Die Schriftstellerei als bürgerliches Handwerk

1. Einleitung

In dieser Arbeit beschäftige ich mich mit poetologischen Ansätzen, die im bürgerlichen Realismus formuliert worden sind. Die Basis für meine Überlegungen bilden insbesondere die Romanstudien von Otto Ludwig (1813-1865) und Friedrich Spielnagen (1829-1911). Da ich beide Autoren im Rahmen unseres Seminars näher bearbeitet habe, sollen sie auch mein Ausgangspunkt für weiterführende Untersuchungen sein.
Wenn ich die Poetologie des Realismus auf den Begriff "Ansätze" bringe, so drückt dies keine Wertung aus. Eine in sich geschlossene und abgerundete Theorie, eine normative Ästhetik, die das allgemeine Bewußtsein durchdringt, existiert in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr. Auch Friedrich Theodor Vischers bewundernswerte Leistung, die in seiner sechsbändigen "Ästhetik" (1847-1858) kulminierte, kann daran nichts ändern. Der universelle theoretische Anspruch blieb methodisch deutlich Hegel verpflichtet. Und bis zum heutigen Tage ist Vischers Ästhetik ein exklusives Losungswort unter Gelehrten und akademischen Berufskritikern. Für die konkrete Schreibpraxis der "Realisten" aber und für die gängige Rezeption des breiten Lesepublikums war sie nur im einzelnen befruchtend, als System jedoch gänzlich irrelevant.
Dennoch existiert eine kritische Programmatik des Realismus. Sie läßt sich aus zahlreichen Artikeln, Aufsätzen, Essays und Briefwechseln, aus dem Feuilleton und Rezensionen ablesen. Besonders hervorgetan haben sich Gustav Freytag (1816-1895) und Julian Schmidt (1818-1886), die Herausgeber des "Grenzboten". Die Tatsache jedoch, daß der Essay oder, bescheidener, der Aufsatz zum dominierenden sprachlichen Medium für ästhetische Erörterungen wurden, verdeutlicht schlagend, wie sehr der bloße Aspekt, der punktuelle Ansatz, die jeweils begrenzte Thematik den Formwillen der Autoren bestimmten.
Die "Poetik" des Realismus kann demnach nur das Resultat einer interpretierenden Rekonstruktionsleistung sein: also die fragwürdige Synthese zahlloser, in sich perspektivisch geschlossener Einzelpublikationen. Eine riesige Induktionsarbeit, die nie an das Ziel gesicherter Erkenntnis gelangen kann und immer Gefahr läuft, widerlegt zu werden oder der geheimen Tendenz des lnterpreten zu verfallen. Als analysierbares Faktum liegt die Poetik des Realismus nicht vor; sondern allenfalls als erst zu schaffende Hypothese.
Mir liegt daran, den Perspektivenreichtum des programmatischen Realismus als Ausgangslage festzuhalten. Zu dieser angestrebten Unbefangenheit freilich gesellen sich sofort methodische Zweifel. Es gibt durchaus gemeinsame Positionen realistischer Programmatik. Dazu gehört vor allem die Forderung nach poetischer Verklärung und Idealisierung des Stoffes, den ein Künstler bearbeitet. Ferner rückt, im Zusammenhang mit der Reflexion von Stoff und Form, das Verhältnis zwischen Kunst und Wirklichkeit in das allgemeine Interesse der Zeit. Die Diskussion so wichtiger Begriffe wie "Fiktion" oder "Mimesis" haben im 20. Jahrhundert von den Ansätzen realistischer Programmatik entscheidende Anstöße erhalten.
Damit stellt sich die Frage, ob die Literaturwissenschaft nicht verpflichtet ist, dem Realismus eine Poetologie abzugewinnen, die eine mögliche Brücke zur Gegenwart schlägt. Als erschwerender methodischer Umstand tritt hinzu, daß die Entwicklung des Realismuskonzepts ursprünglich aus enger Wechselwirkung mit literarischer Produktion hervorging. Auch Friedrich Spielhagen und Otto Ludwig waren praktizierende Schriftsteller und verstanden sich auch als solche. Ludwig z.B. schrieb seine poetologischen Reflexionen formlos in ein Tagebuch, das erst posthum veröffentlicht wurde.
Die praktische Tendenz und der Werkstattgeruch, die der Realismustheorie anhaften, sind gerade für Kritiker ein bedeutender Anreiz, theoretisierend einzugreifen. Ein Kritiker, der Selbstaussagen von Schriftstellern und ihre Reflexionen über Dichtung unbesehen hinnimmt, ist kein Kritiker. Die Reflexion von Literatur ist sein ureigenes Geschäft. Sein Drang, Literatur auf den Begriff zu bringen, fordert also mindestens einen klaren methodischen Ansatz. Um so dringlicher, als die lebendige Vielfalt des zu behandelnden Problems gewahrt werden soll. Erst der einheitliche Hintergrund ermöglicht ja deutlich voneinander abgehobenes Sehen.

2. Methodisches Vorgehen

Bei der Auseinandersetzung mit der Programmatik des Realismus stieß ich immer wieder auf einen Zusammenhang, den ich in eine begriffliche Kategorie zu übertragen bemüht war: Gemeint ist der im Titel dieser Arbeit schon genannte Begriff vom Handwerk, genauer: bürgerlichen Handwerk. Das Ethos vom soliden und bodenständigen Handwerker sowie das ausgeprägte Mißtrauen gegen die Berufung auf Inspiration und Genie charakterisieren die Berufsauffassung vieler realistischer Autoren. Zumal dem Romanschriftsteller wird nüchterner Tatsachensinn, unermüdliches Sitzfleisch, gründliches Recherchieren, ökonomischer Einsatz künstlerischer Mittel etc. abverlangt. Kontinuierliche Arbeit, Fleiß und Ernsthaftigkeit, die obersten Tugenden aus dem bürgerlichen Moralkodex, werden derart zum Inbegriff auch der künstlerischen Lebenshaltung. lm Zentrum des Interesses steht nicht mehr die Teilhabe des Künstlers an der "Schöpfung" - ein Begriff, dessen romantisches und religiöses Ambiente offenkundig gemieden wird. Der Schriftsteller ist Produzent und Hersteller von Texten und kein Gott imitierendes "Genie". Das Hohelied schweißtreibender Arbeit übertönt den Sphärengesang leichtlebiger Musen. Kunst kommt fortan nur noch vom Können.
An dieser Stelle rückt allerdings der Aspekt des Handwerks schlechthin wieder in den Vordergrund. Nicht selten haben Schriftsteller vor und nach den Realisten die handwerkliche Grundlage ihres Schaffens stark empfunden. Gerade die normative Ästhetik gab feste Regeln und bestimmte Techniken vor, die zu beherrschen waren. Die Sprache galt als Material, das diesen Regeln entsprechend bearbeitet werden sollte. Dichtung wird also traditionell "gemacht". Auch der Begriff "poiesis", von dem sich Poesie ursprünglich herleitet, bedeutet ein Herstellen, Anfertigen, Zuwegebringen. Die an Pedanterie grenzende Arbeitshaltung vieler Künstler, ihr sagenhafter Fleiß, die hartnäckige Besessenheit im Formen und Gestalten sind bekannt. So betonte etwa Franz Kafka immer wieder, ein Schriftsteller, der sich vom Schreibtisch entferne, sei eine lächerliche Figur. Goethe, dessen Werke meist eine jahrelange Inkubationszeit durchlaufen mußten, litt nach eigenem Bekunden an der Zwangsvorstellung des "Fertigmachens". Thomas Mann gar schrieb bekanntlich nach der Uhr.
Aus alledem folgt: Die Skepsis gegen die Idee, die bloße Inspiration ist vielen Künstlern aus unterschiedlichen Zeiten gemeinsam. Die Betonung des Handwerks, die Umsetzung einer Konzeption in die konkrete Form des "Werks" wird als wesentlich empfunden. Das Handwerkerethos gibt es, seit es gestaltungsfreudige Künstler gibt. Die Berufung auf das autonome Genie ist allenfalls eine notwendige Korrektur, die der Sturm und Drang sowie die frühe Romantik an einer allzu trockenen, hyperrationalistischen Aufklärung vornahm.
Nicht die Betonung des Handwerks allein kann also schon als Spezifikum realistischer Theorien gelten. Das "bürgerliche Handwerk" ist eine synthetische Kategorie. Nur die Erweiterung des traditionellen Kunsthandwerks zum "bürgerlichen" Handwerk kann das Berufsethos der Realisten wirklich charakterisieren. In der entschiedenen Vehemenz, mit der die Vorstellung vom genialen Musensohn bekämpft wird, in der spürbaren Über-Betonung des Handwerks liegt meines Erachtens ein mögliches Verständnis realistischer Programmatik. Nicht aber im Hinweis auf das Handwerk an sich.
Die Kategorie des bürgerlichen Handwerks, die These von der Konzeption realistischer Schriftstellerei als bürgerliche Arbeitsleistung bedingt mein methodisches Vorgehen. Ich versuche, die Perspektiven realistischer Poetologie mit dieser einheitlichen Position zu untersuchen. Das Ordnungsgefüge, das sich daraus ergibt, läßt sich anhand dreier gesonderter Problemkreise erschließen, die in einem Epilog zusammengefaßt werden sollen.

3. Objektivierung

In poetologischen Texten, die eine bestimmte Kunstauffassung formulieren, ist die Relation zwischen Form und Stoff theoretisch vorgegeben. Denn es geht dabei ja gerade um die Machart, um das Herstellen von Kunst. Was in der konkreten Gestaltung und im Endprodukt eine untrennbare Einheit darstellt, wird künstlich getrennt, um abstrakte Grundlagen des Handwerks zu verdeutlichen.
Im programmatischen Realismus wird das Verhältnis des Autors zu seinem Stoff besonders ausdrücklich betont. Von vornherein wird "realistische" Dichtkunst nicht als bloße Wiedergabe von Realität verstanden. Mimetisches Nachbilden oder photographische Reproduktion allein "machen" nicht das Kunstwerk:

(...) und dennoch haben wir die Erkenntnis als einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen, daß es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des WIRKLICHEN, zu allem künstlerischen Schaffen bedarf. (1)

Dieses Zitat aus Fontanes Aufsatz "Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848" (1853) belegt, daß nicht die Kopie der Wirklichkeit, sondern der konzentrierte Bezug auf sie als entscheidend erachtet wird. Literatur soll stoffhaltig sein. Das Material des Künstlers sind empirische Daten und Fakten, nicht ideelle Konstruktionen, die aus dem luftleeren Raum heraus literarisiert werden.
Auch Friedrich Spielhagen kommt zu dem Schluß:

(...) daß es bei der künstlerisch-poetischen Tätigkeit ebenso zugehen werde, wie bei den übrigen Tätigkeiten auch; daß auch in dieser aus nichts nichts kommen könne; das Objekt dem Subjekt freundlich entgegenkommen müsse, wenn der Kontakt, die Verbindung, Verschmelzung beider möglich werden soll; oder, um den uns geläufigen Ausdruck zu gebrauchen der große Erfinder allemal zuvor ein glücklicher Finder gewesen sein werde. (2)

Schon bei der Reflexion der theoretischen Ausgangslage also wird deutlich, daß Literatur als Gestaltung von Wirklichkeit, als bewußte Konstruktion eines Formwillens verstanden wird. Das Zitat von Spielhagen verweist bereits auf ein erkennbares Motiv: Gesucht wird offenbar ein Ausgleich zwischen dem Subjekt und der objektiven Welt, die als problematisch, als ein undurchsichtiges Gegenüber erfahren wird. Diese Kluft kann und soll Literatur schließen.
Was aber charakterisiert nun speziell den "Realismus" als eigenständigen theoretischen Ansatz? Die gegenseitige Durchdringung von Subjekt und Objekt, wie sie Spielhagen fordert, ist nur eine Neuauflage der Weimarer Klassik. Und daß ein Künstler einen soliden Stoff sowie exakte Kenntnis der Wirklichkeit für seine Arbeit benötigt, ist durchaus keine Einsicht, die, in Fontanes Worten, "als unbedingter Fortschritt zu begrüßen" ist. Theoretisch innovativ sind solche Aussagen nachgerade nicht.
Ein auffälliger und unterscheidender Zug wird nur in der strikten Betonung des Stofflichen sichtbar. Die Nachdrücklichkeit, mit der empirische Wirklichkeit als Grundlage künstlerischen Gestaltens empfohlen wird, ist wahrhaft neu. In dieser eigentümlichen Emphase liegt vielleicht ein wesentlicher Grund für das Prädikat "realistisch".
Es geht also in der realistischen Programmatik nicht um das Aufstellen einer theoretisch umfassenden Ästhetik. Praktizierende Schriftsteller reflektieren allenfalls ihr Handwerk. Der poetologische Ansatz bleibt durchweg Ansatz. Die Reflexion konzentriert sich wesentlich nur auf die Prämisse poetologischer Aussagen überhaupt: sie gelangt über die Stoff-Form-Relation nicht hinaus; und wo es ihr einmal glückt, bleibt sie epigonal und ergeht sich in Gemeinplätzen. Wie gesagt: Einzig die Betonung stofflich-empirischer Grundlagen hebt sich deutlich davon ab.
Über die besonderen handwerklichen Auflagen ihrer Dichtung haben sich die Autoren denn auch häufig geäußert. In einem Brief an seinen Vormund Ludwig Ambrunn vom 11.02.1854 schreibt Otto Ludwig:

Man will einmal nichts bloß Ersonnenes mehr, es soll eine Erzählung jetzt durchaus einen realistischen und sozial-historischen Grund und Boden haben! (3)

Vor diesem kritischen Hintergrund wird häufig die Funktion moderner Prosa theoretisch überdacht. Die radikale Frage wird aufgeworfen, wie Dichtung im Sinne epischer Objektivität überhaupt noch möglich sein soll. Der auf seine subjektive Erfahrung verwiesene Romanschriftsteller einerseits, eine als kulturelle Gesamtstruktur längst nicht mehr erkennbare moderne Welt andererseits sind nicht eben günstige Voraussetzungen für epische Gestaltung im Geiste Homers.
Insbesondere Friedrich Spielhagen wird nicht müde, auf diesen wunden Punkt aufmerksam zu machen. Um die Totalität und Objektivität der epischen Gattung zu wahren, greift er zu einem radikalen Gegenmittel. Er plädiert für die vollständige Durchdringung des Stoffs mit empirischem Material. Und dieses Verfahren stellt laut Spielhagen eine enge Verwandtschaft zwischen Kunst und Wissenschaft her:

Sie (die Verwandtschaft, G.B.) beruht auf der Eigentümlichkeit der epischen Phantasie, den Menschen immer auf dem Hintergrunde der Natur, immer im Zusammenhang mit - in der Abhängigkeit von den Bedingungen der Kultur, d.h. also so zu sehen, wie ihn die moderne Wissenschaft auch sieht. (4)

Hier zeigt sich das neue Menschenbild und der Versuch, es episch mittels soziologischer Determinierung in den Griff zu bekommen. Das Ideal exakter naturwissenschaftlicher Forschung, wie es in Physik, Astronomie oder Chemie längst akzeptiert wird, greift nun auch endgültig auf den Menschen und seine Gesellschaft über. Zunehmend wird er als determiniertes Wesen interpretiert, das von biologischen Impulsen nicht minder abhängt als von gesellschaftlichen.
Allerdings: weder Spielhagen noch Ludwig bekennen sich weltanschaulich als "Positivisten". Doch sehen beide im deterministischen Modell eine große Chance für epische Gestaltung. Ludwig beispielsweise, der das Wesen des Romans in der Abgrenzung zum Drama zu begreifen versucht, spricht eindeutig vom soziologisch determinierten Menschen:

Am Menschen interessiert uns mehr das Produkt als seine Produktion; mehr die Breite der Persönlichkeit gilt es zu schildern, als die Tiefe des Charakters, wir haben es mehr mit dem Bürger, dem Anhänger einer Konfession oder Partei, dem Geschäftsmann, dem Stande, der Beschäftigung, den individuellen Gewohnheiten als mit dem Menschen selbst und seinen Leidenschaften, mehr mit dem Sein als mit dem Vermögen desselben zu tun. Mehr die habituellen Züge seiner Beschäftigungen, als seine elementare Richtung kommen in Betracht. Er ist mehr ein Bewegtes als ein Bewegendes; daran das Detail vorherrschend. Mehr was die Gesellschaftsverhältnisse aus ihm gemacht und noch machen, als die Verhältnisse, die er selbst schafft. (5)

Der Einzug positivistischer Wissenschaft in die Literatur wurde von den Theoretikern des Realismus erkannt und gefördert. Freilich ist die Sprachregelung noch unsicher. Meist werden die Begriffe "Positivismus" und "Soziologie" gerade dort nicht genannt, wo sie am meisten am Platz sind.
Was den Realismus charakterisiert, ist demnach ein Vermittlungsversuch zwischen zwei extremen Positionen. Der Dichter als formgebender Gestalter dankt keineswegs ab. Er behandelt seinen Stoff gemäß den handwerklichen Vorgaben, die aus den Gesetz der Gattung resultieren. Für die epische Gattung heißt das, daß der Anspruch auf Objektivität und Totalität beibehalten wird. Logik und Struktur des Werks bleiben daher "poetisch". Zur Kenntnis des eigenen Metiers aber, einschließlich der umfangreichen Tradition, tritt für den realistischen Dichter die wissenschaftlich geprägte Recherche hinzu, d.h. der klare und detaillierte Blick auf die Empirie, auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Romane werden nicht mehr nur gedichtet, sie werden stofflich auch regelrecht erforscht.
Der Romancier bedarf deshalb der zupackenden Neugier des Journalisten sowie der fleißigen Gründlichkeit des Wissenschaftlers. Und unter diesen Voraussetzungen tritt die Betonung des Handwerks und der Disziplin mit besonderem Nachdruck hervor. In dieser Transformation des Kunsthandwerks in ein bürgerliches Handwerk sehe ich auf literarischer Ebene eine entscheidende Reaktion auf die Wissenschaft und Industrialisierung.

4. Rechtfertigung

Die rigorose Bindung der gestaltenden Kräfte an konkrete, detailgetreue, "positive" Wirklichkeit ist ein progressives Zugeständnis an die Moderne. Dieser Realitätssinn, der Gegebenheiten anerkennt, enthält aber nicht notwendig den Verzicht auf konservative Positionen.
So steht für Spielhagen unzweifelhaft fest, daß die homerischen Epen das Muster der gesamten Gattung seien und unnachahmlich in ihrer bestechenden Objektivität und Totalität. Zwar argumentiert er in Anlehnung an Hegel, daß die Prosa in der Moderne vorgegeben sei und den Roman zum legitimen Nachfolger des antiken Epos erhebe - doch attestiert er dem Roman im gleichen Atemzug einen geringeren ästhetischen Wert. Wie Spielhagen in seinem Essay "Finder oder Erfinder" (1871) ausführt, kann es eben nicht darum gehen, das alte Epos wiedereinzuführen. Denn eine solche Wiedereinführung setze unweigerlich die Einheit griechischer Kultur voraus. Der bürgerliche Realist versteht sich als Konservativer auf der Höhe seiner Zeit.
Der Roman ist also kein Bruch mit der Tradition, er ist nur ihre unvollkommene Fortsetzung. Diese Prämisse erlaubt, ja fordert die Rechtfertigung der Prosa, desgleichen die Aufnahme wissenschaftlicher Methoden in das Dichterhandwerk. Der Roman wird zum poetologischen Zugeständnis an die moderne Industriewelt.
Dieses Zugeständnis, das seit dem 19. Jahrhundert der Prosa eine beherrschende Stellung auf dem Buchmarkt einräumt, war auch dringend erforderlich. Seit der Industrialisierung ist die Welt enorm in Bewegung geraten. Entwicklungen beschleunigen sich unabsehbar. Eine einschneidende geistesgeschichtliche Konsequenz dieser alles erfassenden Dynamik besteht in der Verzeitlichung des menschlichen Bewußtseins. Wissenschaftliche Methodik, biologische, gesellschaftliche und technische Evolution dominieren das Denken. Entscheidend für die Wertung von Literatur wird der geschichtliche, soziale und biographische Kontext:

Das Publikum hat eine förmliche Leidenschaft, zu erkunden, was denn eigentlich "an der Geschichte Wahres sei", nicht im ästhetischen, sondern in dem banausischen Sinne der hausbackenen Wahrheit. (6)

Der halb ironische, halb verärgerte Kommentar Spielhagens steht für viele andere. Allgemein greift die Tendenz um sich, die Ästhetik auf Gesetze zu reduzieren, deren Ursprung auf wissenschaftlichem Gebiet liegt. Die Aversion Spielhagens gegen diese Reduktion äußert sich in der Unterscheidung zwischen einer "hausbackenen", id est: empirischen Wahrheit und einer "ästhetischen", id est: höheren und poetischen Wahrheit.
Klagen wie die Spielhagens sind bei realistischen Autoren wie gesagt häufig aufzufinden, besonders dort, wo sie sich zu programmatischen Grundsatzfragen äußern. Die Legitimation der Dichtung wird zu einem bewußten Problem. Otto Ludwig z. B. bemerkt lapidar:

Das Spiel des Humors mit sich selber gilt ihr (der Zeit, G.B.) nichts. (7)

Derart kann es nicht ausbleiben, daß die bewahrende Gesinnung der bürgerlichen Realisten, bei allem Bekenntnis zum Prosaroman und zur Novelle, die kritische Abgrenzung zur eigenen Zeit aufrechterhält. Wenn die Literatur sich ihres Rechtes begibt, die Wirklichkeit nach ästhetischen Gesetzen zu gestalten, läuft sie Gefahr, ihren poetischen Gehalt zu verlieren. Gottfried Kellers zusammenfassendes Urteil in einem Brief an Paul Heyse kann als Paradigma dieser Problematik gelten:

Im stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmittelbarkeit der Poesie, d.h. das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das man sich nach meiner Meinung durch keine Kulturwandlungen nehmen lassen soll. (8)

Die Legitimationskrise der Literatur nötigt zur Rechtfertigung der Literatur. Die Poesie als traditionelles Kunsthandwerk ist vom Aussterben bedroht wie andere Zünfte auch. Sie legitimiert sich unter diesem Druck als bürgerliches Handwerk. Zwar ist der Tagträumer und Musensohn nicht mehr recht salonfähig. Wohl aber der ehrbar fleißige, mit wissenschaftlicher Akribie arbeitende Romanschriftsteller. Dieser moderne Typus eines Schriftstellers betreibt sein Handwerk grundsolide. Er ist eine bürgerliche Existenz. Und er wahrt gewissenhaft altehrwürdige poetische Rechte.

Biographisch aufschlußreich ist auch die Tatsache, daß die meisten Realisten aus einem bürgerlichen Elternhaus stammten, in einer bürgerlichen Familie lebten und einen bürgerlichen Beruf ausübten. Meist handelte es sich dabei um eine Beamtentätigkeit, die das obligatorische Jurastudium voraussetzte. Das bezeichnet eine gedämpfte, zurückhaltende, das Risiko der reinen Schriftstellerexistenz scheuende Haltung. Nur wenige Autoren, wie Wilhelm Raabe, wagten den Sprung in das ungesicherte Poetendasein und wurden professionelle Autoren. Bei aller Nörgelei über die drückenden Amtslasten blieb deshalb Storm und anderen die Erkenntnis erspart, daß professionelle Schriftstellerei leicht zu einer auszehrenden Proletarierexistenz führt:

Er (Raabe, G.B.) konnte als einer der wenigen freien Autoren von seinen Werken leben, weil er sich unter einen rigorosen, der Fabrikarbeit vergleichbaren Tageslauf stellte. Ständig unterbrach er sein Arbeiten an Romanen, um kleine, rasch Geld bringende Erzählungen für Familienzeitschriften zu produzieren. Er achtete darauf, immer etwas Druckbares bereitzuhalten, und er lernte, die Verleger gegeneinander auszuspielen. Er war sich seiner Marktabhängigkeit wie seines Marktwerts bewusst. (9)

Eine bürgerlich gesicherte Existenz hingegen betreibt die Schriftstellerei nicht als industrielles Handwerk. Obschon auch ein Storm eifrig bemüht war, seine Produkte an den Mann zu bringen, besteht durch die feste Bindung an Beruf und Familie eine fühlbare Distanz zum reinen Künstlertum. Der bürgerliche Realist steht mitten im Leben. Der poetische Sonderling scheint ihm - ungleich Raabe - kein attraktiver Stoff zu sein; so wenig als formale Experimentierfreude.
Festzuhalten bleibt, daß die Bewahrung des poetischen Gehalts, das Plädoyer für die Autonomie der Kunst und nicht unmittelbarer ökonomischer Druck die Dichtkunst als bürgerliches Handwerk ausweist.
Trotz dem etwas biederen Sicherheitsbedürfnis des Bürgertums war den Autoren jedoch längst klar geworden, in welch dramatischem Ausmaß die industrielle Entwicklung das Antlitz der Erde verändert hatte. Aus programmatischen Publikationen und Briefwechseln läßt sich unverkennbar eine feine Sensibilität heraushören: die Poesie ist bedroht, die Prosa regiert die Welt.
Friedrich Spielhagen und Otto Ludwig reagieren darauf bemerkenswert. Zwar gilt beiden der Roman als Mittel zur Integration der Industrialisierung in die epische Gattung; doch halten sie beide unvermindert am idealen Menschentum fest, das von der Zeit nicht berührt sei. Und dieses zeitlose Menschentum retten sie in andere Gattungen. So ist für Otto Ludwig das Drama der Ort idealen Menschentums:

Das Drama soll geben, wie der Mensch denkt und handelt, nicht als Bürger einer gewissen Zeit, sondern eben als Mensch; darum soll sein Stoff nicht Zeitsitte, Denkart einer Zeit, sondern Leidenschaft und Natur des Menschen sein. Selbst in der Historie soll es ewig gültige Typen geben, wie z.B. Richard III. (10)

Genau in Abgrenzung zu dieser Konzeption des Dramas entwickelt Ludwig seinen Begriff vom Roman.
Bei Friedrich Spielhagen dagegen rettet sich das zeitlose ideale Menschentum in die lyrische Gattung, wie er in dem Aufsatz "Das Gebiet des Romans" (1873) erläutert. Spielhagen spricht sogar, mit Seitenhieb auf die Moderne, dem antiken Epos Zeitlosigkeit zu. Der Roman habe es, zu seinem ästhetischen Nachteil, immer mit einer "bestimmten" Zeit zu tun.
Die Rettungsversuche des idealen Menschentums in die lyrische Gattung sind besonders zahlreich. Paul Heyse z.B. antwortet auf eine Manuskriptzusendung Storms wie folgt:

Seit ich ihre freundliche Sendung erhalten habe, war ich nur leider so des Teufels vor unseliger dramatischer Handwerkerei, daß ich mit niemand reden mochte, den ich im Abrahamsschoß der alleinseligmachenden Lyrik wohl aufgehoben sah. (11)

Diese Fluchtbewegung in andere Gattungen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die realistische Poetologie sehr wohl die Bedeutung und Berechtigung des Romans erkannt hat und ästhetische Ansprüche damit verbindet. Der springende Punkt dabei ist die theoretische Begründung jener höheren und ästhetischen Wirklichkeit, die Spielhagen so dezidiert von der "hausbackenen" und empirischen Wahrheit unterscheidet.
In dieser Absicht beschreibt Spielhagen häufig den Verwandlungsprozeß, die Verfremdung des Autors beim Schreiben. Auf keinen Fall dürfe man den Schriftsteller mit dem Erzähler oder anderen geschaffenen Figuren gleichsetzen. Kunst bestehe geradezu in diesem Verwandlungsvorgang. Und je vielfältiger die Rollen sind, in denen der Autor aufgehe, je umfangreicher das Material, das er verarbeite, desto "objektiver" sei sein Kunstwerk; denn:

(...) er muß doch jedesmal anders mit dem Gegner ringen, und ein Etwas von der Natur der Wesen annehmen, in die er sich verwandelt. (12)

Dieser objektive Verwandlungsprozeß vollzieht sich auch an einem Autor, der die Ich-Form wählt und seinen Stoff aus der eigenen Biographie gewinnt. Ja das Wesen des Autors finden wir im Kunstwerk sogar deutlicher offenbart als in seinem historisch konkreten Lebenslauf, der von den Schlacken der Prosa nicht ästhetisch gereinigt ist:

Ist doch die Poesie überall darauf angewiesen, ja muß man es als ihre ganz eigentümliche Aufgabe bezeichnen, daß sie aus den gegebenen Verhältnissen die idealen Konsequenzen zieht, welche das mit unzähligen gleichzeitigen Verpflichtungen überbürdete Leben nicht ziehen kann. (13)

Der poetische Gehalt, die Legitimation und Rechtfertigung der Poesie geht also auch direkt in den realistischen Roman ein. Die Crux besteht nur darin, daß die epische Objektivierung den Autor vor große Probleme stellt. Doch generell spricht die Poetologie des Realismus dem Kunstwerk eine autonome und ästhetische Seinsweise zu, die höherwertiger ist als der Zufall und das Chaos der bloßen Tatsachenexistenz. Spielhagen bemerkt hierzu schmunzelnd:

Und zwar besteht das Wunder darin, daß ihm (dem Romanhelden, G.B.) ausnahmslos das Rechte am rechten Orte und zur rechten Zeit begegnet. (14)

Die ästhetische Wirklichkeit als wesentliche Wirklichkeit - diese Position läßt sich bis auf die Poetik des Aristoteles zurückführen. Die betont objektivierende Gestaltung im realistischen Roman geht freilich über Aristoteles hinaus, der mit dem Hinweis auf Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit sich begnügt hatte. Der "Realist" verzichtet nicht auf die gestaltete und ästhetische, d.h. also bewußt konstruierte Wirklichkeit. Sein Ideal jedoch ist das vollständige und totale Aufgehen der Konstruktion in der empirischen Wirklichkeit. Poetische Konventionsgefühle, "die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene" (15) sollen bekämpft werden. Die absolute Kunstleistung wäre eine Konstruktion, die als Wirklichkeit und eine Wirklichkeit, die als Konstruktion überzeugt - vereinigt in einem Kunstwerk:

Es wäre allerdings eine schwere, aber gewiß lohnende Aufgabe, einen Roman zu schreiben, der überall sich vom Schlendrian der Erfindung und Technik frei machte und doch die wesentlichen Gesetze derselben nicht verletzte. Einen Roman, dessen Absicht scheinen könnte , der Kunst in das Gesicht zu schlagen, während er nur um so genauer mit ihrem wesentlichem Gesetz in Übereinstimmung wäre. (16)

Die Schriftstellerei als bürgerliches Handwerk steht für eine traditionelle Poetik, die einerseits vehement die Eigengesetzlichkeit der Ästhetik rechtfertigt und, andererseits, die totale Objektivation mit positivistischer Detailtreue anstrebt. In dieser Apologie der Kunst, die zugleich von der Wirklichkeit vollständig durchdrungen sein soll, manifestiert sich eine bewahrende Gesinnung, die das alte Kunsthandwerk als bürgerliches Handwerk zu retten sucht:

Das Tun des Romanschreibers erinnert an die ruhige Art, mit der man Arbeiter vom Fache arbeiten sieht, die sich nie übernehmen und vor Ungeduld, das Ganze fertig zu sehen, das Einzelne überhasten. (...) Diese Kaltblütigkeit, dieses Unterordnen und Auseinanderhalten, diese vorsichtige, umsichtige Ruhe, diese Totalität, mit der er bei jedem Moment und dem, was eben nötig, mit ganzer Seele ist, diese Ausdauer, die nichts durch Übereilen verderben will und jedem Anspruch genügt, dies ruhige Abwarten, das dem Engländer eigen, macht ihn zum großen Romanschreiber wie zum großen Staatsmann. (17)

Und natürlich zeichnet sich das Ambiente des bürgerlichen Autors durch den ernsthaften Fleiß aus, der das Pendant zur kaltblütigen Bedachtsamkeit seiner Arbeitsweise bildet:

Der Künstler darf keine Flauheit in sich aufkommen lassen; immer wachsam und alles zu ergreifen und energisch zu ergreifen bereit sein, was der Moment fordert und gibt. (18)

Mit dieser Maxime trieb sich Otto Ludwig in seinem Tagebuch zur "Arbeit" an.

5. Das bürgerliche Weltbild

Das bürgerliche Weltbild schafft die Grundlagen für realistische Programmatik. Es wird vor allem dann greifbar, wenn in poetologischen Texten konkrete Aussagen zur Struktur des Gesamtwerks gemacht werden. Die ästhetische Freiheit, eine autonomen Gesetzen folgende Wirklichkeit aufzubauen, wird nicht nur durch die Forderung nach möglichst totaler Durchdringung der ideellen Konstruktion mit empirischem Material eingeschränkt. Die Anordnung des Stoffes, das Arrangement der empirischen Daten im Werk selber soll einheitlich sein. Einheitlich bezüglich der Zeit und des Raumes. Die Momente der Handlung sollen kausal und übersichtlich auseinander hervorgehen:

Dadurch entsteht dem Leser das behagliche Gefühl der Sicherheit und Freiheit, er wird in eine kleine freie Welt versetzt, in welcher er den vernünftigen Zusammenhang der Ereignisse vollständig übersieht, an welchem sein Gefühl für Recht und Unrecht nicht verletzt, er zum Vertrauten starker idealer Empfindungen gemacht wird. (19)

So äußert sich Gustav Freytag. Derartige Regieanweisungen für das Gesamtarrangement des Romans treten häufig auf . Die oberste Maxime für die Schriftstellerei als bürgerliches Handwerk fordert Behaglichkeit und poetische Gerechtigkeit. Aus der Autonomie ästhetischer Gestaltung wird die Forderung abgeleitet, eine einheitliche, überschaubare, kausal nachvollziehbare Handlung zu schaffen.
Reflexionen und häufiger Perspektivenwechsel, Point-of-view-Technik etc., d.h. formale Neuerungen der Schreibtechnik werden deshalb bewußt abgelehnt. Die unsicher gewordene Welt mit ihrer relativierten Wahrheit soll in die Kunstgestaltung nicht formbestimmend eingehen. Derart wehrt sich das Bürgertum entschieden gegen eine rasante industrielle Entwicklung, die bürgerliche Wertvorstellungen brüchig werden läßt. Die Kunst erhält den unausgesprochenen Auftrag, die Wirklichkeit bürgerlich richtig zu stellen.
Ein Paradigma für die bürgerliche Antipathie gegenüber formalem Experimentieren stellt die Auseinandersetzung Spielhagens mit George Eliots Roman "Middlemarch" (1872) dar. Eliot hat sich in diesem Werk gerade die Relativierung menschlichen Wissens ästhetisch zunutze gemacht: Ständiges Wechseln der Perspektive, zusammengehalten von einem reflektierenden Erzählkommentar, der den allwissenden Autor ersetzt und ironisiert, bestimmen die Technik, die Kompositionsart dieses Romans. Spielhagen rezensiert ihn ausgiebig in "Der Held im Roman" (1874) mit dem Hinweis, daß die Reflexion generell ein untaugliches Mittel für epische Gestaltung sei. Die Darstellung solle immer "aus erster Hand" erfolgen. Spielhagen jedoch mißachtet, daß diese Technik eine geordnete Weltauffassung mit eindeutigen Relationen voraussetzt. Er legt seinem Schaffen eine Prämisse zugrunde, die Eliot nicht mehr teilt:

Wenn wir es überhaupt als die Aufgabe des Romandichters bezeichnen können, das Leben so zu schildern, daß es uns als ein Kosmos erscheint, der nach gewissen großen ewigen Gesetzen in sich und auf sich selbst ruht und sich selbst verbürgt, so muß er, mit einer unwiderstehlichen logischen und ästhetischen Notwendigkeit, aus diesen vielen Menschen einen aussondern, der gleichsam als der Repräsentant der ganzen Menschheit dasteht (...). (20)

Diese klassische These des Bildungsromans verbürgt noch einen Helden, der tatsächlich genügend Integrationskraft besitzt, um die Einheit der Handlung zu gewährleisten. Für George Eliot allerdings hat diese Prämisse keinen Bestand mehr:

I at least have so much to do in unravelling certain human lots, and seeing how they were woven and interwoven, that all the light I can command must be concentrated on this particular web, and not dispersed over that tempting range called the universe. (21)

Das unbewegliche Festhalten an der traditionellen Romanform bleibt ein wesentliches Merkmal von Spielhagen, Freytag, Ludwig und anderen. Zwar wird der industrialisierten Welt mit moderner Prosa sowie der wissenschaftlichen Erweiterung und Innovation der handwerklichen Grundlagen durchaus Rechnung getragen. Aber die konkrete Arbeit selber soll nach wie vor Gott und das Bürgertum "behaglich" erhöhen:

So ist denn am Ende der Leser mit keiner Person so sehr zufrieden, als mit dem lieben Gott, und es ist wiederum recht von dem Romanschreiber, der doch eigentlich dieser sein lieber Gott selbst ist, daß er den Leser mit dieser Empfindung entlässt. Ästhetisch und moralisch gerechtfertigt. (22)
Mehr das Gemüt als die Phantasie beschäftigt und durchaus nicht jenes Behagen vergessen. (23)
Immer die alte Geschichte das Gute belohnt, das Böse bestraft, aber auf möglichst neuem Wege. (24)

Diese kleine Kollektion von Arbeitsmaximen findet sich bei Otto Ludwig. Die Liste ließe sich beträchtlich verlängern, die Zahl der Autoren spielend erhöhen.
Der poetische Realismus ist also beileibe nicht tendenzlos. Seine Polemik gegen politische Tendenzdichtung und naturalistische Bestrebungen ist nicht gänzlich als ehrenwerter Versuch zu werten, die Autonomie der Poesie zu retten. Die dezidierten Regie-Anweisungen an den Schriftsteller verraten selber eine Tendenz - das unkritische Behagen des Bürgertums, das sich in den antiken Kosmos flüchtet.
Die Prinzipien des bürgerlichen Handwerks bestimmen auch deutlich die Grenzen dessen, was der realistische Roman zu leisten imstande ist. Er bevorzugt den Humor, der als literarisches Gestaltungsmittel scheinbar unversöhnliche Gegensätze lächelnd aufhebt oder auch das Elegische, das sie melancholisch aufweicht. Die Ironie, die in der Romantik noch scharf den Gegensatz "zwischen der Poesie des Herzens und der Prosa der Verhältnisse" (Hegel) hervorhebt und im Zusammenspiel mit der Satire die Wirklichkeit unbeirrbar kritisiert - kurz: alle kräftigen Akzente der Kritik und die grelleren Farben der Komik werden ängstlich gemieden.

Heftige Kritik an der Gegenwart ist allenfalls begleitet von der für das Bürgertum symptomatischen Flucht in die gute alte, d.h. klassische Zeit:

Das Raffinement, das entsetzlich Outrierte, Gequälte, dieser nüchterne Rausch, diese Formlosigkeit von Inhalt und Inhaltslosigkeit von Form, all das, was die Poesie unserer Zeit bezeichnet, treibt mit Gewalt zurück zu Shakespeare, Plautus, Homer, der Bibel, zum Volksliede, zu vielem in Goethe und Lessing, Luther nicht zu vergessen und Schillers Lied von der Glocke. (25)

Wie sehr die Direktive des bürgerlichen Handwerks, behaglich nur Behagliches zu produzieren, auch stofflich begrenzt, verdeutlicht eindrucksvoll ein Brief Ludwigs an seinen Kollegen Auerbach vom 14.04.1861:

Meine Isolierung schließt allen Zufluß von realistischen Motiven ab; ich bin lächerlich fremd in der Welt geworden, und namentlich fehlt es mir überall am Modell des Gehabens der Stände, ihrer Sprache, Gewohnheit, Sitten, Moden. Ich muß mir das alles selbst zubereiten, soweit es möglich ist; das führt mich dahin, ein eigentlich dramatisches Element, die psychologische Entwicklung der Charaktere, und zwar psychologischer Typen in die erzählende Gattung einzuschwärzen. Das geht nicht ohne Verletzung der Kunstform. (26)

Nur der Verlust empirischen Materials wird beklagt. Das Subjekt, die Phantasie, der Weg nach innen wird als stoffliche Chance nicht wahrgenommen. Die Isolation des Dichters hat für Ludwig durchaus etwas Provinzielles. Hier gibt es keine tragischen Anklagen des einsam leidenden Genies. Aber auch keine utopischen Gegenpositionen zu den bestehenden Verhältnissen. Es herrscht die Friedhufsruhe gescheiterter Revolutionen (1830 und 1848). Der bürgerliche Realismus erlaubt sich gerade noch das stilisierte, behagliche und unaufgeregte Idyll, für das der Adressat des Briefes - Berthold Auerbach - mit seinen "Dorfgeschichten" (1843ff.) exemplarisch zu nennen wäre.
Auch in der literarischen Kritik schlägt sich das bürgerliche Bewußtsein und seine spezifischen Mängel vielfach nieder. Ludwig z.B. erscheint die mitunter herbe Sozialkritik, die Charles Dickens in seinen Romanen übt, als gänzlich überzogen:

Er (Dickens, G.B.) zeigt das Unrecht eines Gesetzes, das Verkehrte eines Brauches usw. praktisch, indem er ein Beispiel von den übeln Wirkungen derselben gibt. Nun sind aber die Figuren absichtlich darauf eingerichtet, daß solche Wirkungen an ihnen und durch sie entstehen; sie sind mehrenteils Ausnahmen, die nichts beweisen gegen die Regel, aus der das Gesetz oder der Brauch entstanden. (27)

Man sieht: das ästhetische Arrangement ("absichtlich darauf eingerichtet") wird sogleich als verwerflich empfunden, wenn ein Autor die moralische Fragwürdigkeit bürgerlicher Werte und Einrichtungen demonstriert. Überdies kann die "praktische" Darstellung sozialer Übel am konkreten Einzelfall kein ästhetisches Gegenargument sein. Alle Fälle des Lebens sind konkrete, und zumal die Literatur ist an die Schöpfung sinnlich konkreter Einzelfiguren gebunden. Die "Beweiskraft" dieser Beispiele ist bei Dickens um so gewichtiger, als selbst Ludwig ihn anderswo als "großen Epiker" anerkennt. Auch ist logisch überhaupt nicht einzusehen, weshalb die Ausnahme die Regel bestätigen soll. Sie widerlegt sie. Was Ludwig eben nicht schlucken will, ist die groteske Komik einer sinnlich beeindruckend greifbar werdenden Sozialkritik in der Romanwelt Dickens: Satire verboten! - Denn:

(...) wir werden vom Boden der Poesie auf einen anderen gestellt (...) und wir verlieren die Behaglichkeit. (28)

6. Epilog

Die Kategorie des bürgerlichen Handwerks als grundlegende Konzeption realistischer Schriftstellerei bringt zusammenfassend folgende Ergebnisse:<br/>
1.) Die Betonung der Objektivierung einer Idee im literarischen Werk mittels möglichst vollständiger empirischer Recherche bezeichnet die grundlegende Innovationsleistung und das Selbstverständnis der "Realisten". Diese Innovation bewirkt die Integration positivistischer Wissenschaft in das literarische Handwerk. Das Kunsthandwerk wird durch die einseitige Verschiebung des Gleichgewichts zwischen Inspiration und Gestaltung zugunsten einer totalen empirischen Recherche in das Arbeitsethos des bürgerlichen Handwerks überführt.
2.) Die Rechtfertigung der ästhetischen Autonomie entspringt einer kritischen Abgrenzung gegen den Zeitgeist, der die Grundlagen der Poesie radikal in Frage stellt. Die Schriftstellerei als bürgerliches Handwerk bemüht sich aus literarhistorischer Sicht um einen Ausgleich zwischen den extremen poetologischen Positionen der Romantik und des Naturalismus.
3.) In der Verpflichtung des bürgerlichen Handwerks auf das bürgerliche Weltbild offenbaren sich die Grenzen und Schwächen realistischer Literatur. Die Poesie wird gleichsam domestiziert. Die politische und kritische Wirkung von Literatur wird entscheidend abgeschwächt und läuft Gefahr, in einer idyllischen Fluchthaltung gänzlich zum Erliegen zu kommen.

7. Anmerkungen

  1. Theodor Fontane, Sämtliche Werke (München 1963), Bd. 21/1, S. 12.
  2. Friedrich Spielhagen, Beiträge zur Theorie und Technik des Romans, hrsg. v. Walther Killy (Göttingen 1967), S.33. Generelle Zitationsgrundlage für Spielhagen in dieser Arbeit.
  3. Otto Ludwig, Romane und Romanstudien, hrsg. v. W. J. Lillyman (München/Wien 1963), S. 676. Generelle Zitationsgrundlage für Ludwig in dieser Arbeit.
  4. Spielhagen, Beiträge, S. 41.
  5. Ludwig, Romanstudien, S. 556.
  6. Spielhagen, Beiträge, S. 4-5.
  7. Ludwig, Romanstudien, S. 658.
  8. Gottfried Keller, Dichter über ihre Dichtungen (München 1969), Brief vom 27.07.1881
  9. Joachim Bark, Biedermeier-Vormärz/Bürgerlicher Realismus (Stuttgart 1984), S.83.
  10. Ludwig, Romanstudien, S. 562.
  11. Theodor Storm - Paul Heyse, Briefwechsel (Berlin 1969), 1. Bd., S. 21, Brief vom 26.11.1854.
  12. Spielhagen, Beiträge, S. 21
  13. ibidem, S. 206-207.
  14. ibidem, S. 183.
  15. siehe Anm. <sup>1</sup>, S. 13.
  16. Ludwig, Romanstudien, S. 647.
  17. ibidem, S. 533.
  18. ibidem, S. 606-607.
  19. Gustav Freytag, Willibald Alexis. In: Grenzboten (1854).
  20. Spielhagen, Beiträge, S. 73.
  21. George Eliot, Middlemarch (Oxford/New York 1988), S. 116.
  22. Ludwig, Romanstudien, S. 537.
  23. ibidem, S. 550.
  24. ibidem, S. 647.
  25. ibidem, S. 552.
  26. ibidem, Abdruck des Briefes im Nachwort.
  27. ibidem, S. 542.
  28. dito

Schreibanlass:
Universität Stuttgart/Sommersemester 1989
"Bürgerlicher Realismus"
Seminarleiter: Prof. Joachim Bark
© 1989 Günter Bachmann