Anmerkungen 2005

Die Geburt der Rechtschreibreform aus dem Geiste der Bürokratie

Die Rechtschreibreform lässt leider nicht zu, dass man sich mit ihr abfindet. Denn neuerdings wird ernsthaft diskutiert, die katastrophale Regelung der Getrennt- und Zusammenschreibung nochmals zu reformieren. Genauer: zu der alten Schreibweise zurückzukehren. "Sitzen bleiben", getrennt geschrieben, bedeutet dann wieder so viel wie "auf seinem Platz sitzen bleiben"; wohingegen "sitzenbleiben", zusammengeschrieben, als eine übertragene und zusammengehörige idiomatische Einheit aufgefasst werden soll: "Sitzenbleiben" heißt also wieder "in der Schule nicht in die nächste Klasse versetzt werden". Vergeblich, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen (Deutschlehrer, Schriftsteller, Publizisten etc.) schon bei Einführung der Reform darauf hingewiesen haben, wie sehr unsere Sprache verarmen würde, wenn wir auf das Mittel verzichten, durch Zusammenschreibung übertragene Bedeutungen zu entwickeln. - So gesehen, ist diese geplante Zurücknahme der neuen Schreibweise ein Segen für unsere sprachliche Ausdrucksfähigkeit.

Eigentlich wollte ich mich zu diesem Thema ja nicht mehr äußern. Was ich zu sagen hatte, findet man in den "Anmerkungen 04", worin mein altes Pamphlet aus dem Jahr 1997 nochmals präsentiert wird. Jetzt muss ich aber trotzdem etwas dazu anmerken. Denn die bürokratische Veranstaltung "Rechtschreibreform", die ohne Bindung an die Sprachgemeinschaft von oben verordnet wurde, sieht natürlich nicht die Konsequenzen ihres Tuns in der praktischen Lebenswelt: Jeder seriöse Deutschlehrer, Journalist, Lektor und Schriftsteller musste sich die neue Schreibweise aneignen. Da hilft keine Berufung auf die dichterische Freiheit oder einen olympisch über den Dingen schwebenden Sonderstatus. Das können sich nur allseits anerkannte und etablierte Autoren erlauben. Meine Schüler erwarten, dass sie die amtlich geltenden Regeln erlernen. Meine Leser, dass sie ein korrektes Deutsch vorgesetzt bekommen. Und für uns stellt sich jetzt das Problem, dass wir schon lange mit der neuen Schreibweise arbeiten, unterrichten, korrigieren, schreiben und redigieren. Deshalb scheint durch die bevorstehende Reform der Reform folgender Hinweis ungeachtet seiner haarsträubenden Absurdität absolut am Platz:

Jeder Text, den Sie auf Textuniversum oder in meinem neuen Buch ("Literatur und Management") lesen, ist unter den zum Zeitpunkt der schriftlichen Fixierung geltenden Rechtschreib-Regeln abgefasst worden.

Mehr kann ich nicht tun.
Dieses jämmerliche Possenspiel ist nur ein weiterer Auswuchs an Bürokratie, der die Spontaneität und Experimentierfreudigkeit in unserem Land überwuchert und im Keim erstickt. Man hört nicht auf die Leute, die an der Front die Arbeit erledigen und demzufolge auch am besten wissen, wie sie zu tun ist. Im Fall der Rechtschreibreform hat der Fetisch einer generalstabsmäßig geplanten administrativen Vorschrift die Grundlage der Sprachentwicklung sträflich vernachlässigt: Den faktischen Gebrauch der Sprache in einer kulturellen Gemeinschaft. (Siehe "Anmerkungen 2004".)
Nötig wäre mehr Mut bei der Reformierung einzelner Regeln und wesentlich mehr Zurückhaltung in der Frage des Gesamtsystems, das man am besten dem realen Sprachgebrauch und der realen Sprachentwicklung überlässt. So hat die Rechtschreibreform - im Einzelnen - manch Sinnvolles und Gutes vorzuweisen: Zum Beispiel die Abschaffung des so genannten "verblassten" Substantivs. Früher hatte man gesagt, in einer allgemein gebräuchlichen Wendung wie "sich über etwas im klaren sein" sei das Nomen ("das Klare") abgeschwächt ("verblasst") und infolgedessen klein zu schreiben. Daneben aber existierten schon immer gebräuchliche Idiome wie "ins Schwarze treffen" - worin das Nomen "das Schwarze" angeblich als Substantiv klar erkennbar sei und also groß geschrieben wurde. Das Kriterium "gebräuchliche oder ungebräuchliche Redewendung" ist die reine Willkür. Fazit: Wer Deutsch korrekt schreiben wollte, musste im Grunde separat und ohne überzeugende Regel schlicht eine Reihe von Redewendungen auswendig lernen, die als "gebräuchlich" interpretiert wurden - und die darin befindlichen Substantive klein schreiben. Angesichts der übergeordneten Regel, dass Substantive oder substantivierte andere Wortarten (etwa Adjektive wie das Klare, Schöne, Reine etc.) durchgängig groß zu schreiben sind, war das nur ein sinnloses Zufallsprinzip. Ein weiterer sadistischer Einfall, wie man Leute schikanieren kann, die so tollkühn sind, die deutsche Sprache zu lernen oder fehlerfrei anzuwenden. Das verblasste Substantiv ist jetzt zum Glück ein alter Zopf, den die Reform abgeschnitten hat.
Aber eben hieran fehlt es bei dieser Reform: An der Courage, den bereits bestehenden Grundregeln im Einzelnen mehr Geltung zu verschaffen. - Im Gegenteil schuf man, insbesondere bei der Getrennt- und Zusammenschreibung, einen Wust von neuen Regelungen, die das Grundprinzip selbst antasteten. Denn der Bedeutungsreichtum der deutschen Sprache basiert nicht zuletzt auf einem Konsens über die Zulässigkeit von Wortneuschöpfungen: Werden zwei Wörter als eine Einheit, als eine bildliche Übertragung oder als neu gestalteter Ausdruck verstanden, so schreibt man sie zusammen: "Kennenlernen" ist eben etwas anderes als bloß "kennen lernen". Ich will ja nicht lernen, jemanden zu kennen. Noch brauche ich keine Brille. Ich will seine Bekanntschaft machen. Und eine "Handvoll" ist eine kreative Weiterentwicklung von eine "Hand voll". Doch jetzt müssen wir wieder eine "Handvoll" getrennt als eine "Hand voll" schreiben. Das sieht so deutsch aus wie Trapattonis "Flasche leer". "Leerflaschig" wäre übrigens ein schönes Adjektiv, das man in der guten alten deutschen Sprache jederzeit hätte entwickeln können. Beispiel: Das ist eine leerflaschige Reform. Oder auch in adverbialer Position: Sie reformierten absolut leerflaschig.
Ministerien und Kommissionen sollten sich also nicht an der semantischen Innovationskraft unserer Sprache vergreifen. Das wollten sie auch nicht. Ganz bestimmt nicht. Sie wussten nur nicht, was sie taten. Und sie konnten es auch gar nicht wissen: Sie waren Opfer der bürokratischen Diktatur, die hier zu Lande (schreibt man jetzt auch getrennt) alle produktiven Kräfte lähmt wie in keiner anderen Nation.
Günter Bachmann