Servicemanagement und Trivialliteratur

Wenn wir den Ergebnissen der neueren Verhaltensforschung glauben
wollen, dann ist die Alltagswahrnehmung des Menschen schlicht
trivial. Sie folgt dem Muster des schlechten Kriminalromans: Nur
das Ergebnis zählt, der Mörder. Ist das Resultat bekannt,
erinnern wir uns wenig später nur noch an einige markante
Punkte der Handlung, die zur Lösung des Falles beigetragen
haben. Kein Mensch käme auf die Idee, den Krimi noch einmal zu
lesen. Die Spannung ist weg. Das Ergebnis des Ganzen
repräsentiert das Ganze. Und genau so geht es im realen Leben
zu, vor allem im Service. Das belegt jedenfalls eine Studie
(Richard B. Chase/Sriram Dasu), die aus der Verhaltensforschung
fünf Prinzipien für eine gute Dienstleistung
ableitet.

Fünf neue Regeln

Der Ausgangspunkt wird klar definiert: Bei der Begegnung mit dem
Kunden zählt letztendlich nur eines – seine Wahrnehmung.
Sie bildet den ultimativen Test und die ultimative Wahrheit des
Service. Unweigerlich fühlt man sich an die klassische
Einsicht des Philosophen George Berkeley (1684-1753) erinnert:
<Sein heißt wahrgenommen werden> (esse est percipi).
Die praktische Konsequenz für das Servicemanagement lautet:
Die Dienstleistung existiert ausschließlich in den
Köpfen und Sinnen des Kunden.
Diese Idee rückt den Service in ein gänzlich neues Licht.
Statistische Reiz-Reaktions-Muster oder isolierte Momente wie die
Kaufentscheidung („Moments of Truth“) werden durch
dynamische Wahrnehmungsprozesse ersetzt. Die Begegnung mit dem
Kunden ist weit mehr als Stimulus und Response. Sie ist
prozessgesteuerte Interaktion. Sie ist durch subjektive Auffassung
und Interpretation bestimmt. Und sie folgt im Optimalfall einem
trivialen Erzählmuster, in dem Spannung aufgebaut und mit
einem guten befriedigenden Ende gelöst wird. Das erste der
fünf Service-Prinzipien belegt das eindrucksvoll. Es
lässt sich in Form einer konkreten Handlungsanweisung wie
folgt beschreiben:

''1.“Finish Strong“!- Oder: Die Liebe auf den
letzten Blick''
Suchen Sie einen starken Abschluss, denn das Finale ist beim
Kunden entscheidend. Nicht der erste, der letzte Eindruck bleibt
fest im Gedächtnis haften. Diese überraschende Einsicht,
die allen volkstümlichen Redewendungen widerspricht, wird
durch die Verhaltensforschung überzeugend
begründet.
Wie nehmen Menschen Ereignisse in ihrer Abfolge wahr? Wie erleben
sie die Sequenz und den Verlauf einer konkreten Erfahrung? In jedem
Fall selektiv. Sie wählen Momente aus. Wahrnehmung bedeutet
immer auch Reduktion von Komplexität. Die totale Reproduktion
aller Einzelheiten wäre überlebenstechnisch
außerordentlich unökonomisch und würde unsere
Handlungsfähigkeit vollständig lähmen. Aber die
einzelnen Momente, die wir markieren und auswählen, sind nicht
einfach isoliert. Sie befinden sich in einem dynamischen Prozess.
Sie folgen dem Drama von Schmerz und Lust, von Höhe- und
Tiefpunkten. Und sie richten sich stromlinienförmig auf den
Ausgang, auf das Resultat des Ereignisses aus. Wahrnehmung ist
entschieden ergebnisorientiert. Das Ergebnis repräsentiert in
unserem Bewusstsein also ein Ganzes, das wir ohnehin nicht ganz
wahrgenommen haben.
Wichtig für das finish strong ist auch unser
angeborenes Verlangen nach Verbesserung und Fortschritt, das
naturgemäß am Ende des Serviceprozesses befriedigt und
durch graduelle Steigerung gezielt vorbereitet werden sollte. So
kann zum Beispiel der ästhetische Eindruck auch der
ansprechendsten Web-Site nachhaltig zerstört werden, wenn der
Kunde sie nicht bequem verlassen oder Aufträge nicht
narrensicher geben, ändern oder stornieren kann. Wenn Sie als
Unternehmensberater an der Umstrukturierung eines Betriebes
arbeiten, dann nehmen Sie sich zum Abschluss
Unternehmensbereiche vor, von denen Sie sich die
spektakulärsten Einsparungen erwarten. Die Totalität
Ihrer Leistung mag noch so brillant sein – gemessen und
beurteilt werden Sie unbewusst am Finale.
Vergessen Sie also niemals den trivialen Hollywood-Effekt in der
Wahrnehmung des Kunden: Das Happy End zählt und entscheidet
über den Erfolg Ihres Service. Was aber machen wir mit
negativen Erfahrungen? Hören wir auf das Prinzip 2:

''2. „Get the bad experiences out of the way
early”
Oder: Die schlechte Nachricht kommt immer zuerst.''
Das handling des Negativen erhellt teilweise schon aus
dem ersten Prinzip. Denn das Positive streben wir ohnehin als
Abschluss an. Preisforderungen, Wartezeiten, überhaupt alle
Eindrücke, die Unlust verursachen, sollten allerdings so
schnell und so früh wie möglich abgewickelt werden. Der
Dienstleistungsanbieter wird bei sich selbst eine natürliche
Tendenz überwinden müssen, weil wir alle das Negative
hinauszögern, wenn wir es offenbaren sollen. Umgekehrt ziehen
wir es aber vor, das Negative so schnell wie möglich zu
erfahren, sofern es uns selbst betrifft. Wir wollen uns nicht
fürchten oder Sorgen machen – also heraus damit! Der
Dienstleister ist also immer gut beraten, wenn er das Unangenehme
ohne Umschweife ausspricht. Er darf seiner natürlichen
Zurückhaltung nicht nachgeben, falls er dem ebenso
natürlichen Verlangen des Kunden entgegenkommen will.
Wer einen Service anbietet, sollte auf dem gestrafften Seil
menschlicher Empfindung leichtfüßig tanzen können.
Ohne zu zögern müssen wir uns selbst ignorieren und
wehtun. Denn es ist ein wahrer Dienst am Kunden, ihm Negatives
geradeaus und schnell mitzuteilen. Er selbst will es so. Wenigstens
unbewusst. Und das Prädikat „schamlos“ war immer
schon die beste Eigenschaft der besten Verkäufer. Wie aber
verfahren wir am besten, wenn wir in unserer Hollywood-Inszenierung
des Service über die Rollenverteilung von Lust und Schmerz
nachdenken?

''3. „Segment the Pleasure, Combine the
Pain“.
Oder: Die Lust verteilen, den Schmerz konzentrieren.''
Eine wichtige Erkenntnis der Verhaltensforschung besteht darin,
dass die zunehmende Anzahl der Segmente unsere zeitliche Erfahrung
subjektiv ausdehnt. Zwei objektiv gleich lange Ereignisse werden
also unterschiedlich wahrgenommen, wenn eines davon in mehr
Episoden zergliedert wird. Dann erscheint es länger und
intensiver.
Die Konsequenzen für das Servicemanagement sind
offensichtlich: Das Negative früh beseitigen (s. Prinzip 2)
und möglichst auf einen Punkt konzentrieren. So
erscheint es subjektiv kürzer. Das Angenehme durch eine
große Anzahl von Episoden zeitlich ausdehnen, so
erscheint es länger. Und natürlich graduell steigern und
stark abschließen (s. Prinzip 1). Todsünden im
Servicebereich sind zum Beispiel unterschiedliche Wartestationen
beim Arzt oder viele Verbindungswege bei telefonischem Kontakt.
Hier findet die Segmentierung und damit die zeitliche Ausdehnung
der Unlust statt.
Daraus lassen sich zweifellos ästhetische Lehren ziehen:
Leser, die episch breite Romane scheuen wie der Teufel das
Weihwasser, haben entweder keine Zeit oder keine Geduld oder eine
triviale Alltagswahrnehmng. Die Lust oder gar die sexuelle Lust
wird im ausschweifend umfangreichen Roman des 19. Jahrhunderts
– sofern vorhanden – auf einige gewagte Stellen
reduziert. Sterbeszenen, Sozialkritik oder psychologische Ehedramen
nehmen dagegen Hunderte von Seiten ein. Betrachten wir das Buch als
ein bloßes Serviceprodukt, so sollte es natürlich gerade
umgekehrt sein. Aber: Die ästhetische Leseerfahrung eines
guten Romans ist weit homogener als die auf wenige Punkte
konzentrierte Alltagserfahrung. Der in diesem Fall vielleicht
interessanteste Gedanke ist, dass Kunst den stereotypen
Alltagswahrnehmungen diametral entgegensteht. Jedes Detail ist in
einem guten Kunstwerk auf alle anderen bezogen. Sie sind
vielschichtig und gleichzeitig wirksam. Deshalb konnte es sich
Dostojewskij leisten, in „Schuld und Sühne“ gegen
alle Regeln des Kriminalromans zu verstoßen – und den
Mord am Anfang zu schildern. Und nehmen wir auch Hollywood in
Schutz: Inspektor Columbo sehen wir mit Vergnügen, obwohl wir
den Mörder gleich zu Beginn kennen lernen. Die intellektuelle
Auseinandersetzung mit dem Mörder hat unzweifelhaft einen Reiz
für sich.

''4. Build Commitment through Choice
Oder: Die Kundenbindung durch Mitbestimmung erhöhen''
Das vierte Prinzip ist gleichfalls bemerkenswert. Negative
Wahrnehmungen verlieren an Intensität, wenn dem Kunden das
Gefühl der freien Wahl und des selbstständigen Einflusses
vermittelt wird. Treten Fehler auf, wird er die Schuld sogar
teilweise bei sich selbst suchen. Oft helfen bereits kleine
symbolische Gesten – der Patient darf den Arm wählen, in
den die Spritze injiziert wird. Die Autoren verweisen auf das
interessante Beispiel der Firma Xerox, deren Kundendienst wegen der
langen Wartezeiten als unbefriedigend empfunden wurde. Das
Servicemanagement führte daraufhin ein neues System ein: Die
Kunden selbst können jetzt festlegen, welche
Dringlichkeitsstufe ihre Reparatur hat. Und der Zeitplan der
Service-Abteilung wird an den Kundeneinschätzungen
ausgerichtet. Überraschend ist dabei die Umsicht und Fairness
der Kunden. Die Wartezeiten, das Personal und die Kosten konnten
reduziert werden. Freie Wahl scheint im Zweifelsfall also wichtiger
als prompte Reaktion. Und der Kunde ist menschlicher als man denkt,
wenn man ihn mitwirken lässt.
Es ließe sich noch, zweifellos etwas boshaft, anmerken, dass
die moderne Literatur, die dem Leser so viel Arbeit aufbürdet
– z.B. wer sprich wo im Ulysses von Joyce?–
bewusst von diesem Serviceprinzip profitiert. Wer so schwierig
schreibt, dass der Leser die Hälfte des Werks erst in der
Fantasie rekonstruieren muss, stellt sicher, dass er die
aufkommende Unlust sich selbst und nicht dem Autor anlastet.
Natürlich ist hier wichtig, ob das Vorenthalten von
Informationen einer gekonnten künstlerischen Regie folgt oder
tatsächlich bloß wirr ist. Doch da ein Buch immer
auch ein Service-Produkt ist, sollte man die Regel Voltaires
tatsächlich bei allen Schreibversuchen beherzigen: „Das
Geheimnis der Langeweile besteht darin, alles zu sagen. Wer dem
Leser nichts mehr zum Denken übrig lässt, betreibt einen
schlechten Service.

''5. Give People Rituals and stick to them
Oder: Rituale etablieren und einhalten''
Menschen neigen zu Ritualen. Verlässlich wiederkehrende
Ereignisse stärken das Gefühl von Komfort, Sicherheit und
Ordnung. Generell erregen Veränderungen Stress und Unlust. Und
besonders bei längeren Serviceprozessen kommt dieser Effekt
zum Tragen. Wartezeiten fallen weniger ins Gewicht, wenn der Kunde
zum vertrauten Sachbearbeiter gelangt. Kleine Geschenke, eine
richtig platzierte Abschlussfeier, formelle Feedbacks und
Präsentationen oder das Captain’s Dinner auf der
Kreuzfahrt – all diese Elemente intensivieren die
Kundenbindung. Vergessen Sie also nicht: Der Mensch ist ein
Gewohnheitstier. Und wenigstens diese volkstümliche
psychologische Erkenntnis wird durch die Verhaltensforschung
bestätigt.
In dieser Einsicht spiegelt sich auch eine alte ästhetische
Erkenntnis wider: Wenn wir Zuschauer sind, also existenziell nicht
betroffen, genießen wir die Gewalten der Natur als erhabenes
Schauspiel, den Mord als thrill oder Kitzel, die Greueltaten
der Kriege als Harmonie von Metaphern (Homers Ilias). Wir
fühlen uns (gesichert und lesend) wohl, wenn alle gewohnten
Stereotypen durchbrochen werden. Nicht so im realen, d.h ritualen
Leben. Hier sind wir alle stockkonservativ. Die Macht der
Gewohnheit lastet zentnerschwer auf uns. Und es ist ein wahrer Akt,
wenn wir den Provider wechseln sollen oder ein Fragebogen nicht die
üblichen Fragen stellt:

Was im Leben uns verdrießt,
Man im Bilde gern genießt.
(Goethe, „Parabolisch“)

Schon richtig. Aber der Service tut gut daran, sich auf die
Beseitigung der Verdrießlichkeiten im Leben zu konzentrieren.
Ästhetische Wahrnehmung nachzuahmen wäre das
Verkehrteste, was er anstreben könnte. Der Kunde ist
König – und in der Regel stereotyp. Wenn es ein
ästhetisches Analogon zum Service gäbe, dann wäre
es, wir erinnern uns, nicht Kunst, sondern schlechte Kunst. Der
Trivialroman.

<u>Literatur:</u>

  • Harvard Business Review, Nr. 6, June 2001:
    “Want to Perfect Your Company’s Service? Use
    Behavioral Science.”
    Richard B. Chase/Sriram Dasu
  • Fjodor Dostojewskij, Schuld und Sühne
  • James Joyce, Ulysses
  • Homer, Ilias
  • Goethe, Parabolisches
  • George Berkeley, Treatise Concerning the Principles of Human
    Knowledge
  • Voltaire, Discours sur l’homme