Terroristische Logistik

Eine geisteswissenschaftliche Kurzanalyse

Nach dem 11. September 2001 hat der Terrorismus eine neue
Dimension angenommen. Wenn es sich tatsächlich um eine
Kriegserklärung gegen die gesamte zivilisierte Welt handelt,
dann sind alle gesellschaftlichen Kräfte aufgefordert, einen
Beitrag zur Bekämpfung dieser menschenverachtenden
Anschläge zu leisten. Auch die Geisteswissenschaftler. Und
selbst auf die Gefahr hin, sich bei den Sicherheitsexperten
lächerlich zu machen, sollten wir jede denkbare und undenkbare
Idee öffentlich machen und mitteilen. Wir brauchen in der
gegenwärtigen Situation in jeder demokratischen Gemeinschaft
eine flächendeckende und fachübergreifende Ansammlung und
Auswertung von Vorschlägen, Initiativen und Strategien. Wenn
nur eine einzige dieser Ideen eine praktische Anregung bieten kann,
dann wäre schon viel erreicht. Denn selten war die
Ratlosigkeit und Desorientierung größer als gerade
jetzt.

Aus geisteswissenschaftlicher Sicht lässt sich die
historisch neue Methodik und Logistik des Terrorismus
überraschend einfach auf den Begriff bringen. Die sogenannte
„Postmoderne“ hat auch hier unaufhaltsam um sich
gegriffen. Was heißt das? Die Postmoderne ist das Ende
zentralistischen Denkens. Die multikulturelle und multimediale Welt
akzeptiert und praktiziert schon längst die Idee eines offenen
Netzwerks, das traditionelle hierarchische Ordnungen verabschiedet.
Ein gutes Beispiel ist das Medium Internet: Jeder Punkt in
diesem Netz ist potenziell eine Zentrale, die gleichzeitig auf alle
anderen Punkte ungehindert Zugriff hat. Umgekehrt haben alle
denkbaren Punkte wiederum Zugriff auf jeden einzelnen Punkt. Die
Zentrale ist virtuell geworden. Sie ist – und das zur
gleichen Zeit – überall und nirgends. Mehr noch: Jeder
neue Punkt, der in das Netzwerk eingegliedert wird, öffnet und
multipliziert es absolut unübersehbar. Vieles spricht
dafür, dass die Ungreifbarkeit, aber auch der weltweite
Aktionsraum des neuen Terrorismus dieser dezentralen Logik exakt
folgt.

Wie gesagt: auf gesellschaftlicher und ökonomischer Ebene
praktizieren wir das schon lange. Unser interkulturelles
Lebensgefühl hat sang- und klanglos unser
„eurozentristisches“ Denken auf die Müllhalde der
Geschichte geworfen. Die großen Hierarchien, Ordnungen und
Organisationen erleben eine nie gekannte Auflösung, weil sie
sich der neuen Informations- und Kommunikationswelt öffnen,
weil sie beweglicher, schneller und damit auch fragmentarischer
agieren müssen. Die Anpassung an die dezentrale Struktur eines
offenen Netzwerks ist nichts Geringeres als die vielzitierte
Globalisierung. Nationale Ideen und Identitäten werden im
Terrorismus mit gleicher Konsequenz verabschiedet wie auf
ökonomischem Gebiet. Und radikale Attentäter haben nicht
nur gelernt, die neuen Kommunikationsmedien zu bedienen. Sie haben
jetzt auch ihre Philosophie verstanden, eine Philosophie, die wir
bislang nur als menschheitsbeglückende Demokratisierung aller
Lebensverhältnisse erfahren haben.

Wie sollen wir darauf reagieren? Patriotismus, so ehrenwert er
ist, oder das Denken in nationalen Kategorien helfen nicht mehr
weiter. Ebenso veraltet, ja atavistisch wären in dieser
Situation die Mittel konventioneller Kriegsführung. Der Terror
ist, mit unseren eigenen Mitteln und Waffen, endgültig
globalisiert. Bomben auf das nationale Ziel Afghanistan erzeugen
nur eine weitere Radikalisierung, die sehr leicht auf Pakistan
übergreifen könnte. Dort lagern einsatzbereite
Atomwaffen. Das ist ein Spiel mit dem weltvernichtenden Feuer. Und
niemand kann das verantworten. Deshalb sollten wir unsere Analysen
zur Bekämpfung des globalen Terrorismus immer wieder neu
ansetzen und eine verantwortbare Lösung finden.

In dieser scheinbar aussichtslosen Lage sind meines Erachtens
die Geheimdienste gefordert wie niemals zuvor. Sie müssen
konsequent global werden und nahtlos zusammenarbeiten. Und die
Terroristen haben die Spielregel für eine sinnvolle Strategie
selbst vorgegeben: Schlage den Gegner mit seinen eigenen Waffen.
Was heißt das konkret? Das heißt: ein dezentrales und
transnationales Netzwerk hochspezialisierter Anti-Terroreinheiten
organisieren. Ausgestattet mit bester Technik und grenzenlosem
Kapital. Das heißt auch: ein feinmaschiges Netz von
Ausbildungsstätten knüpfen, die von den Methoden des
Gegners hemmungslos profitieren. Das heißt ferner: nahtlose
Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften, inklusive
des Militärs, inklusive unserer ökonomischen Beziehungen.
Und das heißt schließlich in der Praxis: Dezentral und
unberechenbar, mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln –
Bestechung, finanzieller Druck, Irreführung, Medien –
gezielt und anonym zuschlagen. Schritt für Schritt. Wenn es
sein muss über Jahre und Jahrzehnte. Die Mittel haben wir! Es
herrscht Krieg. Aber es ist ein global strukturierter Krieg. Und es
gilt, diese Struktur zur Strategie zu machen.

Perspektive

Auch die zivilisierten Staaten haben sich erst nach einem langen
Leidensweg voll Terror, Umsturz, Krieg und Revolutionen in ihrer
modernen Form entwickelt. Der bellum omnium contra omnes,
d.h. der mörderische Kampf aller gegen alle, wurde
deprimierend spät im Gedanken einer liberalen und
demokratischen Verfassung aufgehoben. Sicherheit und Wohlstand des
Einzelnen lässt sich nur durch die Begrenzung der
individuellen Freiheit erreichen. Denn erst dann ist ein
zivilisiertes Zusammenleben und die Freiheit aller möglich,
wenn die Freiheit des Individuums exakt dort endet, wo die Freiheit
des anderen beginnt. Zwischen den Staaten aber herrscht immer noch
eine Grauzone des entfesselten Naturzustands. Es gibt deshalb
langfristig nur eine vernünftige Perspektive: Ein
Weltbürgertum bzw. eine Weltrepublik, wie sie im Grundgedanken
der Uno formuliert sind. Machen wir uns nichts vor. Dieser Weg ist
unendlich lang und von zahllosen Rückschlägen begleitet.
Aber der Terror selbst ist zweifellos der mächtigste
Geburtshelfer für diese Utopie, weil der Mensch nur extrem
langsam lernen will und immer erst einmal „etwas passieren
muss“, damit wir weiterdenken. An dem von Immanuel Kant
entwickelten Gedanken der Völkergemeinschaft jedoch führt
kein Weg vorbei, nicht weil er der beste, sondern weil er der
einzige ist. Die Globalisierung hat ihrerseits den Druck erheblich
verstärkt, diesen Weg zu beschreiten. Jetzt, wo auch der
Terror global geworden ist, wird es Zeit, über eine
Weltverfassung nachzudenken. Die neu entstehende Solidarität
der zivilisierten Staaten sollte dafür genutzt werden, bevor
es (wieder einmal) zu spät ist und (wieder einmal) „erst
etwas passieren muss“.