Thesen zu Paul Virilio

These 1

Die kinetische Überbietung der Semiotik

Das intensive Sprachbewußtsein der Moderne betont die zunehmende Selbstreferenzialität der Zeichen. Die Sprache emanzipiert sich immer radikaler von den Zudringlichkeiten und Eindeutigkeiten ideologischer Rhetorik. Die Bedeutung selber wird schließlich zum Produkt der Zeichen, das Signifikat zur autistischen Imagination der Signifikanten. Der linguistischen Wende folgt die semiotische Offensive: Sprache konstruiert und dekonstruiert Welten.
Die Unschuld des Zeichens ist somit weltkonstituierend geworden. Es empfängt Bedeutung immer unbefleckt. Stets ist der Kontakt vermittelt durch metaphorische Heerscharen und endlos flexible Diskurse. Ontologie und Metaphysik verlieren sich im produktiven Spiel endloser Verschiebungen und Zuweisungen und dekonstruieren sich gleich selber. Das Moment bewußter ästhetischer Konstruktion tritt an die Stelle altehrwürdiger Paradigmen wie "Präsenz" oder "Zentrum". Wirklichkeit ist eine Poiesis der Zeichen, deren Dynamik sich niemals statisch fixieren läßt.
In diese semiotisch inspirierte Bewußtseinslage läßt sich Paul Virilio integrieren, obwohl er die theoretischen Prämissen charakteristisch überbietet: Zeichen sind für Virilio nicht nur welterzeugende Informationsträger. Sie werden selber getragen. Getragen von Bewegung und Geschwindigkeit. Die Kinetik der Übertragung entschlüsselt uns die Konstitution unserer modernen Welt klarer und einsichtiger als die bloße Reflexion der Zeichenhaftigkeit der Zeichen. Virilio versucht deshalb, das Moment der Bewegung theoretisch zu isolieren. Das theoretische Potential der Semiotik bleibt erhalten, verliert aber seine Primärfunktion. Erst der Orientierungsdruck und die Gewalt der Geschwindigkeit instrumentalisieren und institutionalisieren die Welt als Zeichensystem. Das erste wichtige Ergebnis, zu dem Virilio gelangt, ist der progressive Erfahrungsverlust der Moderne, das Verschwinden und Entgleiten von Unmittelbarkeiten, die Brüche einer ver-zeichneten Welt, in der die Beschleunigung zum Selbstzweck degeneriert.

These 2

Formale Übereinstimmung trotz theoretischer Abweichung

Im Zusammenhang mit den poststrukturalistischen Argumentationsformen ließe sich also behaupten, daß Virilio Bewegung, Beschleunigung und Geschwindigkeit als Platzhalter der Semiotik ansieht. Wie der Begriff des Zeichens auf jeden nur denkbaren Text anwendbar ist, so appliziert Virilio das Phänomen der Bewegung universalistisch auf alle vorstellbaren Diskurse. Stil und Komposition seiner Schreibtechnik verweigern sich außerdem gezielt den traditionellen Vorgaben diskursiver Logik. Sie sind Ausdruck eines assoziativen postmodernen Sprachgestus, der von Bedeutungsverschiebungen und einer spielerischen Auflösung logozentrischer Denkfiguren lebt. Formal unterscheidet sich deshalb Virilio vom poststrukturalistischen Ansatz keineswegs.

These 3

In Virilios Diskursvielfalt nimmt die Ästhetik eine Sonderstellung ein

"Dromologie" erscheint bei Virilio als reflektiertes Bewußtsein einer Wahrnehmung, die Welt und Wirklichkeit als Resultierende der Geschwindigkeit interpretiert. Damit betont er den ursprünglichen Wortsinn der "aisthesis", d.h. der sinnlichen Wahrnehmung. Nicht minder wichtig aber ist die höchst moderne Einsicht, wonach "Wirklichkeit" als Produkt eines ästhetischen Verfahrens, als Prozeß und Erzeugnis verstanden werden kann - also nicht etwa als Mimesis einer vorgeordneten Ontologie. Virilio demonstriert diesen Ansatz in seinem Buch "Der negative Horizont" paradigmatisch an der Windschutzscheibe des Autos, die als Kinoleinwand, als Kunstprojektion von Fahrzeug und Fahrer interpretiert wird.
Eng verknüpft mit dieser ästhetischen Kernzone ist die apokalyptische Vision des "negativen Horizontes", der "Ästhetik des Verschwindens". Indem die Geschwindigkeit zum sinnentleerten Selbstzweck erstarrt, verschwinden Mensch wie Landschaft zusehends von der digitalsemiotischen Bildfläche. Die im Poststrukturalismus diskutierte "Abwesenheit" ist bei Virilio eine Abwesenheit des Menschen, der sich im "Nicht-Ort" der Geschwindigkeit verliert. Das utopische Potential der Moderne hat negative Vorzeichen angenommen.

These 4

Die Ästhetik hat in Theorie und Praxis dem Bewegungstheoretiker Virilio entscheidend vorgearbeitet.

Diese These kann durch einen Vergleich von Hegels Ästhetik mit den Thoerien Nietzsches verdeutlicht werden. Hegel repräsentiert exakt die Vorstellungen, gegen die sich der Poststrukturalismus gewendet hat. Durch die Systematisierung der dialektischen Denkform interpretiert er das Leben zwar durchgängig als Prozeß; doch diese Bewegung bleibt der in sich versöhnten Totalität eines ideellen Zentrums unterworfen. Die Literatur bleibt auf die Vorstellung einer organischen, in sich geschlossenen Einheit und Ganzheit bezogen. Nietzsche hingegen sieht in der Bändigung des bewegten Chaos eine Illusionsleistung des Künstlers, die dieser bewußt bejaht. Werte und Orientierungen werden durch die Kunst des Scheins erst geschaffen. Literatur und Ästhetik sind also kein untergeordnetes Drehmoment eines dialektisch operierenden Weltgeistes. Die Reflexion kann die Kunst nicht mehr "überflügeln". Der Logos ist selber nur Ausdruck des schöpferischen Willens zur Macht, letztlich ein sprachliches Artefakt. Dieser Paradigmenwechsel, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts eintritt, hat der literarischen Moderne entscheidende Anstöße gegeben. Mit experimentellen Repräsentationsformen, die sich gezielt von Hegel distanzieren, versucht sie, Erfahrung wieder darstellbar zu machen.

Zitate und Kommentare zu den vier Thesen

Zu These 1

... zu lange haben die übertragenen Botschaften und Weisungen die Geschwindigkeit der Übertragung verdeckt. (S. 49.)

Die Konsumption des Raumes ist auch Konsumption von Zeichen und Botschaften. (S. 63.)

Die Geschwindigkeit der Hinweise macht Schluß mit dem Unbedeutenden. (S. 65.)

Was dort gegen den Horizont entschwindet, ist die erste Realität, Raum und Gegenstand der Erfahrung, zugunsten der der raschen Ortsveränderung, des Gespürs für die Dinge und Stoffe, die zu Zeichen und Anweisungen werden. (S 51.)

Die schnelle Bewegung hat die Erfahrung des durchquerten Bereichs mit Eis überzogen, die Tatsachen haben sich aufgelöst, wie in der Wüste haben wir keinen Anhaltspunkt mehr außer uns selbst, die Relativität führt uns in die Irre - der Kontinent der Geschwindigkeit wäre demnach der brutale Einbruch eines Nicht-Ortes in die Geschichte (...). (S. 52.)

Damit löst sich zugleich der Boden der Erfahrung auf. ... Ablösung der Netzhaut, Bruch der Nähe und endgültiger Übergang zur Vermittlung durch das Fahrzeug - Merkmale einer Gesellschaft, die dazu übergeht, die Mittel (der Übertragung, der Kommunikation) für den Zweck, für das Ziel zu halten. (S. 52.)

... wenn die langsame Annäherung einen sinnvollen Zusammenhang zwischen den Elementen der durchschrittenen Welt stiftete, so schieben die hohen Geschwindigkeiten die Bedeutungen ineinander, bis sie sich schließlich ganz auflösen wie das Licht die Farben auflöst. (...) Die Reise wird zur Strategie der Verschiebung, zum reinen Pro-jekt, zu einem Gleiten des Gefühls, des Takts und der Taktik, von der Erfahrung zur strategischen Übung. (S. 51-52.)

Das Verschwinden der Einzelheiten der Welt im Flimmern der Geschwindigkeit (...).(S. 52.)

Quelle: Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Reclam Verlag Leipzig 1990.

Zu These 2:

Ich halte nichts von Explikationen. Ich vertraue auf die Suggestion und die Evidenz des Impliziten. (Aisthesis, S 78.)

Die Antriebswelle ist zum Baum des Lebens, zum axis mundi geworden.
(Der negative Horizont, München/Wien 1989, S. 157.)

Zur Diskursvielfalt:

EMANZIPATION: Die Frau dient als Lasttier; wie die Herde geht sie auf die Felder, um unter Kontrolle und Überwachung des Mannes zu arbeiten. Auf den Wanderungen, bei Zusammenstößen trägt sie das Gepäck; lange vor dem Gebrauch des Hausesels ist sie das einzige "Transportmittel". (...) Die erste Freiheit ist die Bewegungsfreiheit, die die Last-Frau dem Jagd-Mann verschafft. (Aisthesis., S. 84.)

DIE FRAU ALS PSYCHOANALYTISCHES AUTO-DESIGN: Ihr Rücken, ihre Hüften werden zum Modell der Reiseausrüstungen, die gesamte Auto-Mobilität wird von dieser Infrastruktur ausgehn, von diesem getätschelten und geschlagenen Hinterteil, alle Wünsche nach Eroberung und Eindringen finden sich in dieser zahmen Reisemaschine wieder. (Aisthesis, S 85.)

ANTHROPOLOGISCH: der Mensch wird selber dezentralisiert, durch die Informations- und Verkehrsflut wird er selber zunehmend Ausdruck des Anderen, der Differance und der Abwesenheit: "eingesperrt in die Spannen der Geschwindigkeiten (...) sind wir nicht einmal mehr Kerle oder Huren, eher schon Bahnhöfe." (Der negative Horizont)

HISTORISCH: dort herrscht die sog. "Dromologie". Die Geschichte erscheint als Geschichte von Transport- und Kommunikationsmitteln, deren Geschwindigkeitseffekt untersucht wird: Sie fungiert als die "Erinnerung an die Erfindung des Effekts, dieses Wirklichkeitseffekts, den jedes Vehikel zu seiner Zeit hervorrief." (Der negative Horizont, S. 174.)

ÄSTHETISCH: Dieser Wirklichkeitseffekt deutet auf den ästhetischen Diskurs, der als Geschwindigkeitsoptik, als Dromoskopie beschrieben wird: Sehen z.B. erscheint als Montage oder Collage. (Ego)

GESELLSCHAFTSKRITISCH: In "Krieg und Kino" (Paris 1984) bezeugt Virilio den technischen Zusammenhang zwischen modernen ästhetischen Verfahrensweisen und der nackten Gewalt des Krieges: Die Kamera etwa als "bewegliches Zielfernrohr" für Maschinengewehre. Die Photomontage und Collage wurde zuerst von der Luftaufklärung praktiziert etc. Eines der Lieblingszitate von Virilio stammt aus Ernst Jüngers Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" (1920): Im Getümmel der modernen Schlacht scheinen selbst "die Naturgesetze aufgehoben": der "wechselnde Brechungsmoment" des Geschützfeuers ließ "feste Gegenstände hin und her tanzen." (Krieg und Kino, S. 86.) - Immer wieder wird auch die Gewalt der Geschwindigkeit landschaftlich reflektiert: die Linearisierung und Betonversiegelung einer von der Geschwindigkeit versteppten, verwüsteten Erdoberfläche etc. (Ego)

Zu These 3

Im Gegensatz zur Stroboskopie, die die Beobachtung von Gegenständen, welche in schneller Bewegung befindlich sind, gleichsam im Zeitlupentempo gestattet, macht die Dromoskopie leblose Gegenstände als gleichsam in heftiger Bewegung begriffen sichtbar. (Der negative Horizont, S 133-134.)

...die Perspektive kommt in Bewegung, der Fluchtpunkt wird zum Angriffspunkt, der seine Striche und Linien auf den Voyeur projiziert; (Der negative Horizont, S. 133.)

...mittels des Lenkrades und des Schalthebels stellt der Autor und Komponist der Reise in der Tat Sequenzen von Geschwindigkeitsszenen zusammen, die insgeheim über den durchsichtigen Bildschirm der Windschutzscheibe laufen. (DnH, S. 134.)

...die überstürzte Fortbewegung der Landschaft ist lediglich eine kinematische Halluzination. (DnH, S. 135.)

Im Grunde ist der automobile Führersitz einfach ein Landschaftssimulator; (...) in den Fahrszenen der Windschutzscheibe wird die Welt zum Videospiel, zum Spiel der Transparenz und der Durchbohrung, das der Regisseur, der das Fahrzeug in Gang setzt, steuert. (DnH, S. 136.)

In der Bildergalerie der Armaturenbretter täglicher Beweglichkeit wird die Kulturrevolution des Transportwesens öffentlich zur Schau gestellt. Auf dem Bildschirm der automobilen Reise ruft die überstürzte Abfolge der Bilder den Eindruck einer tellurischen Bewegung hervor, deren Epizentrum im blinden Fleck der Ankunft läge. (DnH)

Worauf werden wir warten, wenn wir nicht mehr warten müssen, um anzukommen? (Aisthesis, S. 55.)

Wenn uns der Platz am Ende der Straße, der zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen ist, ebenso fern vorkommen wird wie Peking, was bleibt dann von der Welt? Was bleibt von uns? (Aisthesis, S.56)

Das Ideal wäre somit Omnipräsenz, Lichtgeschwindigkeit, permanente Ankunft, die Undenkbarkeit eines Telos oder Ziels, der rasende Leerlauf. (Ego)

Die Zukunft existiert nicht mehr: Im Land, das vor uns liegt, jenseits des Horizontes, schließt sich der Leerlauf der Reisen. Das Anderswo beginnt hier, wir selbst werden unser Unbekanntes.
Die Geschwindigkeit ist nicht mehr das Zeichen eines Fortschritts, einer Progression, sondern das einer Konversion; die Revolution des Fahrzeugs ist letztlich eine ewige Wiederkehr. Die Illusion der Geraden ist vergangen (...) (Aisthesis, S. 70.)

Virilio warnt vor der "Ankunft des Endes". Je höher die Geschwindigkeit sei, desto ferner rücke der Horizont. Jede automobile Windschutzscheibe könne das lehren. (DnH, S. 141.).

Zu These 4

>Wie sehr das dialektische Denken Hegels die Wirklichkeit in den reinen Prozeß und damit in das Werden, Fließen und Bewegen auflöst, verdeutlicht eine Äußerung aus dem ersten Teil der Ästhetik (1835), "Die Idee als Leben":
"Daß (...) das Entgegengesetzte das Identische sein soll, ist eben der Widerspruch selber. Wer aber verlangt, daß nichts existiere, was in sich einen Widerspruch als Identität Entgegengesetzter trägt, der fordert zugleich, daß nichts Lebendiges existiere. Denn die Kraft des Lebens und mehr noch die Macht des Geistes besteht eben darin, den Widerspruch in sich zu setzen, zu ertragen und zu überwinden. Dieses Setzen und Auflösen des Widerspruchs von ideeller Einheit und realem Außereinander der Glieder macht den steten Prozeß des Lebens aus, und das Leben ist nur als Prozeß." (Zit. n. Recl., Bd.I, S. 190.)
"Leben" und "Geist" fungieren hier als ordnende Prinzipien. Alles fließt, aber nichts zerfließt. In der Literatur erreicht Hegel denselben Effekt über den Begriff der organischen Kunstform, über den Gedanken des Werks und selbst gattungstheoretische Definitionen - wie etwa im Falle des Epos:
"Wenn (...) das epische Gedicht auch weitläufiger und durch die relativ größere Selbständigkeit der Teile locker in seinem Zusammenhang wird, so muß man doch nicht glauben, es dürfe so fort und fort gesungen werden, sondern es hat sich wie jedes andere Kunstwerk poetisch als ein in sich organisches Ganzes abzurunden, das sich jedoch in objektiver Ruhe fortbewegt..." (Zit.n Recl., Bd.II, 116.)

Anders Nietzsche, dessen Sensibilität für die Dynamik der Moderne eine große Nähe zu Virilio aufweist:

Bei der ungeheueren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes und falsches Sehen und Urteilen gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennenlernen. (Menschliches, Allzumenschliches (1878-79), zit. n. Karl Schlechta, Bd.I, S. 619.)

Im "Zarathustra" (1883f.) schließlich entwickelt Nietzsche seinen Begriff des künstlerischen Schaffens. Auffällig ist dabei die Bewegungsmetaphorik, die sich meist mit astralen Bildern verknüpft: das Chaos wird zur Ausgangslage des Künstlers:
"... man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können" (Schlechta, II, S. 284.)

An die Stelle des ordnenden Logos tritt die Vorstellungskraft des Künstlers:

"Um die Erfinder von neuen Werten dreht sich die Welt." (Schlechta, II, S. 316.)

Entscheidend ist die Machbarkeit der Welt und damit der ästhetische Wille zur Macht. Die wesentliche Frage lautet:
"Bist du eine neue Kraft und ein neues Recht? Eine erste Bewegung? Ein aus sich rollendes Rad.? Kannst du auch Sterne zwingen, daß sie um dich sich drehen?" (Schlechta, II, S. 326.)
Es gibt also nur noch ein schaffendes Zentrum, um das sich der "Kosmos", also geordnete Bewegung konstituiert. Hier wird das kopernikanische Weltbild ästhetisch zurückgenommen. Der Künstler macht und schafft sich zum Mittelpunkt der Welt. Es geht also nicht um eine neue objektive Ontologie, es geht um die Dynamik künstlerischer Produktion:
"...wer schaffen mußte, der hatte auch immer seine Wahr-Träume und Sternzeichen - und glaubte an Glauben." (Schlechta, II, S. 376.)
Damit begründet Nietzsche den modernen Künstler-Mythos. Denn hinter der astralen Bildlichkeit verbirgt sich die Affirmation des Scheins: Am Ende jenes berühmten Gleichnisses von den drei Verwandlungen des Geistes (Kamel-Löwe-Kind) heißt es:
"Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-Sagen. (...) SEINEN Willen will nun der Geist, SEINE Welt gewinnt sich der Weltverlorene." (Schlechta, II, S. 294.)
Das "Spiel des Schaffens", wie Nietzsche sagt, ist demnach älter als die Dekonstruktion. Die literarische und ästhetische Moderne scheint zuweilen nicht minder postmodern als die Postmoderne. Und dennoch: Das Pathos des Künstlers ist heute gedämpfter. Der Mythos ästhetischer Welten tritt zurück. Er verblaßt gegen den universellen Cyber-Space der Zeichen. Dem Verlust der Unmittelbarkeit und Erfahrung setzten Autoren wie Joyce oder T.S. Eliot noch innovative poetische Verfahren relativ erfolgreich entgegen. Heute sind sie kanonisiert und unmerklich zu Klassikern geworden. Der Erfahrungsschwund jedoch ist nach wie vor im Fortschreiten begriffen. Mit der Thematisierung der Bewegung und Geschwindigkeit stellt sich Virilio dieser Entwicklung wenigstens reflexiv entgegen.

Der holländische Städtebauer Rem Koolhaas im Spiegel Nr. 47, 21. November 1994:
"Derrida sagt, daß die Dinge nicht mehr ganz sein können, Baudrillard sagt, daß die Dinge nicht mehr echt sein können, und Virilio meint, daß sie nicht mehr dasein können."

In der frühesten literarischen Behandlung der Geschwindigkeit haben die Reisenden ein Gespür für diese Magie und vergleichen häufig den Zug mit einer LATERNA MAGICA, gleichsam als sei die Dynamik der Phantasmagorie, dem Wahn verschwistert (wie ehedem das Wasser) und die Statik der Vernunft. (Aisthesis, S. 49.)

Die Schnelligkeit ist unerhört, die Blumen am Wege sind keine Blumen mehr, sondern Flecken oder eher noch rote und weiße Striche, KEINE PUNKTE MEHR, NUR NOCH STRICHE. Victor Hugo, "En voyage" (Aisthesis, S. 49.)

...die Auflösung des Ortes zugunsten des Nicht-Ortes der Fahrt, zugunsten der Abwesenheit des Passagiers. (Aisthesis, S. 67.)

Daten

Paul Virilio, geb. 1932 in Paris, Architekt, Städteplaner, Schriftsteller.
Spektakuläre Ausstellung 1976 im Centre George Pompidou: Bunker-Archäologie
Viele seiner Bücher liegen in deutscher Übersetzung vor:
Fahren, Fahren, Fahren (1978)
Geschwindigkeit und Politik (1980)
Der reine Krieg. Gespräche mit Sylvère Lotringer (1984)
Ästhetik des Verschwindens (1986)
Krieg und Kino (1986)
Das öffentliche Bild (1987)
Der negative Horizont (1989)
Die Sehmaschine (1989)
Bunker-Arcäologie, Rasender Stillstand, Das Irreale Monument (1992)
Revolution der Geschwindigkeit (1993)

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