September 2001

Ein Tag in Berlin

Den 11. September 2001 hätte ich auch ohne die
terroristischen Anschläge auf das World Trade Center und das
Pentagon niemals vergessen. Der Anlass war kaum weniger
bedrückend. Mit meinem Vater besuchte ich das
Konzentrationslager Sachsenhausen bei Berlin-Oranienburg. Dort
wiederum hatten die Nazis den Vater meines Vaters 4 lange Jahre
(1939-1944) inhaftiert.
Endlich hatten wir unseren Plan verwirklicht, waren am 10.
September aus Stuttgart angereist und besuchten am Vormittag des
11. die riesige Gedenkstätte. Wind, Nässe, Kälte und
spärliches Licht waren unsere Begleiter. Als wir durch das
noch im Originalzustand erhaltene Lagertor gingen, grinste uns der
wohlbekannte zynische Spruch „Arbeit macht frei“
entgegen. Von diesem Moment an war die historische Distanz
aufgehoben. Wir wussten, mein Vater noch schmerzlicher als ich,
dass unser unmittelbarer Vorfahr das gesehen und gelesen hatte.
Kein erworbenes, bloß abstraktes Wissen konnte uns davor
schützen. Nur das Konkrete vergegenwärtigt Vergangenheit.
Und das wird letztlich jedem Besucher von derartigen
Gedenkstätten widerfahren. Die systematische Vernichtung und
Entsorgung dieser geschundenen Menschenleben trifft erst dann mit
voller Wucht, wenn wir den „Finnenschlitten“ (ein
flacher Bob) tatsächlich sehen, mit dem die vergasten Leichen
zum Verbrennungsofen geschleift wurden.
Unerträglich gesteigert also nahmen wir alles Konkrete wahr,
weil wir es zusätzlich durch die Sinne meines Großvaters
erlebten. Der riesige Appellplatz, auf dem er einmal zwei Tage und
Nächte stehen musste (wer umfiel, wurde entsorgt), der Bock,
auf dem er geprügelt wurde, der Pfahl, an dem er stundenlang
hängen musste, die gespenstischen Lautsprecher, die ihn und
seine Leidensgenossen kommandierten, die wenigen Erzählungen,
die wir noch von ihm selbst im Ohr hatten – es ist hier nicht
der Ort, alle Details auszubreiten; aber Geschichte kann
aufdringlich nahe kommen, auf den Leib und auf die Seele
rücken. Wir machten unsere Aufnahmen im trüben Licht,
gingen wie Verirrte umher und besahen uns diese Ausgeburt der
Hölle.
Etwas besser fühlten wir uns an dem Ort, wo Geschichte
verarbeitet wird: im Archiv. Wir sahen die Zugangs- und
Entlassungspapiere unseres Familienmitglieds, jene
bürokratische Ordnung, die uns Deutsche auch und gerade in
barbarischen Zeiten auszeichnet. Es kam uns vor wie ein schlechter
politischer Hintertreppenwitz, dass von 1945 bis 1950 das Lager von
den stalinistischen Schergen nahtlos übernommen worden war.
Teils aus pragmatischen Gründen – es war ja nun einmal
da und bot sich an, teils um Schauprozesse zu veranstalten. Auf der
„Station Z“, dort wo die Verbrennungsöfen
gestanden hatten, sind riesige Monumente im ästhetischen
Gigantomanie-Stil des Kommunismus errichtet worden. Aber die
Station selbst wurde bis auf den Grundriss beseitigt. Ebenso
verschwunden sind die meisten Blöcke, in denen die
KZ-Häftlinge hausen mussten. „Block 23“, in dem
mein Großvater über zwei Jahre einquartiert war, gibt es
nicht mehr. Ein Steinquader liegt stumm und sprachlos da und zeigt
die Nummer. Der Mangel an historischer Sensibilität
verärgert uns. Besonders bei einer politischen Richtung, die
wähnte, den Gang der Geschichte dialektisch interpretieren zu
können. Und immer wieder bewegen sich unsere kurzen
Diskussionen auf eine These zu: Wo Ideen und Abstraktionen
über den einzelnen Menschen erhoben werden, dort liegt der
Ursprung des Totalitarismus. Und eben das macht die
Widerständigkeit und Unaufhebbarkeit des Konkreten aus. Der
Schrecken liegt und lebt im individuellen Detail, wenn das System
längst schon vernichtet ist.
Anschließend fuhren wir, von der deutschen Geschichte immer
noch sehr mitgenommen, in das Zentrum Berlins. Als wir durch das
Regierungsviertel spazierten, wurden wir etwas zuversichtlicher.
Obwohl das Brandenburger Tor gerade restauriert und überdies
von einer Sponsorenwerbung gänzlich verhüllt wird, war es
dennoch faszinierend, unbehelligt hindurchzugehen. Hier verlief der
Eiserne Vorhang. Die Reichstagskuppel lockte uns zur Besichtigung,
als wir etwas unschlüssig zwischen britischer und
amerikanischer Botschaft hin und her schlenderten. Wir beschlossen
aber, dass wir heute von Geschichte genug hatten und lieber auf dem
Ku’damm etwas essen wollten. Es war Spätnachmittag. Und
wir fühlten uns als Teil der fotografierenden und filmenden
Touristen in das Hauptstadttreiben wieder integriert. Auf dem
Ku’damm waren allerdings sehr wenig Menschen. Und es war
ungewöhnlich still. Eine Erklärung dafür fanden wir
erst, als uns eine Bedienung etwas von vier entführten
Flugzeugen mitteilte, die Ziele in Amerika attackiert hätten.
Genaueres wussten wir nicht. Wir waren auch zu sehr mit der
deutschen Vergangenheit beschäftigt und glaubten noch an ein
„übliches“ terroristisches Attentat. Wir erfuhren
auch nichts von den näheren Umständen und von der
wahrhaft geschichtlichen Dimension dieses Ereignisses. Ja wir
hatten einen guten Abend in einer typischen Bertliner Kneipe
verbracht.
Doch auf dem Weg ins Hotel hatte sie uns wieder: die aufdringliche
und unabweisbare Nähe der Geschichte. In den
U-Bahnschächten sahen wir Zeitungsverkäufer mit
Sonderausgaben. Ich las die Schlagzeile „Manhatten
brennt“. Es musste etwas Ungeheuerliches vorgefallen sein. In
dem Moment bewegte sich aber auch schon die Bahn. Schnell
aktivierte ich mein Handy, denn heute hatten wir uns bewusst vom
Nachrichten- und Kommunikationsstrom isoliert. Mehrere Nachrichten
meiner Freundin waren auf der Mailbox gespeichert. „Geht in
kein Museum“. „Geht an keinen Ort, wo viele Menschen
sind“. Sofort rief ich die Weltnachrichten ab.
Schlagwortartig informierte ich meinen Vater: World Trade Center
zerstört. Beide Türme. Das Pentagon getroffen. Von
Linienflugzeugen, die in Bomben umfunktioniert wurden. Amerika
schließt die Grenzen. Mobilisierung inklusive Reservisten.
Das jüdische Museum in Berlin geschlossen. Das
Regierungsviertel abgesperrt. Wir kalkulierten die Zeit. Als wir
zum zweiten Mal durchs Brandenburger Tor gegangen waren, mussten
hinter uns Sicherheitskräfte aufmarschiert sein. Und wir waren
auf Höhe der amerikanischen Botschaft, als der Terror seinen
Lauf genommen hatte.
Wir werden das Gefühl nicht vergessen, dass uns auf dem
Nachhauseweg ergriff. Am Bahnhof Oranienburg gingen wir auf dem
alten Kopfsteinpflaster, auf dem mein Großvater verschleppt
worden war, in Richtung Hotel. Wie sollten wir mit dem
Übermaß an Geschichte, das heute über uns
hereingebrochen war, fertig werden? Es war keine akademische
Schulfrage, dieses Zusammentreffen von Konzentrationslager und
Terror im 21. Jahrhundert. Es war Teil unserer Familienchronik,
Teil unserer Biographie. Natürlich schalteten wir im
Hotelzimmer sofort den Fernseher ein und waren von den Bildern und
Berichten wie erschlagen. Dass jetzt erst das 21. Jahrhundert
begonnen hatte, wie es hieß, war mir zu vorschnell gedacht.
Der 11. September 2001 öffnete für uns eine neue,
doppelte Dimension, die sich in Zukunft wie Vergangenheit
erstreckte: Die mordenden Übermenschen des Hitler-Regimes und
die Selbstmordattentäter von New York erschienen uns in einem
unerträglich grellen, identischen Licht. Unsere These, dass
Ideen und Begriffe, wo sie sich über das individuelle und
konkrete Leben des Einzelnen hinwegsetzen, in die tiefste Barbarei
führen, fanden wir bestätigt. 250 Jahre Aufklärung
und Humanismus schienen plötzlich wie ausradiert. Sollte die
geistige Arbeit an der Freiheit des Individuums, unabhängig
von Herkunft, Konfession oder Rasse und Hautfarbe, sollte all das
vergeblich gewesen sein? Das emanzipierte, auf sich gestellte
Individuum, das durch Leistung und eigene Tätigkeit seine
Verwirklichung in der Gesellschaft sucht – es schien eine
Karikatur seiner selbst. Unwirklich wie das hegelsche Absolute. Der
Mensch war der Freiheit nicht länger gewachsen. Er war ein
unselbständiges Lebewesen, das der Leitung durch andere
bedarf. Lächerlich anfällig auch heute noch für
verquaste Ideen und Begriffe, die von den vielen selbsternannten
Führern dieser Welt definiert werden.
Auch Hass und Wut waren uns in diesem Moment nicht fremd. Sie
konzentrierten sich auf die Täter, aber auch auf die
wohlstandssatte Gleichgültigkeit unserer Gesellschaft
gegenüber ihren ureigenen Werten. Ich erinnerte mich an das
Todesurteil gegen den Schriftsteller Salman Rushdie, das von
radikalen islamischen Fundamentalisten vor Jahren (1988) schon
ausgesprochen worden war. Ein Generalangriff auf die Meinungs- und
Denkfreiheit, der erstmals alle nationalen und kulturellen Grenzen
ignorierte und dreist zur Exekution aufrief. Hier war sie doch
schon, die offene „Kriegserklärung gegen die gesamte
zivilisierte Welt“. Damals tobte ich und fragte mich, weshalb
nicht zu rigiden, selbst militärischen Mitteln gegriffen
wurde. Hatte niemand begriffen, dass hier auf geistiger Ebene
unsere Prinzipien mit Füßen getreten wurden? Das hier
alles, was uns heilig ist, auf dem Spiel stand? Ja mussten
uns die Fanatiker nicht sogar zurecht dafür verachten, dass
dieser ungeheuerliche Vorgang in unserer beliebigen und dekadenten
Medienwelt ohne Konsequenzen versackte? Wozu hatten eigentlich
Kant, Schiller, Lessing oder Goethe gelebt und geschrieben?
Für eine geistige Position zu kämpfen, das schien der
Öffentlichkeit ganz offenkundig veraltet, eine museale
Erinnerung, mehr nicht. Doch wer den intellektuellen Kampf um seine
eigenen Grundlagen und Werte versäumt, der wird früher
oder später auf materieller und physischer Ebene kämpfen
müssen – bis hin zum Krieg, bis hin zur
Vernichtung.
Es dauerte sehr lange, bis wir endlich etwas Schlaf fanden. Die
Geschichte hatte uns gänzlich erschöpft. Das innere Auge
blieb hellwach. Und plötzlich tat sich folgende Vision vor mir
auf: Eine gewaltige Himmelskuppel, strahlend blau und klar,
öffnete ihre Pforten. Ich sah die lorbeerbekränzten
Häupter von Carl Benz, Gottlieb Daimler, Wilhelm Maybach und
Henry Ford. Und über die gesamte westliche Hemisphäre
erklangen ihre zornigen Stimmen: „Warum fahren eure Autos
eigentlich immer noch mit Öl? Ihr könntet diese
arroganten terroristischen Subkulturen, die jeden Andersdenkenden
als „Ungläubigen“ verachten, ihrem eigenen
Schicksal überlassen, könntet sie dumpf in
steinzeitlicher Agrarwirtschaft vor sich hinleben lassen.
Müsstet nicht, weil es ja doch durch das Öl
ökonomische Interessen gibt, auch Übergriffe
verantworten. Ihr könntet den Radikalen die finanzielle Basis
entziehen, die unerlässlich ist für terroristische
Logistik. Ja jeder selbsternannte Gotteskämpfer wäre
wieder dort, wo er hingehört: im Mittelalter. Auf dem
Abstellgleis der Geschichte. So aber haben sie immer noch Waffen
und technische Möglichkeiten zur Verfügung, die Ausdruck
unserer Kultur und Wissenschaft sind – nicht ihrer. Warum
fahrt ihr also immer noch mit Öl? Investiert alles Geld
für die Vergeltungsschläge in einen neuen Prototyp, der
die Ära des Benzinmotors beendet. Damit wäre das
Terroristen-Problem, zumindest muslimischer Herkunft,
endgültig gelöst.“ Weltweites Gelächter der
Erfinder klang kreuz und quer durchs Weltall. „Immer noch der
Benzinmotor. Keinen Schritt weiter gekommen. Unglaublich.“
Beim Aufwachen war mir so, als hörte ich noch deutlich das
Wort „Idioten“.