Anmerkungen 2004

Mit Bedauern muss ich feststellen, dass mir zur gegenwärtigen Diskussion über die Rechtschreibreform nichts mehr einfällt. Schon im Jahre des Herrn 1997 habe ich in einem Manifest dazu aufgefordert, dass dieser politisch sanktionierte Verwaltungsakt boykottiert werden müsse. Und es verschafft mir nachträglich keinerlei Befriedigung, dass die dort vertretenen Argumente erst im Jahre 2004 ins öffentliche Bewusstsein dringen. Denn ich habe aus professionellen Gründen die neue Schreibweise erlernen müssen. Da bleibt selbst die größte Autoren-Eitelkeit auf der Strecke. Deshalb folgt hier kommentarlos das Manifest. - Doch halt, tatsächlich, mir fällt noch was ein: Der bekannte Gruß von Götz von Berlichingen an alle Verantwortlichen.

Günter Bachmann
August 2004

Das todsichere Ende der Rechtschreibreform

Ein Manifest

Die deutsch schreibenden Autoren befinden sich immer noch im Tiefschlaf. Ihnen verschlägt es die Sprache, wenn es um ihre Sprache geht. Haben sie so sehr unter dem Kohlschen Nihilismus gelitten? Dieser ist zweifellos die gefährlichste Spielart des Nichts: Nicht, daß man nichts mehr zu sagen hätte. Im Gegenteil, nie war das undeutliche Gefühl größer, daß es noch nie so viel zu sagen gab. Und dennoch will man nichts mehr sagen - und leidet unergründlich unter diesem Nichtssagen. Wo also sind die deutschsprachigen Stimmen deutschsprachiger Autoren zur Rechtschreibreform? Ihr ureigenes Handwerkszeug, ihr gesamtes geistiges Rohmaterial steht auf dem Spiel. Politiker fassen Beschlüsse, der neue Duden erlebt Rekordauflagen, die Schriftsteller schweigen. Gibt es sie überhaupt noch? Das bitterböse Wort vom Penn-Club geht um. Zu Recht.
Wenn ein Autor überhaupt eine politische Verantwortung hat, dann mindestens diese, über Kultur, Stil und Tradition seiner Muttersprache zu wachen. Wer sonst sollte das tun? Die deutschen Schriftsteller haben unsere Sprache erst zu dem gemacht, was sie ist. Und nur in und aus der Literatur kann Sprache weiterentwickelt werden. Wer gutes Französisch kennenlernen will, der liest heute noch Balzac und Flaubert. Wer wissen will, was gutes Deutsch ist, greift zu Fontane, zu Thomas Mann. Und gutes Englisch lernt man von Dickens, Thackeray, James Joyce. Politische Kommissionen haben weder die Kompetenz noch die Potenz, an diesem Tatbestand etwas zu ändern. Kein Schriftsteller muß sich von diesen professionellen Sprachverhunzern sagen lassen, was größere Klarheit im sprachlichen Ausdruck sei. "Vereinfachung" mag in den Naturwissenschaften, mag in Kommunikationstechniken zum Fortschritt führen. In der Sprache jedoch ist sie der Beginn gewissenloser Barbarei. Sprache ist das Medium unseres Denkens und Fühlens, die Grammatik unserer Seele.
Pfui Teufel! Was ist das nur für eine politische Kultur in unserem Land? Wer die Sprache vor dem Verwaltungsakt einer abstrakt verordneten Reform in Schutz nehmen will, muß jetzt erst einmal daherreden wie ein oberstudienrätlicher Wertkonservativer. Als ob die Sprache nicht ihren eigenen Gang ginge, als ob sie nicht den Gesetzen ihrer eigenen historischen Bewegung unterworfen wäre! Statt diesen Weg zu ebnen, statt der Pedanterie im einzelnen abzuhelfen, beschließt und dekretiert man jetzt von oben: Ab morgen ist alles anders! Ab morgen schreibt man so und so! Das funktioniert in der Bürokratie: Ab morgen Schlafmützenverbot in der Mittagspause! Es ist der Gipfel der Idiotie, mit einem lebendigen Organismus wie der Sprache auf diese Weise verfahren zu wollen. Für die "Vereinfachung" sorgt übrigens allein schon die Umgangssprache, die unmerklich und ganz natürlich in die Standardsprache eindringt. Seit Jahrzehnten leidet der Genitiv an galoppierender Schwindsucht. Jetzt hängt er sterbenskrank am Dativtropf.
Aber das ist doch Pedanterie! Auf akademische Gefühlsduseleien können wir keine Rücksicht nehmen! Das Bildungsbürgertum mit seinen inflationären Kommaregeln muß abdanken. Wir gehen auf Europa zu... Aber sicher: Mit diesen und ähnlichen Argumenten schmeichelt man denen, die ein Komma schon immer als willkürliche Unterbrechung ihres Denkens betrachtet haben. Doch darum geht es nicht. Es geht darum, daß kein Politiker das Recht hat, etwas über die deutsche Sprache zu beschließen. Prinzipiell nicht. Zwischen prosaischen Kinnbacken erbricht er ohnehin nur die poetischen Brosamen, die ein Luther, ein Goethe vom reich gedeckten Tisch fallen ließen. Und es schadet seiner Karriere nicht, daß er sich dessen in der Regel durchaus nicht bewußt ist. "Es ist gut pflügen", so Luther, "wenn der Acker gereinigt ist." Und so mag er denn seinen finanzpolitischen Ackergaul getrost durch die flachen Furchen seiner Rede treiben. Er sollte aber das nützliche und dickärschige Tier nicht zum Pegasus erklären!
Aber es sind doch schließlich Grammatikexperten beauftragt worden. Die Reform war überfällig. Alles Humbug! Experten können nicht darüber befinden, wohin sich die Literatur entwickelt. "Experten" können allenfalls den Kohlendioxidgehalt der Luft messen. Aber sie können ohne Bindung an die Literatur das Phänomen Sprache nicht einmal wahrnehmen. Wer hier am Buchstaben etwas ändert, der ändert auf unberechenbare und schädliche Weise auch den Geist unseres gesamten Ausdrucksvermögens.
Aber wo waren sie denn, die Herren Schriftsteller? - Das ist das einzig wirklich stichhaltige Argument. In der Tat: Wo waren sie? Ein wackerer Deutschlehrer, so hört man, möchte die Reform gerichtlich klären lassen. Natürlich ein verkehrter Ansatz. Denn noch weniger als politische Auftragsphilologen kann es ausgerechnet Juristen zufallen, über die deutsche Sprache ernsthaft zu urteilen. Im Zweifelsfall folgen sie rechtspositivistisch der jeweiligen Politik. Und genau auf dieser Ebene, der politischen, ist das Problem auch zu behandeln. Dort liegt es. Herr Enzensberger hat das erste vernünftige Wort gesprochen: Die Sache ist zu boykottieren. Ziviler Ungehorsam. Mehr als ein unorganisierter feuilletonistischer Aufschrei jedoch war das bislang nicht. Und dabei gibt es ein verblüffend einfaches Mittel, diesen Boykott völlig legitim durchzusetzen:

<p style="text-align:center;">Es genügt ein Blatt Papier!

Alles, was Rang und Namen hat in der deutschen Literatur und Publizistik, sollte vom unveräußerlichen Recht auf dichterische Freiheit Gebrauch machen. Eine freiwillige Selbstverpflichtung auf unsere gute alte deutsche Sprache genügt. Schreibt nur noch im historischen Sprachstil! Niemand kann es euch verbieten. Gebt diese Absicht euren Redakteuren und Verlegern schon vor Inkrafttreten der Rechtschreibreform bekannt. Auf diese Art wird eine rein ästhetische Entscheidung eine politische Dimension erhalten. Die Worte der Politiker und Literaten trennen sich jetzt auch orthographisch. (Semantisch ist das schon lange der Fall.) Und es wird sich zeigen, ob die offizielle Sprache einer Nation sich tatsächlich von ihrer Literatur verabschieden kann. Plädieren wir für den politischen Machtkampf zweier Diskurse. Treiben wir ein postmodernes Sprachspiel. Wir werden gewinnen. Hundertprozentig. Jede andere ästhetische Haltung endet in Anästhesie.

<p style="text-align:center;">Schriftsteller aller deutschsprachigen Länder, vereinigt euch!

Ein Blatt Papier mit euren Unterschriften - und wen wollen die Politiker künftig ins deutsche Schulbuch setzen? Kanther für Kant? Bötsch für Benn? Hintze für Heine? Ihr habt es in der Hand. Jetzt. Einer der Promis (wo sind sie?) sollte die Unterschriftenaktion organisieren: Herr Enzensberger, Herr Grass, Herr Walser oder - ach ja! - Herr Ranicki. Keine Sprachreform kann an der realen Praxis der Schriftsteller vorbei. Und Grund zu schlechtem Gewissen gibt es nicht. Sicher, die Autoren haben geschlafen. Aber sie sind nicht gefragt worden. Das genügt. Wir werden überhaupt immer weniger gefragt. Ganz gleich, ob Eurogeld oder Konjunktiv. Also nochmals: Schriftsteller aller deutschsprachigen Länder, vereinigt euch. Wenigstens mit einer Unterschrift auf einem Blatt Papier. So viel Zeit muß sein. So viel Engagement wird niemand überfordern. Selbst im gläsernen Elfenbeinturm der VIP-Loge. Es geht um eure Sprache, das heißt: es geht für euch um alles.

Stuttgart 1997
Günter Bachmann

Selektion durch Geld

Schon zweimal habe ich eine Einladung zum "World Business Forum" in Frankfurt erhalten. Ein Top-Event. Zwei Tage lang, vom 19.-20. Oktober 2004, können die Gäste Auftritte so illustrer Referenten wie Rudy Giuliani, Michael Porter, Jack Welch, Philip Kotler, Tom Peters, Stephen Covey – und Helmut Kohl erleben.
Über Letzteren muss ich mich, besonders in diesem Umfeld, etwas wundern. Kohl mag ja unbestrittene Verdienste um die Deutsche Einheit haben. Doch zu Hause, im eigenen Land, erwies er sich keineswegs als Visionär. Er hatte die Informations- und Wissensgesellschaft in seiner Regierungszeit komplett verschlafen. Seine Kreativität beschränkte sich auf die Streichung von Geldern in überlebenswichtigen Zukunftsressourcen wie Studium und Forschung. Und noch heute ist der Bildungsstandort Deutschland so heruntergekommen wie nie zuvor. Zum Glück für alle Beteiligten spricht er aber nur über Europa, nicht über strategisches Management.<br 7>
Auch in Sachen Emotionaler Intelligenz dürfte er nicht übermäßig begabt sein. Sonst wäre er nicht auf die Idee gekommen, großzügigen Spendern sein "Ehrenwort" zu geben, ihre Namen nicht zu nennen. Entgegen dem Parteiengesetz – unter Bruch der bestehenden Verfassung. Der Skandal, das öffentliche Feedback also, ist bis zum heutigen Tag nicht zu ihm durchgedrungen. Er habe einen "Fehler" gemacht. Diese sprachliche Bemäntelung eines Rechtsbruchs wurde durch die deutsche Justiz auch noch tatkräftig unterstützt. Der Delinquent konnte sich mit einer (für seine Verhältnisse lächerlichen) Geldsumme freikaufen. Und noch heute glaubt er also an einen "Fehler" – statt in Beugehaft zu sitzen.
Natürlich ist es allzu wohlfeil, einen Mann von Verdienst in den Schmutz zu ziehen. Die Menschen ertragen eine überdurchschnittliche Statur nur selten. Deshalb haben sie eine perverse Freude daran, Größe mit Kot zu bewerfen. Mit dieser Rhetorik verteidigt sich Kohl recht selbstbewusst und staatsmännisch. Das Problem ist nur: Er selbst hat sich in den Schmutz geworfen, er selbst hat sich im Kot gewälzt. Hätte er ehrlich zugegeben, dass er, verblendet von eigener Machtfülle, das Gesetz übertrat, so wäre er durchaus berechtigt, seine Ankläger als kleinkarierte Neidhammel darzustellen. Seine fortwährende Uneinsichtigkeit und sein Leugnen aber sind das sichtbare Zeichen seiner Kleinheit.
Fazit: Macht, Einfluss und Geld sind noch kein absolutes Gütesiegel für eine Persönlichkeit.
Umso mehr erstaunt es mich, dass der "Spiegel" (9/2004) eine Veranstaltungssprecherin des "World Business Forum" mit den Worten zitiert, der hohe Preis für diese hochkarätige Veranstaltung "selektiert den Personenkreis". 2100 Euro kostet das Vergnügen für schnell Entschlossene, 2400 Euro regulär. So viel Geld habe ich leider nicht übrig. Ich bin also ausselektiert – wofür ich mich schönstens zu bedanken habe. Die "Business Community" ist eben recht exklusiv. Und was ausschließt, ist und bleibt das Geld. So gesehen tut Helmut Kohl der Würde dieser an sich brillant besetzten Veranstaltung gewiss keinen Abbruch.