Der Teuro

Wer über Statistiken diskutiert, der zitiert früher
oder später einen berühmten Satz von Winston Churchill:
„Ich glaube nur an die Statistiken, die ich selbst
gefälscht habe.“ – Das Wissen um die Verlogenheit
von Zahlen, mit denen man problemlos alles beweisen und widerlegen
kann, ist Allgemeingut. Zu Recht.
Doch die Fälschung von Statistiken liegt weit tiefer. Sie
liegt bereits in der Auswahl der Gegenstände, die man messen
möchte. Diese Auswahl ist notwendig subjektiv. Was ich messe
– und was ich nicht messe – entscheidet letztlich
über den Wahrheitsgehalt und die Aussagekraft der Statistiken.
Die unseriöse Statistik trifft schlicht eine
realitätsverzerrende Auswahl, die als ein objektives Ganzes
verkauft wird. Und selbst die seriöse Statistik lebt nur von
der vagen Hoffnung, dass ihre selektiven Kriterien für die
Allgemeinheit tatsächlich repräsentativ sind. Dabei
können die Zahlen durchaus korrekt sein, ja sind es meistens
auch.
Ein Musterbeispiel für statistische Realitätsverzerrung
sehen wir in den Inflationsraten, die derzeit offiziell gehandelt
werden: Sie bewegen sich bei etwa 1,8 bis 1,9%. Es stellt sich die
Frage, ob die statistischen Ämter tatsächlich in
demselben Land, ja auf demselben Planeten leben wie das Publikum,
dem man diese Zahlen aufbinden will. In allen Konsumbereichen, die
das Alltagsleben der überwiegenden Mehrheit der
Bevölkerung betreffen, liegt die Inflation weit höher:
Die Lebensmittelbranche, die Gastronomie und bis vor kurzem noch
die Textilbranche haben eindeutig im zweistelligen Bereich ihre
Preise nach oben geschraubt. Horrend ist auch der generelle
Preisanzug im unteren Preissegment, besonders zwischen null und
zwanzig Euro: Dort, wo das meiste Geld fließt, wird man kaum
ein Produkt oder eine Dienstleistung finden, die sich nicht
erheblich, ebenfalls im zweistelligen Zahlenbereich, verteuert
haben. Kaufen die Leute in den Ämtern keine Bratwurst? Der
Standard liegt bei 2,50 Euro, also knapp fünf Mark
(früher 3.50 DM). Bestellen diese Leute niemals eine Pizza?
Gehen sie niemals in ein Lokal? Da hätten sie einen Anstieg
von 20-30% live erleben können. Oder wie wäre es mit
einem Schnäppchen-T-Shirt zwischen 10 und 15 Euro, das man
früher für 10 oder 15 DM erstehen konnte? Sicher gehen
diese Beamten auch nicht ins Kino, fahren nicht Taxi, lassen sich
keine Haare schneiden, benutzen keine öffentlichen
Verkehrsmittel. Sonst wüssten sie, dass eine Inflationsrate
von 1,9% ganz offensichtlich den Tatbestand der Volksverdummung
erfüllt.
Damit einher geht ein weiterer Fehler, schon bei der
Einführung des Euro. Andere europäische Länder waren
so intelligent, eine Regel zu schaffen, die eine Preiserhöhung
bei der Geldumstellung ausdrücklich untersagt. Ausgerechnet in
Deutschland hingegen hoffte man auf die Selbstregulierung des
Marktes. Vollmundig und parteiübergreifend versicherten die
Politiker, dass diejenigen durch die Kunden abgestraft würden,
die den Währungswechsel zur Preiserhöhung nutzen wollten.
Wegen dieser vereinzelten schwarzen Schafe, so hieß es, lohne
der Verwaltungsaufwand und gesetzgeberische Maßnahmen
für eine Regelung nicht. Plötzlich sollte also der Kunde
König sein. Und das in einem Land, das in freien
Ladenöffnungszeiten den Untergang des Abendlandes erblickt und
wie kein anderes auf der Welt in einer Vielzahl von
marktfeindlichen Regelungen erstickt. Doch es kam, wie es kommen
musste: Natürlich hat der Binnenmarkt durchgehend die Preise
erhöht. Die ganze Herde bestand plötzlich nur noch aus
schwarzen Schafen. Die Verkäufer konnten sich der allgemein
ansteigenden Kostenspirale (Material, Lieferung, Service etc.)
nicht entziehen. Selbst wenn sie gewollt hätten. Und die
Kunden konnten nirgendwo anders hingehen, einfach deshalb, weil der
Preisanstieg zum universellen volkswirtschaftlichen Phänomen
wurde. Statt von inflationsgeplagten Ländern wie Italien zu
lernen, leisteten wir uns mangels Regelung einen immensen
Preisanstieg mitten in einer katastrophalen Konjunktur. Fazit: Wenn
Deutsche tatsächlich einmal eine Regel brauchen, dann machen
sie ganz gewiss keine. In allen anderen Bereichen, wo es schon viel
zu viele Regeln gibt, da satteln wir gerne auch noch drauf.
Die Realitätsverzerrung durch die Statistiken wird nur noch
überboten von der Realitätsferne der öffentlichen
Medien. Da heißt es, die Deutschen würden der D-Mark
ungebührlich nachtrauern. Falsch: Die Leute haben jetzt nur
gemerkt, dass sie objektiv erheblich weniger Kaufkraft in der
Tasche haben. Wir hätten einen Hang zu ökonomischer
Übervorsichtigkeit, das Sparen sei in der jetzigen Situation
grundverkehrt. Ebenfalls falsch: Wir haben nicht mehr so viel Geld,
das wir ausgeben könnten. Und schließlich: Wir Deutschen
seien generell zu pessimistisch – stimmt: im Jammern auf
hohem Niveau sind wir tatsächlich Weltmeister; nur:
Unerträglich ist es, wenn solche Aussagen von Moderatoren,
Politikern und Journalisten kommen, die allesamt sehr viel mehr
Geld verdienen als der große Durchschnitt. Denn der bestimmt
nun einmal unsere Lebensrealität. Nicht nur statistisch. In
dieser großen Masse entwickelt sich eine reizbare Stimmung.
Besonders dann, wenn die Leute das Gefühl haben, nicht mehr
wahrgenommen zu werden.
Die Medien-Mahner, Medien-Talker, Medien-Moralisten,
Medien-Journalisten und Medien-Moderatoren sollten einfach nur
bedenken, dass Geld für sie selbst vielleicht kein Thema ist.
Für fast alle anderen schon.

© 2002 Günter Bachmann