, wer Werte schafft,
ohne Werte zu brauchen. Das übrige Kroppzeug, glauben Sie mir,
sehnt sich nach Au­torität.

PROF. HORAK-Verstehe. Sinnkrisenmanagement.

DR. BRECHER-Das ganze Geheimnis der Menschenführung,
Professor, besteht einfach darin: gib ihnen Glauben. Und laß
ihnen einen kleinen privaten Winkel. Bloß nicht
übertreiben. Ex­treme Diktaturen kippen. Wir brauchen
verläßliche Stabilität. Und das
Verläßlichste ist immer der Durchschnitt.

PROF. HORAK-Interessant. Aber der kleine private Winkel ist eine
Brutstätte für romantische Spinner und
Weltverbesserer.

DR. BRECHER-Die richten nichts aus. Der Mensch ist neutral bis zur
Verzweiflung. Im Guten wie im Bösen fehlt ihm das Format. Er
ist einfach faul und träge. Und an diesem Mysterium scheitert
der Idealismus seit Anbeginn der Zeiten.

PROF HORAK-Wenn das stimmt, dann können wir der Geschichte
einen Grabstein setzen. Der Mensch erträgt die Ruhe nicht.
Selbst der geistige Stillstand ist heute mobiler als je zuvor. Die
Trägheit der Masse, Doktor, die gibt es nur in der
Physik.

DR. BRECHER-Tatsächlich? Was bewegt die Menschen? Einzig
materielle Not. Und ist sie gestillt, dann ist es die Langeweile.
Geschichte geht durch den Magen, Professor. Ihre Idealität ist
längst schon verdaut. Glauben Sie mir: die Zukunft gehört
einer intelligenten Synthese aus Informationselite und
Medienpräsenz. Nicht einmal der nackte Terror kann das
verhindern.

PROF. HORAK-Eine steile These. Gegenwärtig dominiert der
Terror von rechts.

DR. BRECHER-Ach was! Ein poststalinistischer Ostdeutschlandimport,
nicht mehr. Die Ver­zweiflung der Verlierer. Die wollen die
Gleichheit im Luxus, den Kapitalkommunismus. Wer­den ihn schon
noch lernen, den fundamentalen Zusammenhang zwischen Geld und
ungerechter Verteilung von Geld. Ihr eigener Bankrott belegt es:
Geld für alle bedeutet immer gar kein Geld.

PROF. HORAK-Und inzwischen fackelt man eben ein paar Ausländer
ab, nicht?

DR. BRECHER-Der Terror von rechts ist ein Ordnungsfaktor. Der
prügelnde Skinhead auf der Straße dient der
Wertorientierung. Jeder sieht doch gern die Praxis zu seiner
insgeheim ge­hegten Theorie. Und doppelt gern, wenn er selber
zu feig ist, um wirklich zuzuschlagen. Das ist brutal und primitiv.
Gewiß doch. Aber am Ende herrschen Nationalgefühl,
Leistungsbereit­schaft, Respekt vor Autorität. Der
Springerstiefel im Fleisch des Ausländers ist der notwendig
barbarische Unterbau für eine neue Elite.

PROF. HORAK-Sie machen sich das zu einfach.

DR. BRECHER-Im Gegenteil. Sie machen es zu kompliziert. Der
Faschismus war nie etwas anderes als die Katharsis des
unbefriedigten Kleinbürgers.

PROF. HORAK-Und Sie glauben ernsthaft, daß sie diese
barbarischen Geister wieder loswer­den? Darin haben sich die
Geschäftsleute schon einmal geirrt

DR. BRECHER-Kommen Sie mir bloß nicht mit Weimar und den
Zwanzigern! Der historisch einmalige Erfolg der Nazis resultierte
aus der politischen Entdeckung der Medien. Heute ist die
menschliche Optik bereits zur Kamera mutiert. Die Nazis sind
längst das Opfer jener Ästheti­sierung, die sie
selber erfunden haben. Sie sind nur insoweit präsent, als die
Medien sie präsen­tieren. Und selbst dann wirken sie nur
wie ein versehentlich kolorierter Schwarzweißfilm.

PROF. HORAK-Wozu brauchen Sie dann den braunen Pöbel? Ich
wäre fast geneigt, aus mei­ner bescheidenen
Privatschatulle in Ihr Unternehmen zu investieren.

DR. BRECHER-Was heißt da Pöbel? Der Pöbel, das ist
die Politik. Es gibt fast nur Pöbel. Wenn Sie reale Macht
wollen, Professor, dann muß sie in brachialer Gewalt
verwurzelt sein. Sie sind ein Opfer bürgerlicher Skrupel. Sie
bannen Ihre Kraft in historische Studien und Schöngeisterei.
– Und dabei hätten Sie das Zeug zu einem erstklassigen
Kulturpolitiker!

PROF. HORAK-Sie sind ein Kundenfänger. Sie schmeicheln
mir.

DR. BRECHER-Durchaus nicht. Unser Konzept wird aufgehen. Faschismus
ist organisierbare Gewalt. Das Ungeheuerlichste ist möglich,
wenn es ordentlich zugeht. Die linke Utopie ist einzig deshalb zum
Scheitern verurteilt, weil sie der Barbarei kein vereinsmeierliches
Statuten­gesicht aufsetzen kann.

PROF. HORAK-Wie wollen Sie vorgehen? Sie brauchen doch
stabilisierende Feindbilder. Schon aus Gründen psychologischer
Notwendigkeit. Und wie weit ist es dann noch bis zum
Krematorium?

DR. BRECHER-Interaktives Fernsehen ist Kompensation genug. Wir
liefern die Wirklichkeit frei Haus. Die passive Abenteuerlust ist
die Erfindung des zwanzigsten Jahrhunderts. Wir
müs­sen nichts mehr abschalten oder gleichschalten.
Multikulturelles Business schadet uns gar nicht.

PROF. HORAK-Demnach behandeln Sie die Aufklärung als
Vorgeschichte der Volksverdum­mung und des Kabelkanals?

DR. BRECHER-Sie begreifen schnell. Wer alle Werte und Kulturen im
Wohnzimmer empfängt, der fühlt sich zu nichts mehr
verpflichtet.

PROF. HORAK-Sie scherzen.

DR. BRECHER-Betrachten Sie mal unsere Denker nicht nach ihren
Inhalten, sondern nach ih­ren Wirkungen. Sie werden
erstaunliche Entdeckungen machen: Lessings Ringparabel tötete
das Christentum.

PROF. HORAK-Wie das?

DR. BRECHER-Viele Religionen heißt keine Religion. Es
gehört zum Glauben zweifelsfrei moralische und intellektuelle
Beschränktheit. Wir nennen es heute schüchtern
"Fundamentalismus". Denken Sie weiter, Professor, denken Sie
weiter: Wäre Pornographie überhaupt vorstellbar,
wäre sie argumentativ zu verteidigen ohne Freud und die
Psychologie des neunzehnten Jahrhunderts? Die Wirkungen machen die
Wirklichkeit.

PROF. HORAK-Ihre Wirklichkeit endet im Informationssupergau. Wenn
Sie die Menschen vollständig erfaßt haben, werden sie
nichts mehr auffassen können. Die Interpretation versagt, wenn
es nur noch Zeichen und keinerlei Bedeutung gibt. Ihre absolute
Ordnung, Doktor, er­zeugt einen Manipulationsoverkill, der die
Manipulation selber vernichten wird. Ihr Medien­faschismus
endet totsicher in Anarchie.

DR. BRECHER-Die Manipulation hebt sich selber auf, schlägt um
in Anarchie? Dialektiker­flausen! Sie suchen Trost in einer
linkstheologischen Denkfigur. Sie vergessen den Erzfeind der
Revolution und aller Geschichte: wohlstandsgeschützte
Dummheit. Sättigen Sie die Bedürf­nisse. Erlauben Sie
private Geistesfreiheit mit Fernbedienung. Ãœbertreffen Sie die
Wirklichkeit im Cyberspace. Und Sie werden schon sehen, wo Ihre
sich selbst aufhebende Manipulation, wo selbst die Wirklichkeit
bleibt.

PROF. HORAK-Sie haben dennoch das wichtigste vergessen: die
große charismatische Per­sönlichkeit. Haben Sie sich
in den Männerasylen schon nach einem neuen politischen
Schreihals umgetan? Und wenn ja, wissen Sie denn nicht, daß
er alle schönen Pläne zunichte machen wird?

DR. BRECHER- Lieber Professor. Das Führerprinzip ist veraltet.
Es muß dezentralisiert wer­den. Das elitäre
Kastenwesen verspricht die historisch längste Lebensdauer. Was
wir suchen, das ist kollektive Kompetenz auf allen Ebenen. Nur
schade, daß just immer diejenigen, die in Frage kämen,
an ihrem bürgerlichen Nervensystem scheitern.

Szene 4 – Im Schlafwagen

AHMANT-Warum beschränkst du deinen Verstand, wenn du scheibst?
Wie kannst du im Le­ben so klug, in der Literatur aber
freiwillig so dumm sein?

HERMINE-Werd bloß nicht moralisch. Das verdirbt die Zigarette
danach.

AHMANT-Deine Tantiemen müssen unwiderstehlich hoch sein.

HERMINE-Was sollte ich deiner Meinung nach schreiben? Hast du noch
nicht bemerkt, daß selbst die Avantgarde klassisch geworden
ist? Die Tabus sind rar, im Leben, in der Literatur, in der Liebe.
Das eigentlich Revolutionäre ist heute das Bekenntnis zur
Konvention. – Meine Tantiemen, ja, sie sind hoch, sehr hoch.
Unwiderstehlich hoch.

AHMANT-Aber irgendetwas muß dich doch wirklich interessieren,
verdammtnochmal!

HERMINE-Die Lüge der Liebe und die vulgäre
Materialität des Geldes. Sentimentalität und Zaster. Ist
dir das literarisch genug?

AHMANT-Schreib verhurte böse zynische Bücher. Schreib
sie. Und laß die großen Gefühle dem Leben. Geh
zugrunde daran. Das ist immer noch das beste. Es gibt nur eine
Pflicht für uns: so gut wie möglich zu schreiben.

HERMINE-Und so schlecht wie möglich zu leben? Das Geld allein,
ganz allein, löst noch große Gefühle aus. Die Jagd
nach ihm durchzuckt uns wie der Strom galvanische Frösche. Wir
sind tot, Mann, tot und zappeln an elektrischen Drähten.
– Du suchst Haß, Liebe, Verbrechen, Leidenschaft? Such
sie beim Geld und nur beim Geld. Der Profit schreibt die letzten
großen Dramen der Menschheit. Bessere haben wir nicht.

AHMANT-(zieht sich an) Ich gehe wieder zur Bar. Durst ist schlimmer
als Heimweh.

MARLENE-Das ist günstig. Schick bitte Dr. Brecher zu
mir.

AHMANT-Brecher? Meinst du diesen fetten Finanzfaschisten mit dem
uniformierten Operetten­mephistopheles?

MARLENE-Genau den. Sei brav und hol ihn.

AHMANT-Tschau Bella.

(ein Abteil weiter)

MARTINA-Nun kommen Sie schon, Schloz. Das Abteil ist frei.
Schließen Sie die Tür, legen Sie die Tasche aufs Bett,
entspannen Sie sich. So!

SCHLOZ-Ich weiß nicht...

MARTINA-Sie haben mit einer Dame eine Flasche Champagner
geköpft und verschwinden für ein Tête Ã
Tête im Schlafwagen. Na und? Sie sind auch nur ein Mann. Und
außerdem Soldat. Ein Zivilist wie Brecher hat nur begrenzten
Einfluß auf Sie. Was glauben Sie übrigens, was
der treibt? Trinken Sie, Sie können das vertragen. Zum
Wohl. (Gläserklirren)

SCHLOZ-Man kann sich seine Vorgesetzten nicht immer aussuchen. Sie
haben Anspruch auf Loyalität. So oder so. Er weiß,
daß Sie Journalistin sind. Er darf nichts davon
erfahren.

MARTINA-Er weiß vor allem auch, daß ich eine Frau
bin.

SCHLOZ-Und eine hübsche dazu.

MARTINA-Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?

SCHLOZ-Heinz.

MARTINA-Dann befehle ich Ihnen, mit mir augenblicklich
Brüderschaft zu trinken!

SCHLOZ-Prost Martina.

MARTINA-Prosit Heinz.

(sie stoßen an und geben sich einen schmatzenden
Kuß)

MARTINA-Was ich nicht verstehe, Heinz, sei mir nicht böse,
aber wie kommst du dazu, für einen Mann wie Brecher den
Lakeien und Kofferträger zu spielen? Du gehörst doch
eindeutig zum Militär!

SCHLOZ-Ich mußte die Laufbahn aufgeben.

MARTINA-Aufgeben? Kann ich mir nicht vorstellen. Du bist geborener
Soldat. Das muß eine unglaubliche Intrige gewesen sein.

SCHLOZ-Politischer Übereifer. Es fehlt überall der Ernst,
die innere Bereitschaft, die Beru­fung.

MARTINA-Und dafür hat man dich entlassen?

SCHLOZ-Ich bin sozusagen konspirativ entlassen worden. Ich operiere
paramilitärisch. Worauf jetzt alles ankommt, ist eine neue
Strategie, eine neue logistische Infrastruktur, getra­gen von
absolut zuverlässigen Leuten.

MARTINA-Das verstehe ich nicht.

SCHLOZ-Gott, bist du naiv! Geld und Organisation, Organisation und
Geld. Ich habe in Frankreich Freunde.

MARTINA-Das glaube ich gern. Kapitalistenknechte, die von der
Herrschaft träumen, die gibt es auf der ganzen Welt. Du
wärst besser Soldat geblieben, Heinz. Und dabei hast du mir so
gut gefallen!

HEINZ-Stelle mit Bedauern fest: du hältst mich für dumm.
Willst mich ausfragen für dein Kä­seblatt und machst
mir schöne Augen. Wird dir nichts nutzen, miese kleine
Journaille, von mir hörst du keinen Namen, verstanden! Hast du
Zeugen? Nein. Und überhaupt, wer könnte mich hindern,
über dich herzufallen, hm? (wirft sie aufs Bett, Martina
kreischt) Schnauze! Dich rühr ich nicht an, vaterlandslose
Schlampe!

MARTINA-Entschuldige. Ich sah einen Mann in dir, einen Mann! Und
jetzt singst auch du die Hymne der Verlierer. Geheime
Aufträge, verschwommene Ideen und am Sanktnimmerleinstag ein
glänzender Sieg, der ultimative Erfolg.

SCHLOZ-(lacht ausgiebig) Die Kapitalisten werden sich noch wundern!
Alle werden sich noch wundern!

MARTINA-Hör endlich auf damit! Laß uns trinken und
gehn.

HEINZ-(erhitzt) Sie glauben, sie hätten uns für ihre
Zwecke eingespannt. Das ist richtig. Aber wir ziehen sie in unsere
Richtung. Das Volk liebt uns, nicht sie. Gemeinschaft,
idealistische Gesinnung, Zucht und Sitte in Familie und Staat
– was haben diese Krämerseelen dem Adel der menschlichen
Seele, dem Willen zur absoluten Hingabe entgegenzusetzen? Die Welt
dreht sich immer schon um Werte. Wenigstens in Deutschland. Leise,
langsam und unhörbar dreht sie sich.

MARTINA-Das hab ich schon einmal gehört!

SCHLOZ-Auch so eine Dummheit von euch. Ihr glaubt, die Geschichte
veraltet. Das ist euer größter Fehler! Sie veraltet nie.
Sie schreitet nicht voran, sie schreitet nicht zurück. Im
Leben herrscht immer der Gegensatz, der Krieg, versteht ihr? Es
gibt kein Absolutes, dem ihr euch nähern könnt, keinen
Weltgeist, keinen Gott, keine perfekte Gesellschaft, nichts. Es
gibt nur Sieg und Niederlage. Und nur im Sieg, nur in der
Vernichtung liegt ein Hauch von Ewigkeit.

MARTINA-Das hätte ich nicht in dir vermutet. Goebbels oder
Jünger?

SCHLOZ-Unter anderem. Ich verzichte auf geistigen Privatbesitz. Das
ist Individualismus und Humanitätsduselei. Das
Erlösermärchen, die sogenannte Geschichte, muß aus
unserem Fühlen und Denken weggehämmert werden. Ihr
Verwesungsgeruch wird unerträglich. Ihre Erfüllung ist
wichtiger als ihre Enthüllung!

MARTINA-Und trotzdem. Ein zweites Weimar bekommt ihr nicht.

SCHLOZ-Sicher nicht. Ein erstes Bonn oder Berlin genügt
uns.

MARTINA-Was macht euch so verdammt sicher? Ihr kommt nicht einmal
mehr in den Bun­destag.

SCHLOZ-Bundestag! Wozu Bundestag? Sag lieber Bundesbank! So lange
in diesem Land das Geld herrscht, so lange sind die Gedanken
vogelfrei. Wird der Wohlstand aber brüchig, dann steigt unsere
Einheit, unsere Geschlossenheit, unsere Unbedenklichkeit so jung
und unver­braucht wie Phönix aus der Asche empor. Ihr
haltet das für anachronistisch und barbarisch, wie? Das Recht
zur Macht aber verleiht man sich nur selber. Es gibt überhaupt
nur ein Recht auf der Welt, und dieses Recht liegt in der eigenen
Stärke!

MARTINA-Still, Heinz, still! Da draußen ist Brecher.

(gedämpft)

BRECHER-In Ordnung, Professor. Akzeptiert! Vielleicht sprechen wir
nochmal darüber. Sie entschuldigen, aber mich erwartet eine
Dame. (Gelächter)

MARTINA-Er ist weg. Wir müssen auf unsere Plätze
zurück.

SCHLOZ-Ich dachte, wir...

MARTINA-Was ist los mit dir? Willst du deine Mission
gefährden? Oder scheitert der deutsche Wiederaufbau an deiner
kleinen individuellen Geilheit? – Komm schon. Was schielst du
denn in diese Tasche?

SCHLOZ-Verflucht! Irgendein Scheißkerl hat meine Waffe
entwendet!

MARTINA-Na und?

SCHLOZ-(wird handgreiflich, Martina kreischt) Wo ist sie? Verdammt,
wo ist sie? Rück sie raus!

MARTINA-Spinnst du? Ich habe keine Waffe!

SCHLOZ-Wir sind in großer Gefahr. Alle. Irgendein Irrer ist
im Zug.

MARTINA-Reg dich nicht auf. Ein Diebstahl, weiter nichts.

SCHLOZ-Diebstahl! Das Geld lassen sie liegen und die Knarre nehmen
sie mit, wie? Das Schwein hat unser Abteil observiert.
<p align="center">---

(nebenan)

DR. BRECHER-(klopfend) Mach auf!

HERMINE-Hermann?

DR. BRECHER-(tritt ein) Wer sonst? Ahmant etwa? Wie war er?

HERMINE-Ein Epos, Hermann, ein Epos.

DR. BRECHER-Manche Leute gelangen eben nie übers Vorspiel
hinaus. Sie bringen es nie auf den springenden Punkt.

HERMINE-Das kannst du so nicht sagen. Er sucht mit engelhafter
Geduld die Seele. Das stimmt schon. Doch wenn er sie nicht findet,
hält er sich totsicher am nackten Körper schadlos.

DR. BRECHER-(schenkt sich ein Glas voll) Dann bist du wenigstens
auf deine Kosten ge­kommen. Denn daß er bei dir etwas
Seelisches gefunden hat, kann ich mir nicht vorstellen.

HERMINE-Du bist umwerfend charmant heute. Gehn die Geschäfte
so schlecht? Kein dicker Fisch im Netz?

DR. BRECHER-Du mußt mir helfen, Hermine. Dieser Horak, der
wär etwas für uns. Solides Investitionsvolumen. Aber er
ist dickfellig und verbürgerlicht. Hat den Humanismus mit der
Schöpfkelle gefressen. Argumentativ rein gar nichts zu machen.
Scheiß Intellektuelle! Wenn sie Geld haben, sind sie richtig
widerwärtig.

HERMINE-Wo hakt's denn?

DR. BRECHER-Er denkt bei Faschismus nicht an effektive Organisation
und Effizienz, son­dern stur ans KZ. Er schimpft sich
Ästhetiker, will aber die Wirklichkeit nicht durch Medien
ersetzen. Das einzig Elitäre an ihm ist die Aura des Geldes
und der Bildung.

HERMINE-Ich denke, du übertreibst.

DR BRECHER-Mir sind Menschen verhaßt, die vom Nihilismus
schwatzen wie der Snob vom letzten Cricket-Match.

HERMINE-Ruhig Blut, Hermann. Horak ist eben ein Gentleman.
Verfügst du über irgendwel­che sachdienlichen
Hinweise?

DR. BRECHER-55, zweimal geschieden, Genußmensch. Verschwommen
konservativ. Rhetorik durchaus amoralisch. Nicht blenden lassen.
Der psychologische Aspekt interessanter: neurotisches
Vatersöhnchen. Möchte gern aus eigener Kraft etwas sein
und gelten. Trotzdem von Frauen dominierbar – oder gerade
deshalb. Eine aussichtsreiche Machtposition könnte ihn
ködern. Versuch's nicht mit Philosophie, versuch's mit
Strapsen. Gib ihm die Peitsche, reg seine übersättigte
Phantasie an. Dort ist sein schwächster Punkt.

HERMINE-Masochismus, bist du sicher?

DR. BRECHER-Zum Teufel – nein! Wenn er kein Masochist sein
sollte, dann mach ihn ge­fälligst dazu!

MARLENE-Bezahlung?

DR. BRECHER-Die üblichen Konditionen. Obwohl du's billiger
machen könntest. Er ist sehr gebildet.

HERMINE-Macht nur mehr Arbeit.

DR. BRECHER-Ich verabschiede mich. (Verläßt das Abteil)
Sieh einer an, der Ahmant? Und in Begleitung? Respekt, mein Lieber,
Respekt. Sie sind überall aktiv, scheint mir. An der Bar, im
Schlafwagen, so ist's recht. Guten Abend, Fräulein Martina.
Denken sie dran: in zwei Stun­den sind wir in Paris.

MARTINA-Nicht beachten! Komm schon rein.

(betreten ein freies Abteil)

AHMANT-Was willst du? Ich ertrage heute keine Moral mehr.

MARTINA-Schließ bitte die Tür. Es ist sehr wichtig und
hat rein gar nichts mit den Irrwegen deiner Libido zu tun.

AHMANT-(schließt Tür) Also gut, schieß los.

MARTINA-Brecher kollaboriert mit den Nazis.

AHMANT-(lacht) Ist das alles?

MARTINA-Und sein Assistent, dieser Heinz Schloz, besitzt
militärische Kontakte nach Frank­reich. Sie infiltrieren
die Wirtschaft, Willi, und im Grunde arbeiten sie schon an der
nächsten legalen Revolution.

AHMANT-Und? Weshalb erzählst du mir das? Bin ich Herkules,
soll ich diesen Augiasstall mit der litararischen Heugabel
ausmisten? Die Audax-Immobilien sind ein prächtiges Wirtstier,
und es fahren eben auch braune Parasiten mit.

MARTINA-Mehr hast du nicht zu sagen?

AHMANT-Zum Teufel, mach ne Story draus! Mach deinen esoterischen
Mythophantasten klar, daß die Zivilisation eine
hauchdünne Eisschicht ist, die jederzeit einbrechen kann. Eine
Wohlstandsblähung ohne Dauer. Ein bißchen mehr
Sozialangst – und die dumpfbrütende Masse treibt uns
alle in die Barbarei zurück.

MARTINA-Du bist ein charakterloses Schwein, Willi Ahmant. Ein
Mitläufer. Ein Pseudo­intellektueller.

AHMANT-Die Entwicklung, die jetzt erfolgt, ist schon vor Jahren in
Wort, Bild und Ton prognosti­ziert worden. Wer kraft seiner
Gedanken den schäbigsten Eierbecher von der Stelle bewegt, hat
mehr erreicht als alle Propheten und Geschichtsschreiber
zusammengenommen.

MARTINA-Hör auf. Du bist ein Opportunist. Du drückst
dich. Du steckst selber schon drin in der Kloake, bis zum Hals
drin. Du langweilst mich, Herr Kulturkritiker. Du bist ein
Spießer, und du weißt es.

AHMANT-Eine Frage noch: Welche Rolle spielt Hermine Wolf?

MARTINA-Sie ist wie du. Sie steckt mit drin. Sie ist der erotische
Katalysator, wenn das Ge­schäft nicht läuft. Brecher
ist ihr Kuppler, ihr Verleger und Flachleger. Horak das Objekt der
Begierde, ein lukratives Objekt übrigens. Ich bin mir sicher:
Schloz schleppt ihren Hurensold in bar mit sich herum. Im
Ledertäschchen. Sie braucht das. Die sinnliche Präsenz
des Geldes, Ahmant.

AHMANT-Also gut. Ich werde etwas unternehmen.

MARTINA-Hat dir dieses Weib den Kopf verdreht? Spiel bloß
nicht den Helden!

AHMANT-Helden können nur noch gespielt werden.

MARTINA-Sei vorsichtig. Irgendein Irrer sitzt im Zug. Er ist
bewaffnet.

5 – Erneut im Abteil

(Bremsgeräusche)

DR. BRECHER-Irgendetwas stimmt nicht. Normalerweise genießt
unsereins freie Fahrt. Die Audaxleute hätten unsere Gleise
wirklich etwas besser schmieren können.

AHMANT-Vielleicht ist es höhere Gewalt. Haben Sie schon mal
daran gedacht, daß so eine gemütliche Eisenbahn ein
ausgezeichnetes Objekt für Attentäter darstellt? Ihr Weg
ist exakt markiert, der Fahrplan in der Regel zuverlässig.
Zeitlich und räumlich also die besten Voraus­setzungen
für einen Sprengsatz.

PROF. HORAK-Sie scherzen hoffentlich, junger Freund.

AHMANT-Ist das so abwegig, Professor? Das Wirtschaftspotential, das
hier so steinzeitlich befördert wird, stellt für einen
gewissen Menschenschlag eine hochgradige Versuchung dar.

SCHLOZ-Der Herr hat recht. Es gibt viele Beispiele aus der
Militärgeschichte. Die Eisenbahn ist ein lohnendes
Zielobjekt.

DR BRECHER-Schloz, Sie machen den Damen Angst. Geben Sie Ihre
Schauermärchen auf dem nächsten Kameradschaftstreffen zum
besten!

SCHLOZ-Sie entschuldigen, ich vergaß...

MARTINA-Ich habe keine Angst. Spinnen Sie Ihre Theorie ruhig
weiter, Ahmant. Ich finde sie hochinteressant.

AHMANT-Nun ja. Auch die Anonymität wäre
äußerst attraktiv. Zum Beispiel: welchen Wagen erwischt
es, welcher geht hoch? Und dann das beruhigende Gefühl: egal
welcher, in jedem Fall ein Volltreffer, ein blutiger Aderlaß
für die deutsche Wirtschaft, soviel ist sicher.

DR. BRECHER-Ich glaube, daß Haß und Neid eher im
Zug zu finden sind, Ahmant.

MARTINA-Wo viel Geld ist, da ist jedenfalls reichlich Suggestion:
Macht, Mißbrauch der Macht, Politik, empfindliche
unberechenbare Leidenschaften, kurz: alle Formen seelischer
Per­version.

SCHLOZ-Sind Sie Kommunistin?

AHMANT-Und Sie, sind sie Faschist?

DR. BRECHER-(auffahrend) Wie meinen Sie das? Sie gehn zu weit,
Ahmant!

PROF. HORAK-Lassen Sie sich nicht provozieren, Doktor. Sie wissen
doch, für kleinbürgerli­che Aufsteiger ist jeder ein
Faschist, dessen Bankkonto sieben Stellen beträgt.

AHMANT-Aber Professor, gerade die aufsteigenden Kleinbürger
sind die zuverlässigsten Nazis. Die haben Biß. Die sind
darwinistisch inspiriert. Die müssen kämpfen. Ein
sieben­stelliges Bankkonto dagegen verschafft
Flexibilität: Die Demokratie erscheint als lästiges
Han­delsembargo, das politisch beseitigt werden sollte, nicht
wahr? Der verreckte Neger auf der Plantage, was soll man machen,
ein unschuldiges Opfer einer kleinen Aktienmanipulation,
tau­sende von Kilometern entfernt, in London, Neapel oder
sonstwo. Pech gehabt. Funktionelle Gewalt des Systems.

PROF. HORAK-Linke Propaganda, mein Lieber. Das System ist ein
theoretischer Popanz. Sprechen Sie von Macht, und wir kommen der
Wahrheit näher.

AHMANT-Die Macht des Geldes war nie ohne System. Heute herrscht es
mit der überindivi­duellen Arroganz eines Naturgesetzes.
Der Totalitarismus hat sein Ziel erreicht. Er ist endlich global
geworden.

PROF. HORAK-Mir kommen gleich die Tränen. Die Eigendynamik des
Systems!

AHMAN-Genau das, lieber Professor, ist die sublimste Form des
Faschismus, die anspruchs­vollste, die verborgenste. Die
Börsenspekulation hat den Einzelnen beseitigt. Den Einzelnen
gibt es gar nicht mehr. Es gibt heute nur noch Faschismus, oben wie
unten, es gibt nur noch sinnlos entfesselte Dynamik. Der Mensch ist
eine aussterbende Rasse, fehlerhafte
Hochge­schwindigkeitssoftware.

PROF. HORAK-Jetzt ist es genug, Ahmant. Bezichtigen Sie uns als
Nazis? Besingen Sie Ihren romantischen Nietzsche, ignorieren Sie
ihre deprimierenden Kontoauszüge und gehen Sie mit Anstand
nach Hause.

DR. BRECHER-Wann fahren wir endlich weiter? Sie sind besoffen,
Ahmant.

HERMINE-Viel schlimmer. Sie werden langweilig.

PROF. HORAK-Nehmen Sie sich ein Beispiel an Fräulein Wolf. Das
Verhältnis von Geist und Geld ist kein Gegensatz. Die wahre
Kunst besteht aus ihrer Synthese. Der Wille zur Macht hat mehr als
nur romantische Seiten, glauben Sie mir.

SCHLOZ-Stimmt. Ein bißchen mehr Schneid könnte Ihnen
wirklich nicht schaden.

(Zug setzt sich in Bewegung)

AHMANT-Vielen Dank. Ich werde Ihre Ratschläge beherzigen.
Zunächst ein unfehlbares Mittel gegen die Langeweile (zieht
einen Revolver): Todesangst.

DR. BRECHER-Sind Sie übergeschnappt? Stecken Sie das Ding
weg!

AHMANT-Eine Bewegung, Schloz, nur eine, und sie werden den
Heldentod sterben. Brecher, der Lauf ist auf Sie gerichtet. Nehmen
Sie das zur Kenntnis.

PROF. HORAK-Ahmant, hören Sie. Der Scherz ist gelungen. Packen
Sie dieses infantile Schießeisen weg – und Schwamm
drüber.

SCHLOZ-Um Gottes willen...

AHMANT-Lassen wir Gott aus dem Spiel. Gott ist ein Ausländer.
Nicht wahr, Schloz? Der Ausländer schlechthin. Er hat hier
einfach nichts zu suchen. Und noch weniger zu finden.

SCHLOZ-Ein schlampiger Sicherheitsdienst! Die Demonstranten halten
sie uns vom Hals, und die Linken lassen sie unkontrolliert in den
Zug.

DR. BRECHER-Hörn Sie, Ahmant, wir sind nicht kleinlich.
Beenden Sie Ihren Auftritt. Wir sehn darüber hinweg. Ich habe
Angst, Mann. Sie haben es fertiggebracht.

AHMANT-Wozu die Eile, Doktor? Plaudern wir ein wenig. Ist die
Materie nicht ein faszinie­rendes Medium? In Gestalt einer
Bleikugel ist sie beleidigend wirklich. Sie zerreißt
illusionslos Ihr Herz, Ihre Eingeweide, Ihr Gedärm. Sie
verspritzt unbeirrbar Ihr Gehirn übers Polster. – Was
ist der Wille zur Macht? Eine unbedeutende, willkürliche
Regung des Geistes. Ein wenig Strom, ein Neuronengeflecht, ein paar
Transmitter, ein paar Synapsen. Peng! – Sie zucken?

DR. BRECHER-Der Spaß geht wirklich zu weit.

AHMANT-Sie sollten mir dankbar sein. Endlich sind Sie mal im Hier
und Jetzt. Und endlich steht der quälende Wettlauf Ihrer
Gedanken still. Die Synthese aus Geist und Geld, Professor, sie ist
tatsächlich möglich – im Terror. Dort ist ihr
wahrer Berührungspunkt.

(Bremsgeräusche)

AHMANT-Wir fahren in Paris ein, sehr gut. Jede Menge Presse,
ausgezeichnet. Martina, nimm Herrn Schloz die Tasche weg, langsam.
Gib sie Fräulein Wolf, ist schließlich ihr Eigentum. Was
hat Sie der Businessbums mit Horak gekostet, Brecher?

DR. BRECHER-Fünfzigtausend.

AHMANT-Öffnen Sie das Fenster, Fräulein Wolf. Wird's
bald! Sehr gut. Kippen Sie den Inhalt der Tasche auf den
Bahnsteig.

HERMINE-Du Schwein!

AHMANT-Brecher, ich verliere jede Geduld!

DR. BRECHER-Tu, was er sagt.

(Stimmengebrüll von draußen)

AHMANT-Die Firma Audax macht sich in Frankreich viele
Freunde.

PROF. HORAK-Diese Idioten! Die prügeln sich! Wo bleibt der
Sicherheitsdienst? Hilfe!

(Jubel, Hochrufe, Beifallsklatschen von draußen)

AHMANT-Geben Sie sich keine Mühe, Professor!

HERMINE-Können wir jetzt gehn? Was willst du noch!

AHMANT-Was ich will! Brecher will ich!

DR: BRECHER-Wir können über alles reden, Ahmant. Ich
brauche Leute wie Sie. Wir werden bestimmt einig.

AHMANT-Ausziehn!

DR. BRECHER-Wie bitte?

AHMANT-Ich sagte ausziehn!

(Brecher zieht sich aus)

DR. BRECHER-Warum glauben Sie mir nicht? Wir können
reden.

AHMANT-Kein Wort mehr! Die Fetzen runter!...Gut so. Setzen!
Martina, gib ihm deinen Lippen­stift. Den knallrot femininen
Lippenstift. Los! Und jetzt zeichnen Sie sich ein dickes Hakenkreuz
auf den Wanst. Das macht sich gut auf ihrer haarlos weißen
Arierhaut! Dick auf­tragen, Strich für Strich. Links
ansetzen! Sie müssen spiegelverkehrt denken, Mann!

DR. BRECHER-Was bezwecken Sie damit? Sind Sie
übergeschnappt?

AHMANT-Ich setze ein Zeichen, Doktor. Ein Zeichen in dieser
wunderbaren Welt der Zei­chen. Bis auf Brecher
verläßt jetzt alles das Abteil. Einzeln, der Reihe nach
und langsam.

DR. BRECHER-Schloz! Schloz! Sie bleiben hier! Dieses
Arschloch!

AHMANT-Sie können gehn, Brecher. Und denken Sie dran: ich
drück Ihnen von hinten den Stahlphallus in ihr zartes
Putenfleisch. Gehn Sie endlich!

DR. BRECHER-Ahmant. Sie haben immer noch eine Chance. Geben Sie mir
meine Kleidung, ich bitte Sie. Der Geldregen läßt sich
erklären. Dernier crie, décadence, life-style. Wieviel
wollen Sie, nennen Sie eine Summe, das ist die Chance Ihres
Lebens...

AHMANT-Aussteigen!

DR. BRECHER-Verdammt, was wollen Sie?

AHMANT-Ihren gesellschaftlichen Tod, Brecher. Ich stürze Sie
kopfüber in den Abgrund der Medienrealität. Jedes Photo,
jeder Zentimeter Film wird Sie richten auf immer. Sie werden um den
ganzen Globus gedruckt, rotiert, geflimmert, verstrahlt. Schneller
als der schnellste Hexen­besen. Man wird Posters anfertigen.
T-Shirts! Sie werden seriöse Talk-Shows und New Yorker
Zeitgeistparties dekorieren. Sie werden im psychologischen
Fachblatt als homophiler Machtneurotiker gehandelt, im schlimmsten
Fall als Ready-made im Museum ausgestellt.

DR. BRECHER-Sie sind ja krank!

AHMANT-Und besoffen. Genau das werde ich vor Gericht behaupten. Ich
rechne mit einem geringen Strafmaß. Beweg dich!

(Reporter dringen ein)

DR. BRECHER-Verflucht! Haut ab!

AHMANT-Sie sind entdeckt. Sie stehen im Blitzlicht. Zu spät!
Raus!

(Brecher geht. Großes Gelächter entsteht, Buhrufe,
Pfiffe, langanhaltendes Gejohle)

EPILOG

(Gedränge auf dem Bahnsteig)

MARTINA-Die Exklusivrechte, Willi...

AHMANT-Ein Interview für den Meistbietenden. Mein
nächstes Buch wird ein Bestseller: "Die ästhetische
Dekonstruktion des Herrenmenschen. Ein Fallbeispiel."

MARTINA-Wieviel willst du für das Interview?

AHMANT-Viel. Reich dein Angebot schriftlich ein.

MARTINA-Du schuldest mir was.

AHMANT-Schreib deinen Reisebericht. Zur stellvertretenden
Chefredakteurin wird's reichen.

(zunehmendes Gedränge)

MARTINA-Das Interview...

STIMMEN: (sollten alle simultan überblendet werden) Herr
Ahmant, auf ein Wort / Monsieur!/ gehören sie einer
Organisation an?/ Monsieur!/ woher das Geld?/ Audax? Audax?/
Botschaft, was ist ihre Botschaft?/ superb, une sensation/ any
information in your books?/ any revelations/ terrorisme
esthétique, terrorisme esthétique?/ grober Unfug?/
Blackout/ psycholo­gical disease/ bien sur, in unserer
nächsten Ausgabe/ just tell me/ wieviel wollen sie/how
much/we'll make you a good price,a good price, Sir/ le prix!/le
prix!/le prix!

AHMANT-Interview und Exklusivrechte an den Meistbietenden. Kein
Kommentar. Führen Sie mich endlich ab.

(sie entfernen sich)

MARTINA-Mistkerl, elender Mistkerl! Monsieur,
Téléphone? Téléphone? Merci.

SCHLOZ-(mit Handy) Nein, nein, ein Einzeltäter.
Schriftsteller...Wie? Nichts unternehmen? Jawohl! Ein Verfahren
gegen Brecher? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!
Veruntreuung?...Ja so! Natürlich. Selbstverständlich. Bin
mit der Materie vertraut. Sie können sich auf mich
ver­lassen. Das Geschäft geht in Ordnung.

MARTINA-Zepp-Mislowski. Sensation in Paris. Blasen Sie alles ab.
Humanistischer Gewalt­täter inszeniert
Gesinnungsstriptease. Eine neue Form des Widerstands gegen die
Totalität der Zeichen. Hab alles aus erster Hand. Mach ich im
Flugzeug fertig. Bis gleich.

PROF. HORAK-Diese Medien! Wie die Aasgeier! Ãœbrigens: ich kann
mich doch auf dich ver­lassen, Hermine?

HERMINE-Verlassen? Worauf?

PROF. HORAK-Du ziehst mich da nicht rein, oder?

HERMINE-Du kennst meinen Preis.

PROF. HORAK-Fünfzigtausend?

HERMINE-Fünfzigtausend. (Sirenen werden laut) Diese Kretins!
Die schlagen sich gegensei­tig tot. Mein schönes
Geld!

(Gedränge)

AHMANT-(mit betrunkener Stimme) Es lebe die Frührente!
Ha,ha,ha! Es lebe die Frührente! Ich tausche meine Einzelzelle
gegen eine Insel! Bald! Au revoir, au revoir!

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