Platons Höhlengleichnis

Bekanntlich misstraut Platon den schöpferischen
Anwandlungen poetischer Inspiration. Für ihn sind Dichter von
der Muße geküsste Phantasten – oder Lügner.
In jedem Fall aber unwissend. Denn ihre Redeweise ist
unphilosophisch und weit von den Erfordernissen exakter
theoretischer Einsicht entfernt. Doch ausgerechnet Platons
Schriften selbst widerlegen seine rigorose Trennung von Philosophie
und Dichtung. Sie enthalten Gleichnisse von außerordentlich
intensiver Bildkraft. Die Frage drängt sich auf, ob diese
poetischen Textstellen wirklich nur die sinnliche Demonstration
einer übergeordneten Theorie sind. Ebenso überzeugend
könnte die Theorie als ein bloßes Gleichnis des
Gleichnisses gelesen werden. Konstruktive Phantasie und
theoretischer Verstand lassen sich nicht wirklich trennen. Und es
wird höchste Zeit, mit einem besonders in Deutschland weit
verbreiteten Vorurteil Schluss zu machen: Ein Denker ist mehr als
ein rationaler Kritiker, ein Dichter mehr als ein unbewusst
stammelnder Schlafwandler.
Das Höhlengleichnis findet sich zu Beginn des 7. Buches der
Politeia (514af.). Bereits der einleitende Satz gibt die
methodische Fragestellung des Gleichnisses an: Wie verhält
sich unsere Natur in Bezug auf Bildung und Unbildung? Das Gleichnis
erfüllt somit einen streng programmatischen, d.h. einen
theoretischen und philosophischen Zweck. Es ist fest in den Gang
der Beweisführung integriert. Und es hat dennoch eine
selbständige poetische Qualität, die längst in die
traditionellen Mythen über den Ursprung menschlicher
Erkenntnis eingegangen ist:

Sieh nämlich Menschen wie in einer unterirdischen,
höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht
geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In
dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkeln,
so dass sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin
sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht
vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches
von oben und von ferne her hinter ihnen brennt. Zwischen dem Feuer
und den Gefangenen geht obenher ein Weg, längs diesem sieh
eine Mauer aufgeführt wie die Schranken, welche die Gaukler
vor den Zuschauern sich erbauen, über welche herüber sie
ihre Kunststücke zeigen. (514a-c)

Platon beschwört ein konkretes Bild, das den Zustand des
ungebildeten Menschen beschreibt. Es ist zunächst nicht mehr
als eine statische Zeichnung, in der sich die gleichnishafte Rede
noch entwickeln und vollziehen wird. Glaukon, der
Gesprächspartner des Sokrates, kommentiert trocken: „Ich
sehe.“ (514c) Genau darauf kommt es vorerst an.
Im Folgenden aber kommt Bewegung in das so sorgfältig
etablierte Bild:

Sieh nun längs dieser Mauer Menschen allerlei Geräte
tragen, die über die Mauer herüberragen, und
Bildsäulen und andere steinerne und hölzerne Bilder und
von allerlei Arbeit; einige, wie natürlich, reden dabei,
andere schweigen. (514c-515a)

Zustand und Dynamik des Gleichnisses sind jetzt gegeben. Prompt
lässt sich auch Glaukos vernehmen, dass dies doch ein
„wunderliches Bild“ sei und „wunderliche
Gefangene“. Worauf Sokrates unverzüglich mit der
philosophischen Auswertung beginnt: „Uns ganz
ähnliche.“ Nur Schatten liegen im Blickfeld der
gefesselten Menschen, die sie notwendig für wirkliche Dinge
halten. Sie benennen die bloßen Reflexe der Gegenstände
mit Namen. Hall und Schall, das Echo nur, interpretieren sie als
originale Stimmen der beweglichen Abbilder. (515a-c)
Unmittelbar darauf (515cf.) führt Sokrates ein dramatisches
Element in das Gleichnis ein. Das Ungeheuerliche geschieht: Ein
Gefangener wird gezwungen, in das Feuer und die wirklichen Dinge zu
sehen. Er ist geblendet. Seine erste Reaktion besteht darin, sich
wieder den Schatten zuzuwenden, die er immer noch für die
eigentliche Wirklichkeit hält. Die Situation spitzt sich zu,
als er mit Gewalt zum Ausgang der Höhle geführt wird.
Mitten im Sonnenlicht wird der Grad der Blendung unerträglich.
Der Drang des Gefangenen, zurück ins Schattenreich zu fliehen,
scheint unüberwindbar. Nur lange Gewöhnung setzt ihn in
den Stand, nach und nach die wirklichen Dinge zu schauen; zum
Schluss gar die Sonne selbst, die er als oberstes Ordnungsprinzip
der sichtbaren Welt erkennt. (516c) Es ist also ein
erzählerisches Moment, die Geschichte einer Befreiung, die den
Gegensatz zwischen Unbildung und Bildung gleichnishaft
verdeutlichen soll. Wohlgemerkt: eine erzwungene Befreiung, die
erst nach langer Gewöhnung als solche erkannt wird.
Doch das Geschehen ist damit noch nicht abgeschlossen. Denn nach
der Gewöhnung an das wahre Licht der Erkenntnis denkt der
befreite Gefangene über seine ehemaligen Genossen in der
Höhle nach. (516cf.) Er, der die Sonne erblickt hat, kann sie
nur noch bedauern. Ihre Wertungen und Urteile, die nur auf Schatten
bezogen sind, werden ihm gleichgültig. Unter keinen
Umständen will er an diesen Ort zurückkehren. Lässt
er sich trotzdem darauf ein, so wird er erneut geblendet: Das
Dunkle lässt jetzt seine an das Licht gewöhnten Augen
genauso flirren wie vormals die Sonne. In keiner Weise kann er in
der Beurteilung der Schattenbilder mit den Höhleninsassen
wetteifern. Er erntet nur Spott und Verachtung. Sein Ausflug an das
Licht wird als verderbliche Verirrung interpretiert. – Indem
also Platon den Aufstieg zur Erkenntnis in das Gegenteil verkehrt,
die Bewegung zum Licht wieder in die Finsternis zurücknimmt,
zeichnet er das Psychogramm des philosophischen Menschen, der unter
den eingebildeten Ungebildeten ausharren muss.
Damit ist das Gleichnis vollständig exponiert. Der Dialog des
Sokrates mit Glaukon entwickelt sich wieder lebhafter. Die
bildhaften Elemente weichen dem Anliegen der philosophischen
Begriffsbildung (517bf.): Die „Wohnung im
Gefängnisse“ gleiche unserer Sinneswahrnehmung. Das
Hinaufsteigen und die Schau der oberen Dinge entspreche dem
„Aufschwung der Seele in die Region der Erkenntnis.“
So,

...dass zuletzt unter allem Erkennbaren und nur mit Mühe
die Idee des Guten erblickt wird, wenn man sie aber erblickt hat,
sie auch gleich dafür anerkannt wird, dass sie für alle
die Ursache des Richtigen und Schönen ist, im Sichtbaren das
Licht und die Sonne, von der dieses abhängt, erzeugend, im
Erkennbaren aber sie allein als Herrscherin Wahrheit und Vernunft
hervorbringend, und dass also diese sehen muss, wer vernünftig
handeln will, es sei nun in eigenen oder öffentlichen
Angelegenheiten. (517c)

Die Ideen sind für Platon der Ausdruck eigentlicher
Wirklichkeit. Eine in seinen Dialogen formelhaft wiederkehrende
Redewendung lautet: „Zu erkennen, was ist“. Dieses
Seiende ist ewig. Es entsteht nicht. Es vergeht nicht. Das Werdende
ist niemals das Seiende, das Seiende niemals das Werdende.
Erkenntnis im Sinne Platons ist deshalb kein ausschließlich
rationaler Prozess. Sie ist nur möglich, indem sie

...vermöge der langen Beschäftigung mit dem
Gegenstande und dem Sichhineinleben, wie ein durch einen
abspringenden Feuerfunken plötzlich entzündetes Licht in
der Seele sich erzeugt und dann durch sich selbst Nahrung
erhält. (Siebter Brief, 341c-e)

Der Gegenpol zur philosophischen Einsicht ist das sture
Haftenbleiben an den Einzelerscheinungen, am Werdenden also, das
auch wieder das Vergängliche ist. Es verhält sich zur
Idee wie der Schatten zum Ding, das unvollkommene Abbild zur
Wirklichkeit. Somit schildert das Höhlengleichnis präzise
die Wahrnehmungsweise und Erkenntnis des gewöhnlichen
Bewusstseins. Die philosophische Erkenntnis dagegen gleicht dem Akt
einer Befreiung, der sich der eigentlichen Wirklichkeit zuwendet
– zugleich aber von der gewöhnlichen Wirklichkeit
entfremdet.
Was wir in Zeit und Raum, in Ursache und Wirkung als Einzelnes
wahrnehmen, partizipiert zwar an den Ideen (methexis)
– so wie umgekehrt auch die Ideen in den Erscheinungen der
Sinne anwesend sind (parusia). Aber der Mensch bewegt sich
nur mühsam zwischen diesen beiden Polen. Er bleibt
gewöhnlich in der bloßen Sinnlichkeit stecken. Nur wer
den philosophischen Drang (eros) in sich spürt,
fühlt sich von den Ideen angezogen. Nur das ihnen selbst schon
Entsprechende vermag sie zu erkennen.
Das heißt konkret: Platon ist ein Aristokrat des Geistes.
Für platonische Pädagogik müssen Begabung und
Neigung a priori vorhanden sein, wenn aus dem Zögling etwas
werden soll. Den herkömmlichen Ansatz der Erzieher, die den
Schüler als formbares Material interpretieren, lehnt er
ab:

Nämlich sie behaupten, wenn keine Erkenntnis in der Seele
sei, könnten sie sie ihr einsetzen, wie wenn sie blinden Augen
ein Gesicht einsetzten. (518c)

Das Talent selbst lässt sich aber nicht erlernen. Hierin
gleicht Platon unverkennbar anderen Erziehern des
Menschengeschlechts; in Deutschland beispielsweise Goethe,
Schopenhauer, Nietzsche oder Thomas Mann. Genau wie diese geht
Platon äußerst streng gerade mit den Auserwählten
um: Begabung erscheint eher als Fluch denn als leichte
Erfüllung. Sie schließt das unablässige Streben
nach Vollkommenheit in sich. Das Höhlengleichnis betont das
unerträglich grelle Licht der Erkenntnis, das der
"Gewöhnung“ bedarf. Der 7.Brief hebt die
„lange Beschäftigung mit dem Gegenstand“ und das
„Sichhineinleben“ hervor. Zudem vollzieht sich die
Annäherung an die Erkenntnis bei Platon stets in mehreren
Stufen, die der Schüler zu durchlaufen hat. Besonders
erkenntnistheoretische Abhandlungen wie Theaitetos, aber
auch die berühmte Rede Diotimas über den philosophischen
Eros im Symposion zeigen das deutlich. In Summa: Der
geistige Aristokratismus schafft die Pädagogik nicht ab. Er
entwickelt sie traditionell zur stufen- und dornenreichen
Ausbildung. Noblesse oblige.
Die höchste Idee, die Idee des Guten, besitzt für Platon
auch den vollkommensten Seinsgehalt. Alle anderen Ideen hängen
von ihr ab. Die Idee des Guten ist deshalb der Inbegriff dessen,
„was ist“. In einer beispiellosen philosophischen
Ämteransammlung in einer Hand ist sie nicht nur Ziel
der Erkenntnis, sondern zugleich auch höchstes ethisches
Prinzip. Ethik steht bei Platon in direkt proportionalem
Verhältnis zu Sein und Wirklichkeit. Philosophie und
Lebenspraxis sind ein und dasselbe - eine für moderne Menschen
ungeheuerliche Zumutung. Wir treiben also, wenn wir Platon lesen,
immer schon Pädagogik. Zumindest an uns selbst. Vielleicht
erklärt dies auch die Reaktion des Alkibiades auf den
(platonischen) Sokrates im Symposion: Immer fühle er in
dessen Gegenwart den unüberwindbaren Drang zur Rechtfertigung
seiner selbst. Dieses Gefühl gehe mitunter bis zur Scham, was
er, ein wenig zimperlicher Kriegsmensch, gar nicht begreifen
könne. Doch die ethischen Anforderungen Platons verlangen ja
auch eine kompromisslose Kehrtwende von 180 Grad: Das „in
Wahrheit in barbarischem Schlamm vergrabene Auge der Seele“
(533d) müsse wieder aufwärts geführt werden. Das
entspricht der ersten im Höhlengleichnis dargestellten
Bewegung zum Licht hin, jenem Aufschwung der Seele in die Region
der Erkenntnis, die zugleich auch eine ethische Selbstbesinnung
ist. Oberstes pädagogisches Prinzip kann nur die „Kunst
der Umlenkung“ eines prinzipiell schon sehbegabten Blickes
sein. Weg vom Schein. Hin zum Sein, zur Idee des Guten. Erkenntnis
setzt also nicht nur rationale Disziplin, sondern auch seelische
Stärke und Willenskraft voraus.
Die „Kunst der Umlenkung der Seele“ bedeutet damit vor
allem die Abwendung von Lust und Reiz der Sinnlichkeit. Das ist die
praktische Konsequenz platonischer Erkenntnis. Das Werdende und
Zeitliche, so Platon, hänge sich „wie Bleikugeln an die
Gaumenlust und andere Lüste und Weichlichkeiten“ und es
wende „das Gesicht der Seele nach unten“ (519b). Diese
Rebellion gegen die Sinne ist allerdings nicht gleichzusetzen mit
der feindseligen Zerknirschung eines reuigen Sünders. Das
höchste Glück, die Idee des Guten, bleibt das Ziel. Die
Abkehr von den Sinnen bedeutet die Hingabe gerade an das Sein. Sie
symbolisiert nicht nur Verzicht, sondern Sehnsucht. Nicht
zufällig auch nennt Platon den Drang zur Philosophie Eros.
Dieser Drang vollzieht sich stufenweise, zunächst an der
sinnlichen Schönheit auch des Körpers. - Die heute
sprichwörtliche „platonische Beziehung“ ist eine
christliche Verwässerung des Originals: Im Symposion
wird deutlich, dass die sinnliche Liebe die geistige nur nicht
überwiegen solle. Und die Erörterung bezieht sich,
nebenbei bemerkt, auf homoerotische Verhältnisse. –
Nicht vorschnell also ist eine Identität des antiken
Glückssuchers mit sinnenfeindlichen Asketen zu konstruieren.
Platon bejaht die Welt nur deshalb nicht, weil sie ein unwahres
Scheingebilde darstellt. Das Sein selbst aber bejaht er, zu ihm
strebt er hin. Der Asket hingegen zielt auf die Abtötung des
Willens und Strebens überhaupt. Er kennt keine sinnlichen
Stufen, die zum Geistigen führen. Er kennt nur den
übergangslosen Sprung in die göttliche Vereinigung, die
ihn vom Sinnlichen mit einem scharfen chirurgischen Schnitt
endgültig erlösen soll. Das sollte man, bei aller
Verwandtschaft Platons zu Stoizismus und Christentum, nicht ganz
vergessen.
Warum aber ist die Bewegung zum Licht, die Umlenkung der Seele
nicht nur für die Erkenntnis, sondern auch für die Ethik
so entscheidend? Die Seele besitzt nach Platon Energie. Große
Seelen haben große Energie. Es ist diese Kraft, die den
Menschen zur Idee des Guten führen kann – oder ihn dazu
bringt, sich an zeitliche und verderbliche Zielsetzungen zu halten.
Der Verbrecher wie der Heilige können in ihrer Veranlagung ein
und dieselbe Person sein:

Oder meinst du, die großen Verbrechen und die reine
Schlechtigkeit komme aus einer gemeinen und nicht vielmehr aus
einer reich ausgestatteten, aber durch Erziehung verdorbenen Natur,
indem ja eine schwache Natur nie Großes weder im Guten noch
im Bösen hervorbringen kann? (491f.)

Alles entscheidend ist deshalb die pädagogische Tendenz,
die der Seele durch Gewohnheit und Disziplin vermittelt wird.
Erziehung determiniert die Richtung, die unsere Seele
einschlägt. Und diese Determination wäre nur durch einen
Gnadenerlass der Götter selbst aufhebbar. Die Kunst der
Umlenkung soll, wie im Höhlengleichnis beschrieben, zum Licht
der Erkenntnis führen. Aber der Weg zum Licht ist dort keine
Einbahnstraße. Der Befreite muss in die Höhle
zurückkehren.
Die Umkehrung dieser Bewegung vom Licht in das Dunkle löst,
wie oben skizziert, eine negative Blendung durch die Finsternis
aus. Die Rezeption des Höhlengleichnisses sieht darin
gewöhnlich die Weltfremdheit des Philosophen symbolisiert. Und
auch Platon verkannte diese Möglichkeit nicht. Gerade seinem
Verständnis nach waren die Philosophen ja zur praktischen
Leitung des Staates bestimmt. Der Gang zum Licht ist zwar
unerlässlich für sie, um ein Urbild und einen
einheitlichen Zweck in der Seele zu entwickeln. Ohne die Idee des
Guten herrscht nur Chaos und Willkür. Doch aus der notwendigen
Weltfremdheit des Philosophen resultiert die Verpflichtung, sich
erneut, in einem durch das Licht geläuterten Zustand, in die
Höhle zu begeben:

Ihr müsst also nun wieder herabsteigen, jeder in seiner
Ordnung, zu der Wohnung der übrigen und euch mit ihnen
gewöhnen, das Dunkle zu schauen. Denn gewöhnt ihr euch
hinein: so werdet ihr tausendmal besser als die dortigen sehen und
jedes Schattenbild erkennen, was es ist und wovon, weil ihr das
Schöne, Gute und Gerechte selbst in der Wahrheit gesehen habt.
(520cf.)

Es gibt also nicht nur die Gewöhnung an das Licht, sondern
auch die nicht minder disziplinierte, nicht minder
pädagogische Gewöhnung an die Dunkelheit. Wer das Licht
einmal gesehen hat, sieht künftig auch im Dunkeln besser. Die
Weltfremdheit ist bei Platon nur eine Übergangserscheinung.
Keinesfalls wird sie zur permanenten Eigenschaft des Philosophen
verabsolutiert. Diese Deutung entstammt bereits einem
postplatonischen Zeitalter und spiegelt den schon postantiken
Verzicht der Philosophie auf weltliche Regentschaft. Dieser schlaff
resignierende Geist hat rein gar nichts mit Platon zu
schaffen.
Platons Philosophie ist aber keineswegs machthungrig. Im Gegenteil
wollen die Philosophen alles andere, als in die Höhle
zurückkehren, nachdem sie sich an das Licht gewöhnt
haben. Es ist eine lästige Pflicht. Und Platon ermahnt seine
Zeitgenossen nachdrücklich:

Der Staat, in welchem die zur Regierung Berufenen am wenigsten
Lust haben zu regieren, wird notwendig am besten und ruhigsten
verwaltet werden, der aber entgegengesetzte Regenten bekommen hat,
auch entgegengesetzt. (520d)

Für Platon sind die Höhlenbewohner mit ihren
„Schattengefechten“, aber auch die selig im Gefilde der
Ideen verweilenden Philosophen untaugliche Regenten. –
Dennoch hat man nicht zu Unrecht im Prinzip der negativen Blendung
immer wieder die spezielle Seinsweise des Philosophen erkennen
wollen. Ideal und Wirklichkeit, Poesie und Prosa werden in der
Klassik und Romantik Schlagwörter für die Diskrepanz des
philosophischen Geistes inmitten einer bürgerlichen
Erwerbswirklichkeit. Platon überbietend, setzten die
frühen Romantiker einen utopischen Geist frei, der die
prosaische Wirklichkeit in eine Universalpoesie transformieren
sollte. Die Biographie Goethes mit ihrem harmonischen Wechsel
zwischen politischer Praxis und dem Ewigkeitsanspruch
formvollendeter Dichtung steht der Welt Platons noch am
nächsten. Aber die stolpernden, aneckenden, nirgendwo
hinpassenden Figuren eines E.T.A. Hoffmann verdeutlichen
literarisch vielleicht am besten das Prinzip der negativen Blendung
durch prosaische Dunkelheit. In dieser findet sich ein poetisches
Gemüt nicht mehr zurecht. Ob ein Mensch, der das Licht gesehen
hat, mit den Prosaikern in der Erkenntnis des Dunklen wetteifern
kann, scheint angesichts der realen geschichtlichen Entwicklung
mehr als fraglich.

© 2002 Günter Bachmann

Quelle: Platon, Sämtliche Werke, Hamburg 1958.