Anmerkungen 2003

Old Europe

Die kulturelle Bedenkenlosigkeit, womit die USA neuerdings über Krieg und Frieden, über Völkerrecht, Ökonomie, Religion usw. urteilen, ist nur die Kehrseite eines fehlenden historischen Bewusstseins. Die USA gebären einen Mythos nach dem anderen. Alles scheint dort neu und unerhört, besetzt weltweit die Themen und setzt sich ungebrochen an die Spitze des Zeitgeists. Europäer wiederum, historisch überreflektiert, bringen keine lebendigen Erzählungen, keine urwüchsigen Mythen hervor. Sie analysieren und sezieren sie bloß - und lassen sich eben dadurch von jeder Zuckung der US-Kultur bestimmen. Denn der kritische Abstand an sich bleibt in der Regel ohnmächtig, weil er nur selten zu jener zupackenden Naivität vordringt, die für konsequentes Handeln absolut unerlässlich ist.
Hier sehe ich die größte, die eigentliche Gegensätzlichkeit zwischen alter und neuer Welt. Wenn Herr Rumsfeld etwa von "Old Europe" spricht, so setzt er einen zwar dummdreisten, dafür aber wirkungsmächtigen Mythos in die Welt. Zur gleichen Zeit weiß jeder halbwegs gebildete Europäer, dass ein Europa, worin ausgerechnet Frankreich und Deutschland mit einer Stimme sprechen, in der Tat das neue Europa ist, das neue Europa sein muss. Die Geschichte dieser beiden Länder ist bekanntlich eine blutrünstige Familienfehde aus Kriegen und Konflikten, die Kein und Abel in die Amateurklasse verweist. Charakteristisch für Europa ist, dass es diese historische Wahrheit noch nicht einmal geschlossen formulieren und einem ungebildeten Minister jenseits des großen Teichs um die tauben Ohren schlagen kann. Schlimmer noch: Mit Hilfe unserer oberflächlichen Spaß-Medien kursiert dieses intellektuelle Armutszeugnis aus Washington auch bei uns als ernsthaftes Schlagwort.
Sind wir tote galvanisierende Frösche, von Hollywood nach Belieben unter Strom gesetzt?

Hände weg von den Renten!

Gerechtigkeit ist ein zweischneidiges Schwert. Besonders die Generationengerechtigkeit. Die Rentnerinnen und Rentner haben den Wohlstand der Bundesrepublik Deutschland geschaffen. Mit erbärmlich wenig Urlaub, Karenztagen im Krankheitsfall, extrem langen Arbeitszeiten und lächerlicher Bezahlung. In der Wirtschaft gibt es keine Wunder. Das so genannte Wirtschaftswunder war eine Leistung, die auf den Fleiß der Nachkriegsgeneration zurückzuführen ist.

Wenn dieser Generation jetzt der Vorwurf gemacht wird, dass sie einfach zu zahlreich und zu kostspielig für die Jüngeren sei, dass die "Gerechtigkeit" erfordere, dass auch diese Menschen einen "Beitrag" zu leisten hätten, dann ist das, mit Verlaub, eine bodenlose Frechheit. Dieser Vorwurf wird von einer Generation erhoben, die alle Errungenschaften des Wohlstands als selbstverständlich und unantastbar betrachtet. Die Weicheier und Warmduscher der Spaß-Gesellschaft haben offensichtlich jeden Realitätsbezug verloren: 30 Tage Urlaub, kombiniert mit Brückentagen und Feiertagen, ermöglichen diesen Mühseligen und Beladenen regelmäßig zwei bis drei Urlaubsreisen pro Jahr. Dazu kommt eine Wochenarbeitszeit zwischen 35 bis 38,5 Stunden. All das ist übrigens weltweit einmalig. Um es deutlich zu sagen: Kein Volk ist arbeitsfauler als die angeblich so disziplinierten Deutschen. Wer mit international tätigen Geschäftsleuten spricht, der weiß, dass wir die einzige Gesellschaft sind, deren Bevölkerung nahezu ein gesamtes Quartal nicht am Arbeitsplatz erscheint. Und wenn sie erscheint, dann kurz und flüchtig. Vom Exportweltmeister zum Freizeit- und Urlaubsweltmeister - armes Deutschland.

Wer also wirklich von den Rentnern Opfern verlangt, sollte erst mal selbst welche bringen, besonders dann, wenn er selbst seit Geburt von einem Wohlstand profitiert, zu dessen Aufbau er rein gar nichts beigetragen hat. Die kreativste Lösung, die auch unserer schleppenden Ökonomie gut täte, wäre der Verzicht auf einen der drei Jahresurlaube. 20 Tage Urlaub für die Jüngeren, das wäre der ernsthafte Beginn einer Generationensolidarität. Das wäre, gemessen am internationalen Standard, immer noch sehr üppig. Das wäre auch tatsächlich ein faires Zurückgeben. Und zwar in der Währung, von der die Twens allzu lange ohne Gegenleistung profitiert haben: vom Fleiß und der Arbeit der Alten.

Derartige Maßnahmen sind natürlich unpopulär. Urlaubszuteilung je nach Dekade - 20 Tage für die Zwanzigjährigen, 25 für die Dreißigjährigen, 30 Tage erst ab vierzig - das würde ohne großen bürokratischen Aufwand die Lohnkosten senken und Gelder freisetzen. Apropos Bürokratie: Hier liegt ein Einsparpotenzial in Milliardenhöhe, das völlig unangetastet bleibt. Wo bleibt eigentlich eine bundesweite Initiative zur Reduzierung der Überregulierung, an der Deutschland mehr leidet als jede andere Nation? Stattdessen wird an überflüssigen Stellschrauben wie etwa der Gewerbesteuer für Freiberufler gedreht, die diese Beträge wiederum steuerlich reklamieren müssen. Noch mehr Bürokratie, das scheint hierzulande ein beliebter Volkssport, der jede Eigeninitiative hemmt und abtötet. Die Erklärung ist denkbar einfach: Rund 50 Prozent der Abgeordneten sind - Beamte. Wohlgemerkt: Beamte im gehobenen Dienst, die für viel Geld nur wenig produktive Arbeit leisten.

So bleibt denn alles beim Alten: Man greift den kleinen Rentnern in die Tasche und diszipliniert einfache und mittlere Beamte. Man doktort an den Symptomen herum, ohne einen Gedanken an die Ursachen unserer Misswirtschaft zu verschwenden. Unsere sozialen Standards sind weltweit einmalig, sind eigentlich vorbildlich. Doch in einer Wettbewerbssituation, in der andere Länder diesen Standard gezielt unterlaufen, gehen wir mit einem schwer beladenen LKW ins Rennen, während unsere Konkurrenz in einem aerodynamischen Sportwagen an uns vorbeirauscht. Die Folge: Unser soziales System wird kollabieren, wenn wir nicht anfangen, international zu denken. Wer notwendige Einschnitte propagiert, sollte endlich die demokratische Lösung einer Urlaubskürzung erwägen, die Geld bringt, ohne an den Geldbeutel zu gehen. Die nur etwas mehr Einsatz verlangt. Generationengerechtigkeit ist keine Einbahnstraße. Man muss ein Stück weit selbst gehen. Besonders dann, wenn die andere Partei eine gewaltige Strecke auf diesem Weg längst zurückgelegt hat.

Arnold hat's geschafft!

Nach Ronald Reagan hat es jetzt tatsächlich Arnold Schwarzenegger geschafft, zum "Governor of California" gewählt zu werden. Präsident werden wie Reagan kann er allerdings nicht. Dazu müsste der Österreicher gebürtiger US-Amerikaner sein. Pech. Aber ansonsten stehen ihm alle Türen offen. Denn längst schon ist die Politik zum medialen Ereignis geworden. Wenn Politiker also schon Schauspieler sein müssen - warum dann nicht gleich gelerntes Personal den Job machen lassen? Keine Angst, da kann nicht viel passieren: Wie in allen Branchen, so gilt auch in der politischen vor allem das Teamwork. Arnold aber hat ein gutes Team. Unter anderem Warren Buffet, das Finanz-Genie. Also: Lieber ein professioneller Schauspieler, der Politik spielt, als ein Amateur, der auch nur Politik spielt. Arnold muss wenigstens niemandem vormachen, dass er kompetent ist. Aber in allen übrigen Belangen beherrscht er die Kunst des Vormachens zweifellos besser.

Was soll das?

Der Hamburger und der Bremer Bürgermeister, Ole von Beust (CDU) und Henning Scherf (SPD), haben einen äußerst kreativen Vorschlag zum Vorziehen der Steuerreform gemacht: Sie solle nur für die kleinen und mittleren Einkommen gelten, nicht jedoch für den Spitzensteuersatz. Das ist volkswirtschaftlich wie psychologisch eine Meisterleistung: Der Steuerausfall kann von 15 Milliarden auf 8 Milliarden Euro reduziert werden. Und wer nicht auf den Euro achten muss, der kann es verkraften, wenn er erst später noch mehr Euro dazubekommt. Sein Kaufverhalten wird sich nicht gravierend verändern. Doch wer auf jeden Euro angewiesen ist, der ist dankbar für jeden zusätzlichen, der in der Tasche klimpert - und eher bereit, mehr Ausgaben zu tätigen. Im Grunde hat das Duo Beust/Scherf den genialen Kontrapunkt zur Steuer-Theorie von Franz Josef Strauss komponiert: Dieser war der Meinung, dass man das Geld von "den Mehreren" holen müsse, wenn es um Steuererhöhung geht. Jetzt soll den Mehreren das Geld auch bevorzugt gegeben werden, wenn es um Steuersenkung geht.
Der Bundeskanzler, heißt es, hoffe noch auf eine eigene Mehrheit im Bundestag. Er sehe derzeit keine Notwendigkeit, auf Änderungswünsche einzugehen. Was soll das?
Die Idee von Beust/Scherf wäre doch genau das, was er braucht: Ein Signal an seine Partei-Basis, dass die sozial gerechte Mehrbelastung von Großverdienern kein Tabu ist, besonders dort nicht, wo es ökonomisch einen Sinn ergibt. Offenkundig fehlt der Sozialdemokratie das Gespür für Inhalte, mit denen sich ihre in Scharen davonlaufenden Mitglieder identifizieren könnten. Die Öffentlichkeitsarbeit ist jämmerlich schlecht, weil sie Lebenskenntnis und Instinktsicherheit vermissen lässt. Sie ist rein reaktiv, nicht aktiv. Erst jetzt, nachdem der Scherbenhaufen unübersehbar groß ist, kümmert man sich um symbolische Gesten - an der falschen Stelle: Eine Zwangsabgabe für Unternehmen, die nicht ausbilden. Noch mehr Bürokratie, noch mehr Weltfremdheit und staatliche Regulierung. Gratuliere! Zumal wir wie kein anderes Land an Überregulierung leiden. Diese unsinnige Maßnahme kann auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Reformen selbst das entscheidende Prinzip der Differenzierung missachten: Die simple Einsicht, dass Mehr- und Großverdiener, die seit der Wiedervereinigung von ernsthaft solidarischen Beiträgen verschont blieben, jetzt endlich mal verstärkt zur Kasse gebeten werden. Die unprofessionelle Entscheidungsfindung der SPD, die durch Kommissionen Reformen in die Welt setzt und deren Diskussion erst nach Schaffung vollendeter Tatsachen zulässt, hat die Gelegenheit zu einer sozial ausgewogene Mehrbelastung der Stärkeren erbärmlich verschlafen. Damit geht die Sozialdemokratie ihrer Identität verlustig.
Um es klar zu sagen: Diese Reformen sind keine Strukturreformen. Es sind fantasielose Kostensenkungsprogramme, die das träge Verbände- und Lobbysystem in unserem Land unangetastet lassen. Einseitig zu Lasten der Schwachen: Kein Wettbewerb zwischen den Krankenkassen, keine Positivliste, die der Pharmaindustrie zu nahe tritt - aber bei einkommensschwachen Alten und Kranken abkassieren. Nullrunden bei Rentnern - aber nur ja keine Mehrbelastung der Spaßgeneration, zum Beispiel in Form längerer Arbeitszeiten oder wenigstens moderater Urlaubskürzung. Kein Kampf gegen die erdrückende Bürokratie, sondern risikoscheues Abwürgen jeder kreativen Eigeninitiative. Wo immer man in dieser Gesellschaft hinblickt, sieht man mittelalterliche Apparatschicks, die von modernen und kommunikativen Geschäftsprozessen nicht den Hauch einer Ahnung haben. Beamtenmief bis hinauf in die Vorstandsetagen selbst der freien Wirtschaft. Reformen, die nur denen wehtun, die sich nicht wehren können, sind keine Reformen, sondern asoziale Sparmaßnahmen.

Ein Witz

Der Staat schafft keine neuen Stellen zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität. Obwohl die Behörden händeringend Personal suchen. Obwohl bereits aktenkundige Verfahren verjähren, weil sie nicht mehr termingerecht bewältigt werden können. Obwohl jeder neue Mitarbeiter, seine Lohnkosten eingerechnet, dem Staat einen durchschnittlichen Gewinn von 2 Millionen Euro pro Jahr bringen würde.
Die Politik hat offenkundig so wenig Interesse an der Aufklärung von Wirtschaftsverbrechen, dass auch neue Arbeitsplätze und finanzieller Gewinn keine Rolle spielen. Dafür gibt es nur eine rationale Erklärung: Niemand engagiert gerne Polizisten, die gegen ihn selbst ermitteln.

Ruuuuudi

"Käse, Scheiß, Scheißdreck: Rudi Rambo" - so titelt Volkes Stimme, die Bild-Zeitung, zu Rudi Völlers Verbalattacken nach dem Länderspiel der deutschen Nationalelf in Island. Wie konnte das geschehen? Teamchef Ruuuuudi ist doch der ruhigsten einer. Und längst schon Kult. Das beweist schon sein linguistisch einmaliger Vorname. Nur: Jetzt wird der Ruuuuudi plötzlich nur noch Rudi geschrieben. Aufgeputzt mit der Alliteration Rudi Rambo. Seine Frau, deren Stellungnahme in der Boulevardpresse nicht fehlen darf, versteigt sich sogar zu Rudolf. Ist uns der Ruuuuudi also abhanden gekommen?
Der Manager von Bayern München, Uli Hoeneß, gibt sich sogar als ästhetischer Avantgardist. Es sei eine Weltklasse Vorstellung von einem Bundestrainer gewesen, des Grimme-Preises würdig, den bekanntlich die heftig attackierten TV-Kommentatoren Delling und Netzer erhalten haben. Tatsächlich kann man diese Meinung getrost vertreten, denn allzu selten platzen in unseren TV-Wohnstubenidyllen solche Verbal-Granaten. Wir sind bekanntlich eine Nation, die "zur Hälfte auf dem Sofa sitzt und schmollt" (Tucholsky), wenn einer mal einen guten Witz macht, emotional wird und aus sich herausgeht. Der Trap-geprüfte Hoeneß hat durchaus Recht, dass solche Eruptionen schon an sich hohen Unterhaltungswert haben, rein ästhetisch wie gesagt, ohne langweilige Analyse und Bewertung.
Was hat er denn nun eigentlich gesagt, der Ruuuuudi? - Ja: Ich beharre auf Ruuuuudi, schließlich hat er die deutsche Nationalelf aus dem Schlamassel der EM 2000 mit Anstand herausgeführt - bis zur Vize-Weltmeisterschaft 2002. Hören wir ihm zu: "Immer diese Geschichte mit dem Tiefpunkt und noch mal nen Tiefpunkt. Ich kann diesen Scheißdreck nicht mehr hören. Das muss ich ganz ehrlich sagen. Da stell ich mich vor die Mannschaft. (...) Ich weiß nicht, woher die überhaupt das Recht nehmen, so was zu sagen. Verstehe ich nicht, muss ich ganz ehrlich sagen." Delling solle doch "Wetten dass" machen, wenn ihm diese Samstagabendunterhaltung nicht gefalle. Und der Günter, der habe früher doch auch einen Scheiß gespielt, regelrechten Standfußball. Dann wird dem "Waldi", dem Sportjournalisten Waldemar Hartmann, auch noch unterstellt, dass er drei Weizenbier getrunken habe, dass er nur deshalb so locker rumsitze und in der Tat keine Schärfe in die Diskussion bringe.
Die Reaktion der Gescholtenen war erstaunlich ruhig und abgeklärt - wie gesagt, in Deutschland erheischt ein emotionaler Ausbruch schon an sich Respekt. Delling spricht von einem "offenen Visier", leider müsse er nach wie vor sagen, dass es eben ein schlechtes Spiel gewesen sei. Günter Netzer schließlich kontert souverän: "Aber was ist das für eine Aussage. Wir erwarten zu viel von der deutschen Mannschaft, die hier in Island nicht nur nicht gewinnen kann, sondern eine Art Fußball spielt, den wir nicht tolerieren können. Das sollten wir nicht tun. Wir sollten diese Maßstäbe nicht anlegen, dass wir solche Schwierigkeiten haben, selbst mit dem Tabellenführer, weiß der Teufel wie der da hingekommen ist, Island Tabellenführer. Da gehören wir hin. Deutschland gehört in die Tabellenführung. So, und diese Ansprüche wollen wir uns von Rudi Völler nicht wegnehmen lassen. Die müssen wir nach wie vor besitzen im deutschen Fußball." Hier wird tatsächlich ein anderes Manko in der öffentlichen Diskussion in Fußball-Deutschland sichtbar. Seit jeher verlangt der DFB, ausgesprochen und unausgesprochen, mit Samthandschuhen angefasst zu werden. Immerhin ist Deutschland unmittelbar nach Brasilien die größte und erfolgreichste Fußballnation der Welt. Was würden unsere Teamchefs eigentlich in Italien oder gar Brasilien machen, wenn sie so dünnhäutig auf Kritik reagierten? "Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?", diese literarische Frage ist im harmoniebedürftigen Deutschland auch außerhalb der Literatur allzu beliebt. Kritische Rückmeldung, kritisches Feedback ist verpönt. Die Journalisten, das sollte auch Ruuuuudi einsehen, haben ein Recht auf Kritik, das sie nicht erst irgendwo hernehmen müssen. Kaiser Franz bringt die Sache auf den Punkt: "Ich kann nichts dafür, dass die nicht besser Fußball spielen."
Etwas verstockt war er schon, der Ruuuuudi: Waldi hat ihm schließlich eine psychologische Brücke gebaut, die es ihm ermöglicht hätte, zum Abschluss etwas versöhnlicher aufzutreten: Das sei doch im Grunde nur die Enttäuschung über die eigene Mannschaft gewesen, die er, etwas fehlgeleitet, an den falschen Personen abreagiert habe. Brillant auch der Abschluss des Interviews, wo Waldi den deutschen Fußballern empfiehlt, sich ein Beispiel an dem leidenschaftlichen Engagement des Trainers zu nehmen. Hat aber alles nichts geholfen. Waldi versichert übrigens, keine drei Weizenbier getrunken zu haben, die gebe es in Island nicht, und selbst wenn, sei das für einen Bayer nicht wirklich eine Beleidigung. Bravo Waldi. Der einzige, der etwas ungnädig reagierte, war Paul Breitner: "So etwas darf sich ein Teamchef absolut nicht erlauben. Einerseits sagt Völler, man soll kritisieren. Wenn man es dann tut, passt es ihm auch wieder nicht. Sollen wir nur alles schönfärben?" Und Gerd Müller nimmt das damalige National-Team mit Beckenbauer und Netzer in Schutz: "Wir haben Standfußball gespielt? Da kann ich doch nur lachen. Und wenn wir mit Standfußball Europa- und Weltmeister geworden sind, dann kann das nicht ganz schlecht gewesen sein." Hat Ruuuuudi also überzogen? Ein wenig mehr semantische Klarheit scheint angebracht.

Die Entschuldigung Ruuuuudis ist keine Entschuldigung. Wenn er sagt, er bleibe inhaltlich bei seiner Kritik, räume aber ein, dass er sich in der Wortwahl vergriffen habe, dann trennt er, was man nicht trennen kann: Form und Inhalt. Haben Netzer und Co also Scheiße, Verzeihung: Unsinn geredet? Nein. Zurecht wurde moniert, dass die Spieler ihre kritischen Maßstäbe an die Fußballübermacht Island anlegen, statt zuzugeben, dass sie Mist gebaut haben. Ruuuuudi selbst nannte das "behäbig", also einen Mangel an Einstellung. Und das muss er auf seine Kappe nehmen. Die Logik ist hier sehr merkwürdig: Man habe die EM-Qualifikation jetzt mit zwei Heimspielen in der eigenen Hand. Frage: Hatte man sie in Island nicht in der Hand? Wieso soll jetzt, nur aufgrund der Heimspiele, irgendetwas klarer sein? Fakt ist außerdem, dass vor allem mangelhafte Einstellung für die immer wieder auftretenden Tiefpunkte im deutschen Spiel verantwortlich ist. Es geht nicht so sehr um mangelndes Können, sondern mangelndes Wollen, anders sind die erheblichen Leistungsschwankungen nicht wirklich erklärbar. Eine übertrieben ängstliche Aufstellung und Standfußball im Spiel nach vorne - nur der ballführende Spieler war in Bewegung - hier liegen die Ursachen. Also auch bei Ruuuuudi, der dafür verantwortlich zeichnet. Man kann gegen Island sogar verlieren. Das ist richtig. Aber wie man spielt, wie man auftritt, das ist viel wichtiger. Selbst wenn es mal nicht läuft. Oder?
Richtig ist allerdings, dass sich die Herren Breitner und Netzer beim abgrundtiefen Tiefpunkt der EM 2000 etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatten. Die katastrophale Leistung wurde als Untergang des deutschen Fußballs stilisiert. Taktisch und spielerisch fehle jede Klasse. Nun: Wie konnte diese Fußballnation nur zwei Jahre später Vize-Weltmeister werden? Die Einstellung, die Psyche verhätschelter Wohlstands-Profis, hier lag, bei aller Kritik, der Fußball im Argen. Und hier liegt er immer noch im Argen. Wenn man Paul und Günter reden hörte, dann hätte man schwören können, dass wir überhaupt keine Ahnung mehr vom Fußball haben und schnellstens alle Südländer werden müssen. Manchmal ist die Selbstinszenierung dieser Experten etwas zu ikonenhaft, zu unantastbar. Ein weltklasse Spieler zu sein bedeutet noch nicht, ein weltklasse Trainer oder ein weltklasse kritischer Analytiker zu sein. Doch, lieber Ruuuuudi, weltklasse Spieler waren das allerdings: Netzer war einer der ersten, der den Pass aus der Tiefe kreierte. Breitner dagegen spielte schon den Offensiv-Verteidiger, als es das Wort noch nicht gab. Es ist ein Fehler, diese Mannschaft herabzusetzen, die in der ersten Hälfte der Siebziger weltweit die beste und innovativste war. Und dem Günter tut er ganz besonders Unrecht: Keiner ist bereitwilliger als er selbst, seine schwachen Leistungen von damals zu betonen. Übrigens zu sehr. Wenn er nicht verletzt und in Form war, war er die beste Nummer Zehn, die wir je hatten.
Das Fazit? Wir sollten Ruuuuudi dankbar dafür sein, dass endlich mal ein deutscher Bundestrainer ausrastet. Aber das Ausrasten an sich sollten wir nicht vorschnell zum Kult machen. Die mentale Einstellung der Spieler in Island war eine Katastrophe. Gefördert durch das Gerede vom Tabellenführer Island, eine überdefensive Aufstellung und die merkwürdige Schlussfolgerung, dass erst die beiden folgenden Heimspiele die Entscheidung bringen. Diese Kommunikationsfehler gehen hundertprozentig zu Lasten des Trainers. Und wenn er den enormen Druck, der aus dem enormen Stellenwert des deutschen Fußballs zwangsläufig hervorgeht, nicht gewachsen ist, dann sollte er seinerseits besser zu Wetten dass gehen. Denn ein gefährliches Wett-Spiel ist es, nicht jedes Spiel in einer Qualifikation als "entscheidend" zu betrachten. Sich vor die Mannschaft stellen, so wie ein Familienvater seine Kinder beschützt, mag zu seinen Aufgaben gehören. Aber wer ein Spiel selbst als "behäbig" einstuft, sollte zunächst mal wegen der Mannschaftsleistung ausrasten, nicht wegen der berechtigten Kritik. Ruuuuudi wird es, davon bin ich überzeugt, schon richten. Gerade die Tiefpunkte machen ihn zum starken Motivator. Nicht durch überragendes Spiel, sondern durch überragende Einstellung ist Deutschland Vize-Weltmeister geworden.
Es gibt nur ein Ruuuuudi.