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Die Schriftstellerei als bürgerliches Handwerk1. EinleitungIn dieser Arbeit beschäftige ich mich mit poetologischen Ansätzen, die im bürgerlichen Realismus formuliert worden sind. Die Basis für meine Überlegungen bilden insbesondere die Romanstudien von Otto Ludwig (1813-1865) und Friedrich Spielnagen (1829-1911). Da ich beide Autoren im Rahmen unseres Seminars näher bearbeitet habe, sollen sie auch mein Ausgangspunkt für weiterführende Untersuchungen sein. 2. Methodisches VorgehenBei der Auseinandersetzung mit der Programmatik des Realismus stieß ich immer wieder auf einen Zusammenhang, den ich in eine begriffliche Kategorie zu übertragen bemüht war: Gemeint ist der im Titel dieser Arbeit schon genannte Begriff vom Handwerk, genauer: bürgerlichen Handwerk. Das Ethos vom soliden und bodenständigen Handwerker sowie das ausgeprägte Mißtrauen gegen die Berufung auf Inspiration und Genie charakterisieren die Berufsauffassung vieler realistischer Autoren. Zumal dem Romanschriftsteller wird nüchterner Tatsachensinn, unermüdliches Sitzfleisch, gründliches Recherchieren, ökonomischer Einsatz künstlerischer Mittel etc. abverlangt. Kontinuierliche Arbeit, Fleiß und Ernsthaftigkeit, die obersten Tugenden aus dem bürgerlichen Moralkodex, werden derart zum Inbegriff auch der künstlerischen Lebenshaltung. lm Zentrum des Interesses steht nicht mehr die Teilhabe des Künstlers an der "Schöpfung" - ein Begriff, dessen romantisches und religiöses Ambiente offenkundig gemieden wird. Der Schriftsteller ist Produzent und Hersteller von Texten und kein Gott imitierendes "Genie". Das Hohelied schweißtreibender Arbeit übertönt den Sphärengesang leichtlebiger Musen. Kunst kommt fortan nur noch vom Können. 3. ObjektivierungIn poetologischen Texten, die eine bestimmte Kunstauffassung formulieren, ist die Relation zwischen Form und Stoff theoretisch vorgegeben. Denn es geht dabei ja gerade um die Machart, um das Herstellen von Kunst. Was in der konkreten Gestaltung und im Endprodukt eine untrennbare Einheit darstellt, wird künstlich getrennt, um abstrakte Grundlagen des Handwerks zu verdeutlichen. (...) und dennoch haben wir die Erkenntnis als einen unbedingten Fortschritt zu begrüßen, daß es zunächst des Stoffes, oder sagen wir lieber des WIRKLICHEN, zu allem künstlerischen Schaffen bedarf. (1) Dieses Zitat aus Fontanes Aufsatz "Unsere lyrische und epische Poesie seit 1848" (1853) belegt, daß nicht die Kopie der Wirklichkeit, sondern der konzentrierte Bezug auf sie als entscheidend erachtet wird. Literatur soll stoffhaltig sein. Das Material des Künstlers sind empirische Daten und Fakten, nicht ideelle Konstruktionen, die aus dem luftleeren Raum heraus literarisiert werden. (...) daß es bei der künstlerisch-poetischen Tätigkeit ebenso zugehen werde, wie bei den übrigen Tätigkeiten auch; daß auch in dieser aus nichts nichts kommen könne; das Objekt dem Subjekt freundlich entgegenkommen müsse, wenn der Kontakt, die Verbindung, Verschmelzung beider möglich werden soll; oder, um den uns geläufigen Ausdruck zu gebrauchen der große Erfinder allemal zuvor ein glücklicher Finder gewesen sein werde. (2) Schon bei der Reflexion der theoretischen Ausgangslage also wird deutlich, daß Literatur als Gestaltung von Wirklichkeit, als bewußte Konstruktion eines Formwillens verstanden wird. Das Zitat von Spielhagen verweist bereits auf ein erkennbares Motiv: Gesucht wird offenbar ein Ausgleich zwischen dem Subjekt und der objektiven Welt, die als problematisch, als ein undurchsichtiges Gegenüber erfahren wird. Diese Kluft kann und soll Literatur schließen. Man will einmal nichts bloß Ersonnenes mehr, es soll eine Erzählung jetzt durchaus einen realistischen und sozial-historischen Grund und Boden haben! (3) Vor diesem kritischen Hintergrund wird häufig die Funktion moderner Prosa theoretisch überdacht. Die radikale Frage wird aufgeworfen, wie Dichtung im Sinne epischer Objektivität überhaupt noch möglich sein soll. Der auf seine subjektive Erfahrung verwiesene Romanschriftsteller einerseits, eine als kulturelle Gesamtstruktur längst nicht mehr erkennbare moderne Welt andererseits sind nicht eben günstige Voraussetzungen für epische Gestaltung im Geiste Homers. Sie (die Verwandtschaft, G.B.) beruht auf der Eigentümlichkeit der epischen Phantasie, den Menschen immer auf dem Hintergrunde der Natur, immer im Zusammenhang mit - in der Abhängigkeit von den Bedingungen der Kultur, d.h. also so zu sehen, wie ihn die moderne Wissenschaft auch sieht. (4) Hier zeigt sich das neue Menschenbild und der Versuch, es episch mittels soziologischer Determinierung in den Griff zu bekommen. Das Ideal exakter naturwissenschaftlicher Forschung, wie es in Physik, Astronomie oder Chemie längst akzeptiert wird, greift nun auch endgültig auf den Menschen und seine Gesellschaft über. Zunehmend wird er als determiniertes Wesen interpretiert, das von biologischen Impulsen nicht minder abhängt als von gesellschaftlichen. Am Menschen interessiert uns mehr das Produkt als seine Produktion; mehr die Breite der Persönlichkeit gilt es zu schildern, als die Tiefe des Charakters, wir haben es mehr mit dem Bürger, dem Anhänger einer Konfession oder Partei, dem Geschäftsmann, dem Stande, der Beschäftigung, den individuellen Gewohnheiten als mit dem Menschen selbst und seinen Leidenschaften, mehr mit dem Sein als mit dem Vermögen desselben zu tun. Mehr die habituellen Züge seiner Beschäftigungen, als seine elementare Richtung kommen in Betracht. Er ist mehr ein Bewegtes als ein Bewegendes; daran das Detail vorherrschend. Mehr was die Gesellschaftsverhältnisse aus ihm gemacht und noch machen, als die Verhältnisse, die er selbst schafft. (5) Der Einzug positivistischer Wissenschaft in die Literatur wurde von den Theoretikern des Realismus erkannt und gefördert. Freilich ist die Sprachregelung noch unsicher. Meist werden die Begriffe "Positivismus" und "Soziologie" gerade dort nicht genannt, wo sie am meisten am Platz sind. 4. RechtfertigungDie rigorose Bindung der gestaltenden Kräfte an konkrete, detailgetreue, "positive" Wirklichkeit ist ein progressives Zugeständnis an die Moderne. Dieser Realitätssinn, der Gegebenheiten anerkennt, enthält aber nicht notwendig den Verzicht auf konservative Positionen. Das Publikum hat eine förmliche Leidenschaft, zu erkunden, was denn eigentlich "an der Geschichte Wahres sei", nicht im ästhetischen, sondern in dem banausischen Sinne der hausbackenen Wahrheit. (6) Der halb ironische, halb verärgerte Kommentar Spielhagens steht für viele andere. Allgemein greift die Tendenz um sich, die Ästhetik auf Gesetze zu reduzieren, deren Ursprung auf wissenschaftlichem Gebiet liegt. Die Aversion Spielhagens gegen diese Reduktion äußert sich in der Unterscheidung zwischen einer "hausbackenen", id est: empirischen Wahrheit und einer "ästhetischen", id est: höheren und poetischen Wahrheit. Das Spiel des Humors mit sich selber gilt ihr (der Zeit, G.B.) nichts. (7) Derart kann es nicht ausbleiben, daß die bewahrende Gesinnung der bürgerlichen Realisten, bei allem Bekenntnis zum Prosaroman und zur Novelle, die kritische Abgrenzung zur eigenen Zeit aufrechterhält. Wenn die Literatur sich ihres Rechtes begibt, die Wirklichkeit nach ästhetischen Gesetzen zu gestalten, läuft sie Gefahr, ihren poetischen Gehalt zu verlieren. Gottfried Kellers zusammenfassendes Urteil in einem Brief an Paul Heyse kann als Paradigma dieser Problematik gelten: Im stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmittelbarkeit der Poesie, d.h. das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das man sich nach meiner Meinung durch keine Kulturwandlungen nehmen lassen soll. (8) Die Legitimationskrise der Literatur nötigt zur Rechtfertigung der Literatur. Die Poesie als traditionelles Kunsthandwerk ist vom Aussterben bedroht wie andere Zünfte auch. Sie legitimiert sich unter diesem Druck als bürgerliches Handwerk. Zwar ist der Tagträumer und Musensohn nicht mehr recht salonfähig. Wohl aber der ehrbar fleißige, mit wissenschaftlicher Akribie arbeitende Romanschriftsteller. Dieser moderne Typus eines Schriftstellers betreibt sein Handwerk grundsolide. Er ist eine bürgerliche Existenz. Und er wahrt gewissenhaft altehrwürdige poetische Rechte. Biographisch aufschlußreich ist auch die Tatsache, daß die meisten Realisten aus einem bürgerlichen Elternhaus stammten, in einer bürgerlichen Familie lebten und einen bürgerlichen Beruf ausübten. Meist handelte es sich dabei um eine Beamtentätigkeit, die das obligatorische Jurastudium voraussetzte. Das bezeichnet eine gedämpfte, zurückhaltende, das Risiko der reinen Schriftstellerexistenz scheuende Haltung. Nur wenige Autoren, wie Wilhelm Raabe, wagten den Sprung in das ungesicherte Poetendasein und wurden professionelle Autoren. Bei aller Nörgelei über die drückenden Amtslasten blieb deshalb Storm und anderen die Erkenntnis erspart, daß professionelle Schriftstellerei leicht zu einer auszehrenden Proletarierexistenz führt: Er (Raabe, G.B.) konnte als einer der wenigen freien Autoren von seinen Werken leben, weil er sich unter einen rigorosen, der Fabrikarbeit vergleichbaren Tageslauf stellte. Ständig unterbrach er sein Arbeiten an Romanen, um kleine, rasch Geld bringende Erzählungen für Familienzeitschriften zu produzieren. Er achtete darauf, immer etwas Druckbares bereitzuhalten, und er lernte, die Verleger gegeneinander auszuspielen. Er war sich seiner Marktabhängigkeit wie seines Marktwerts bewusst. (9) Eine bürgerlich gesicherte Existenz hingegen betreibt die Schriftstellerei nicht als industrielles Handwerk. Obschon auch ein Storm eifrig bemüht war, seine Produkte an den Mann zu bringen, besteht durch die feste Bindung an Beruf und Familie eine fühlbare Distanz zum reinen Künstlertum. Der bürgerliche Realist steht mitten im Leben. Der poetische Sonderling scheint ihm - ungleich Raabe - kein attraktiver Stoff zu sein; so wenig als formale Experimentierfreude. Das Drama soll geben, wie der Mensch denkt und handelt, nicht als Bürger einer gewissen Zeit, sondern eben als Mensch; darum soll sein Stoff nicht Zeitsitte, Denkart einer Zeit, sondern Leidenschaft und Natur des Menschen sein. Selbst in der Historie soll es ewig gültige Typen geben, wie z.B. Richard III. (10) Genau in Abgrenzung zu dieser Konzeption des Dramas entwickelt Ludwig seinen Begriff vom Roman. Seit ich ihre freundliche Sendung erhalten habe, war ich nur leider so des Teufels vor unseliger dramatischer Handwerkerei, daß ich mit niemand reden mochte, den ich im Abrahamsschoß der alleinseligmachenden Lyrik wohl aufgehoben sah. (11) Diese Fluchtbewegung in andere Gattungen darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die realistische Poetologie sehr wohl die Bedeutung und Berechtigung des Romans erkannt hat und ästhetische Ansprüche damit verbindet. Der springende Punkt dabei ist die theoretische Begründung jener höheren und ästhetischen Wirklichkeit, die Spielhagen so dezidiert von der "hausbackenen" und empirischen Wahrheit unterscheidet. (...) er muß doch jedesmal anders mit dem Gegner ringen, und ein Etwas von der Natur der Wesen annehmen, in die er sich verwandelt. (12) Dieser objektive Verwandlungsprozeß vollzieht sich auch an einem Autor, der die Ich-Form wählt und seinen Stoff aus der eigenen Biographie gewinnt. Ja das Wesen des Autors finden wir im Kunstwerk sogar deutlicher offenbart als in seinem historisch konkreten Lebenslauf, der von den Schlacken der Prosa nicht ästhetisch gereinigt ist: Ist doch die Poesie überall darauf angewiesen, ja muß man es als ihre ganz eigentümliche Aufgabe bezeichnen, daß sie aus den gegebenen Verhältnissen die idealen Konsequenzen zieht, welche das mit unzähligen gleichzeitigen Verpflichtungen überbürdete Leben nicht ziehen kann. (13) Der poetische Gehalt, die Legitimation und Rechtfertigung der Poesie geht also auch direkt in den realistischen Roman ein. Die Crux besteht nur darin, daß die epische Objektivierung den Autor vor große Probleme stellt. Doch generell spricht die Poetologie des Realismus dem Kunstwerk eine autonome und ästhetische Seinsweise zu, die höherwertiger ist als der Zufall und das Chaos der bloßen Tatsachenexistenz. Spielhagen bemerkt hierzu schmunzelnd: Und zwar besteht das Wunder darin, daß ihm (dem Romanhelden, G.B.) ausnahmslos das Rechte am rechten Orte und zur rechten Zeit begegnet. (14) Die ästhetische Wirklichkeit als wesentliche Wirklichkeit - diese Position läßt sich bis auf die Poetik des Aristoteles zurückführen. Die betont objektivierende Gestaltung im realistischen Roman geht freilich über Aristoteles hinaus, der mit dem Hinweis auf Wahrscheinlichkeit und Notwendigkeit sich begnügt hatte. Der "Realist" verzichtet nicht auf die gestaltete und ästhetische, d.h. also bewußt konstruierte Wirklichkeit. Sein Ideal jedoch ist das vollständige und totale Aufgehen der Konstruktion in der empirischen Wirklichkeit. Poetische Konventionsgefühle, "die Lüge, das Forcierte, das Nebelhafte, das Abgestorbene" (15) sollen bekämpft werden. Die absolute Kunstleistung wäre eine Konstruktion, die als Wirklichkeit und eine Wirklichkeit, die als Konstruktion überzeugt - vereinigt in einem Kunstwerk: Es wäre allerdings eine schwere, aber gewiß lohnende Aufgabe, einen Roman zu schreiben, der überall sich vom Schlendrian der Erfindung und Technik frei machte und doch die wesentlichen Gesetze derselben nicht verletzte. Einen Roman, dessen Absicht scheinen könnte , der Kunst in das Gesicht zu schlagen, während er nur um so genauer mit ihrem wesentlichem Gesetz in Übereinstimmung wäre. (16) Die Schriftstellerei als bürgerliches Handwerk steht für eine traditionelle Poetik, die einerseits vehement die Eigengesetzlichkeit der Ästhetik rechtfertigt und, andererseits, die totale Objektivation mit positivistischer Detailtreue anstrebt. In dieser Apologie der Kunst, die zugleich von der Wirklichkeit vollständig durchdrungen sein soll, manifestiert sich eine bewahrende Gesinnung, die das alte Kunsthandwerk als bürgerliches Handwerk zu retten sucht: Das Tun des Romanschreibers erinnert an die ruhige Art, mit der man Arbeiter vom Fache arbeiten sieht, die sich nie übernehmen und vor Ungeduld, das Ganze fertig zu sehen, das Einzelne überhasten. (...) Diese Kaltblütigkeit, dieses Unterordnen und Auseinanderhalten, diese vorsichtige, umsichtige Ruhe, diese Totalität, mit der er bei jedem Moment und dem, was eben nötig, mit ganzer Seele ist, diese Ausdauer, die nichts durch Übereilen verderben will und jedem Anspruch genügt, dies ruhige Abwarten, das dem Engländer eigen, macht ihn zum großen Romanschreiber wie zum großen Staatsmann. (17) Und natürlich zeichnet sich das Ambiente des bürgerlichen Autors durch den ernsthaften Fleiß aus, der das Pendant zur kaltblütigen Bedachtsamkeit seiner Arbeitsweise bildet: Der Künstler darf keine Flauheit in sich aufkommen lassen; immer wachsam und alles zu ergreifen und energisch zu ergreifen bereit sein, was der Moment fordert und gibt. (18) Mit dieser Maxime trieb sich Otto Ludwig in seinem Tagebuch zur "Arbeit" an. 5. Das bürgerliche WeltbildDas bürgerliche Weltbild schafft die Grundlagen für realistische Programmatik. Es wird vor allem dann greifbar, wenn in poetologischen Texten konkrete Aussagen zur Struktur des Gesamtwerks gemacht werden. Die ästhetische Freiheit, eine autonomen Gesetzen folgende Wirklichkeit aufzubauen, wird nicht nur durch die Forderung nach möglichst totaler Durchdringung der ideellen Konstruktion mit empirischem Material eingeschränkt. Die Anordnung des Stoffes, das Arrangement der empirischen Daten im Werk selber soll einheitlich sein. Einheitlich bezüglich der Zeit und des Raumes. Die Momente der Handlung sollen kausal und übersichtlich auseinander hervorgehen: Dadurch entsteht dem Leser das behagliche Gefühl der Sicherheit und Freiheit, er wird in eine kleine freie Welt versetzt, in welcher er den vernünftigen Zusammenhang der Ereignisse vollständig übersieht, an welchem sein Gefühl für Recht und Unrecht nicht verletzt, er zum Vertrauten starker idealer Empfindungen gemacht wird. (19) So äußert sich Gustav Freytag. Derartige Regieanweisungen für das Gesamtarrangement des Romans treten häufig auf . Die oberste Maxime für die Schriftstellerei als bürgerliches Handwerk fordert Behaglichkeit und poetische Gerechtigkeit. Aus der Autonomie ästhetischer Gestaltung wird die Forderung abgeleitet, eine einheitliche, überschaubare, kausal nachvollziehbare Handlung zu schaffen. Wenn wir es überhaupt als die Aufgabe des Romandichters bezeichnen können, das Leben so zu schildern, daß es uns als ein Kosmos erscheint, der nach gewissen großen ewigen Gesetzen in sich und auf sich selbst ruht und sich selbst verbürgt, so muß er, mit einer unwiderstehlichen logischen und ästhetischen Notwendigkeit, aus diesen vielen Menschen einen aussondern, der gleichsam als der Repräsentant der ganzen Menschheit dasteht (...). (20) Diese klassische These des Bildungsromans verbürgt noch einen Helden, der tatsächlich genügend Integrationskraft besitzt, um die Einheit der Handlung zu gewährleisten. Für George Eliot allerdings hat diese Prämisse keinen Bestand mehr: I at least have so much to do in unravelling certain human lots, and seeing how they were woven and interwoven, that all the light I can command must be concentrated on this particular web, and not dispersed over that tempting range called the universe. (21) Das unbewegliche Festhalten an der traditionellen Romanform bleibt ein wesentliches Merkmal von Spielhagen, Freytag, Ludwig und anderen. Zwar wird der industrialisierten Welt mit moderner Prosa sowie der wissenschaftlichen Erweiterung und Innovation der handwerklichen Grundlagen durchaus Rechnung getragen. Aber die konkrete Arbeit selber soll nach wie vor Gott und das Bürgertum "behaglich" erhöhen: So ist denn am Ende der Leser mit keiner Person so sehr zufrieden, als mit dem lieben Gott, und es ist wiederum recht von dem Romanschreiber, der doch eigentlich dieser sein lieber Gott selbst ist, daß er den Leser mit dieser Empfindung entlässt. Ästhetisch und moralisch gerechtfertigt. (22) Mehr das Gemüt als die Phantasie beschäftigt und durchaus nicht jenes Behagen vergessen. (23) Immer die alte Geschichte das Gute belohnt, das Böse bestraft, aber auf möglichst neuem Wege. (24) Diese kleine Kollektion von Arbeitsmaximen findet sich bei Otto Ludwig. Die Liste ließe sich beträchtlich verlängern, die Zahl der Autoren spielend erhöhen. Heftige Kritik an der Gegenwart ist allenfalls begleitet von der für das Bürgertum symptomatischen Flucht in die gute alte, d.h. klassische Zeit: Das Raffinement, das entsetzlich Outrierte, Gequälte, dieser nüchterne Rausch, diese Formlosigkeit von Inhalt und Inhaltslosigkeit von Form, all das, was die Poesie unserer Zeit bezeichnet, treibt mit Gewalt zurück zu Shakespeare, Plautus, Homer, der Bibel, zum Volksliede, zu vielem in Goethe und Lessing, Luther nicht zu vergessen und Schillers Lied von der Glocke. (25) Wie sehr die Direktive des bürgerlichen Handwerks, behaglich nur Behagliches zu produzieren, auch stofflich begrenzt, verdeutlicht eindrucksvoll ein Brief Ludwigs an seinen Kollegen Auerbach vom 14.04.1861: Meine Isolierung schließt allen Zufluß von realistischen Motiven ab; ich bin lächerlich fremd in der Welt geworden, und namentlich fehlt es mir überall am Modell des Gehabens der Stände, ihrer Sprache, Gewohnheit, Sitten, Moden. Ich muß mir das alles selbst zubereiten, soweit es möglich ist; das führt mich dahin, ein eigentlich dramatisches Element, die psychologische Entwicklung der Charaktere, und zwar psychologischer Typen in die erzählende Gattung einzuschwärzen. Das geht nicht ohne Verletzung der Kunstform. (26) Nur der Verlust empirischen Materials wird beklagt. Das Subjekt, die Phantasie, der Weg nach innen wird als stoffliche Chance nicht wahrgenommen. Die Isolation des Dichters hat für Ludwig durchaus etwas Provinzielles. Hier gibt es keine tragischen Anklagen des einsam leidenden Genies. Aber auch keine utopischen Gegenpositionen zu den bestehenden Verhältnissen. Es herrscht die Friedhufsruhe gescheiterter Revolutionen (1830 und 1848). Der bürgerliche Realismus erlaubt sich gerade noch das stilisierte, behagliche und unaufgeregte Idyll, für das der Adressat des Briefes - Berthold Auerbach - mit seinen "Dorfgeschichten" (1843ff.) exemplarisch zu nennen wäre. Er (Dickens, G.B.) zeigt das Unrecht eines Gesetzes, das Verkehrte eines Brauches usw. praktisch, indem er ein Beispiel von den übeln Wirkungen derselben gibt. Nun sind aber die Figuren absichtlich darauf eingerichtet, daß solche Wirkungen an ihnen und durch sie entstehen; sie sind mehrenteils Ausnahmen, die nichts beweisen gegen die Regel, aus der das Gesetz oder der Brauch entstanden. (27) Man sieht: das ästhetische Arrangement ("absichtlich darauf eingerichtet") wird sogleich als verwerflich empfunden, wenn ein Autor die moralische Fragwürdigkeit bürgerlicher Werte und Einrichtungen demonstriert. Überdies kann die "praktische" Darstellung sozialer Übel am konkreten Einzelfall kein ästhetisches Gegenargument sein. Alle Fälle des Lebens sind konkrete, und zumal die Literatur ist an die Schöpfung sinnlich konkreter Einzelfiguren gebunden. Die "Beweiskraft" dieser Beispiele ist bei Dickens um so gewichtiger, als selbst Ludwig ihn anderswo als "großen Epiker" anerkennt. Auch ist logisch überhaupt nicht einzusehen, weshalb die Ausnahme die Regel bestätigen soll. Sie widerlegt sie. Was Ludwig eben nicht schlucken will, ist die groteske Komik einer sinnlich beeindruckend greifbar werdenden Sozialkritik in der Romanwelt Dickens: Satire verboten! - Denn: (...) wir werden vom Boden der Poesie auf einen anderen gestellt (...) und wir verlieren die Behaglichkeit. (28) 6. EpilogDie Kategorie des bürgerlichen Handwerks als grundlegende Konzeption realistischer Schriftstellerei bringt zusammenfassend folgende Ergebnisse:<br/> 7. Anmerkungen
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