Folgender Text ist ein Auszug aus:

Günter Bachmann
Literatur und Management
Kulturelle Dimensionen der Emotionalen Intelligenz
Artislife Press Hamburg 2005. ISBN 3-938378-05-0

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Von General Electric lernen - Fragen an das deutsche Management

Den Vereinigten Staaten

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser

Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
(Goethe)

Individualismus

Schon ein Blick in die berühmteste Passage der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1776 kann uns darüber belehren, wie sehr sich die US-Kultur von der Europas unterscheidet: "Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, dass alle Menschen von ihrem Schöpfer gewisse unveräußerliche Rechte erhalten haben; zu diesen gehören Leben, Freiheit und das Streben nach Glück." (Zitiert nach Mann/Götz (2002), S. 5) Jedes Individuum ist seines Glückes Schmied, jedes Individuum ist als solches unantastbar und frei. Diese individualistische, regelfeindliche, aus der Revolte gegen den alten Kontinent geborene Einwanderer-Kultur setzt auf Fairness und Gerechtigkeit. Chancengleichheit ("Equal Opportunity") und selbstbewusstes Eigeninteresse führen in den USA zwangsläufig zu einem positiven Verständnis von Leistung, Wettbewerb und Erfolg. In dieser Kultur gibt es, im Handel so gut wie im Geistigen, ein freies dynamisches Spiel genau jener Kräfte, aus denen die Moderne hervorgegangen ist: Freiheit, Demokratie, Selbstverwirklichung, der Glaube an die technologische und politische Machbarkeit der eigenen Zukunft, die Wissenschaft, die Aufklärung.
Zur gleichen Zeit sind die USA beneidenswert unbeschwert. Im kollektiven Bewusstsein fehlt der zähe historische Bodensatz, der die Früchte der Emanzipation erst hervorgetrieben hat: Vor allem das europäische Wissen um den langsamen Verfall traditioneller Lebenswelten. Betrachten Sie als Beispiel nur einmal die katastrophalen Angriffe auf das Christentum; sei es durch die neuzeitliche Wissenschaft, durch Industrialisierung und Demokratisierung, bis hin zur gelehrten Bibelkritik, der Evolutionstheorie oder der Psychoanalyse. Ergänzen Sie noch im Vorfeld die Erschütterungen durch Reformation und blutige Glaubenskriege. Dann haben Sie eine repräsentative Momentaufnahme jenes Langstreckenlaufs, den ein europäisches Gedächtnis zu absolvieren hat. Das positive und befreiende Moment der Moderne erfreut sich in den USA nur deshalb einer so ungebrochenen Leichtigkeit des Seins, weil die "Neue Welt" die Kosten des Modernisierungsprozesses wortwörtlich nicht im Gedächtnis hat.
Doch würde man sich sehr täuschen, wenn man den entfesselten Egoismus des Einzelinteresses und der freien Marktwirtschaft einzig den USA anlasten wollte. Das europäische Bürgertum ist ja selbst der Erfinder des Liberalismus. Dieser resultiert aus einem gesellschaftlichen Gleichgewicht erwerbstüchtiger Egoisten, die bis heute das kapitalistische Menschenbild bestimmen. So beschreibt der Schotte Adam Smith in seiner klassischen Studie "An Enquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations" (1776) sehr deutlich das individuelle Eigeninteresse als entscheidenden Antrieb für das Wirtschaftsleben:

Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen ihnen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen. (...) Dann lebt jeder vom Tausch, oder wird gewissermaßen ein Kaufmann, und die Gesellschaft selbst wird eigentlich eine Handelsgesellschaft. (Zit. n. Helferich (1992), S. 210.)

Einzig die Tatsache, dass ein funktionierendes Gemeinwesen für die egoistische Entfaltung des Einzelnen unerlässlich ist, mäßigt das Individuum in seinen an sich grenzenlosen Ansprüchen. Sein Recht findet eine scharf gezogene Grenze im Recht der anderen, die ebenfalls ihrem Interesse hemmungslos zu folgen befugt sind. Indem nun aber jeder Einzelne seinem rechtlich geregelten Egoismus folgt, sorgt die invisible hand (Smith), die "unsichtbare Hand" des freien Marktes, für eine Steigerung des Wohlstands aller.
Auch die europäische Anthropologie des Kapitalismus kennt also keine kulturelle Vornehmheit. Sie gipfelt in dem kaufmännischen Bekenntnis von Werner, einer Figur aus Goethes Wilhelm Meister (1795/96): "Ich finde nichts vernünftiger in der Welt, als von den Torheiten anderer Vorteil zu ziehen." (Goethe (1981), Bd. VII, S. 36) Der Philosoph Hegel wiederum bemerkt in seiner Rechtsphilosophie (1821): "In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm Nichts." (Hegel (1970), 328) Und Adam Smith schließlich stellt unübertroffen nüchtern fest: "Wir finden stets, dass es die Hauptsache ist, Geld zu bekommen." (Helferich (1992), S. 210) Weiter bringt es die ökonomische Theorie des Liberalismus motivationspsychologisch nicht. Was bleibt, ist der seelenlose Kampf um Geld und Karriere, ausgefochten von gesichtslosen Individuen, die auf ihr Eigeninteresse reduziert sind. US-Amerikaner sind, so betrachtet, eigentlich nur die konsequenteren Europäer.
Sicher ist die individualistische Einwanderungskultur der Vereinigten Staaten eine kulturelle Besonderheit. Clarence J. Mann bemerkt in seiner Studie Cultural Themes Shaping US-Management sehr richtig:

Menschen, die in einer individualistischen sozialen Umgebung aufwachsen, kümmern sich erfahrungsgemäß um sich selbst und tendieren dazu, lose Bindungen zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft zu haben, die unmittelbare Familie ausgenommen. Loyale Verbundenheit mit einer Gruppe ist insgesamt schwach ausgeprägt, und vertragliche Beziehungen gewinnen an Bedeutung. Daraus resultiert, dass US-Amerikaner sehr mobil sind, sowohl geographisch wie auch in ihrer beruflichen Karriere. (Mann/Götz (2002), S. 5)

Doch ein entscheidender Unterschied zu Europa wird meines Erachtens durch etwas ganz anderes bedingt: Die oben entwickelte Tatsache, dass ein historisches Fundament im europäischen Maßstab fehlt, führt dazu, dass die USA noch kein sensibel differenzierendes Verständnis für ihre kulturelle Selbstwahrnehmung besitzen. Man begnügt sich ganz im Gegenteil damit, kulturell und ökonomisch höchst produktiv zu sein, die Welt mit den eigenen Bildern und Mythen selbstbewusst zu überziehen. Diese ungebrochene Tatkraft ist ein unschätzbarer Vorteil - denn für alle praktischen Zwecke ist ein penibles historisches Langzeitgedächtnis zweifellos nur hinderlich. Zur Illustration zitiert der europäische Kulturkritiker Friedrich Nietzsche ein großes Wort von Goethe:

Wie der Handelnde, nach Goethes Ausdruck, immer gewissenlos ist, so ist er auch immer wissenlos; er vergisst das meiste, um eins zu tun, er ist ungerecht gegen das, was hinter ihm liegt, und kennt nur ein Recht, das Recht dessen, was jetzt werden soll. (Nietzsche (1969), Bd. I, S. 216.

- Europa dagegen leidet unter dem Übermaß historischen Bewusstseins. Ihm fehlt das Zutrauen zur eigenen Intuition, die notwendige Einseitigkeit und dreiste Zuversicht, die zupackendes Handeln in der Gegenwart erst ermöglichen. Es herrscht ein babylonisches Stimmengewirr von traditionellen Wertsetzungen, die leicht zu analytischer Selbstlähmung, ironischer Unentschlossenheit, fruchtlosem Relativismus oder dekadentem Zynismus führen können. Schlimmer noch: Mit dem Totalitarismus des 20 Jahrhunderts - mit Stalin und Hitler - ist die utopische Verfügungsgewalt über die Geschichte endgültig unglaubwürdig geworden. Terror und Barbarei, sei es im Zeichen einer kommunistischen Endgesellschaft, sei es in Form eines pseudowissenschaftlichen Rassenwahns, haben jede menschliche Vorstellungskraft gesprengt. Ein Beispiel unter vielen: Das Konzentrationslager Buchenwald liegt nur einen Steinwurf entfernt von Weimar, dem Wohnsitz Goethes. Dazwischen tun sich geschichtliche Abgründe auf, die ein US-Amerikaner vielleicht erahnen, aber keineswegs historisch, keineswegs im eigenen kollektiven Gedächtnis nachvollziehen kann. - Und vielleicht hat gerade der beispiellose Zusammenbruch von humanistischen Idealen, die über zwei Jahrtausende gewachsen waren, Europa auf eine allzu introvertierte Nabelschau reduziert. Es hat sich auffällig lange damit begnügt, kulturelle Erscheinungen nur zu analysieren, statt selbst welche hervorzubringen. Aufgrund ihrer Geschichte sind die Europäer im Wesentlichen zu überreflektierten Kritikern geworden, denen das urwüchsige Zelebrieren von neuen Leitbildern und Zukunftsentwürfen stets verdächtig erscheinen muss. Es bleibt abzuwarten, ob die Idee einer Europäischen Union historisch kreativ wird, ob sie eine neue Dimension eröffnen kann, die das Alte in eine neue und lebendige Perspektive rückt. Die USA haben es im Falle des Irak-Kriegs leider vorgezogen, die europäischen Analysen und Erfahrungen schlicht zu ignorieren.
Natürlich ist sich der Verfasser bewusst, dass er sehr im Allgemeinen spricht. Aber was könnte allgemeiner sein als eine kollektiv geprägte kulturelle Mentalität, die sich bewusst oder unbewusst hinter einer Unzahl von Bewertungen und Interpretationen verbirgt? Deshalb habe ich mich dem Versuch gestellt, die Andersartigkeit von den USA und Europa zu berücksichtigen. Nur so können wir Europäer hoffen, der Welt von Jack Welch, die unstreitig US-amerikanisch ist, etwas näher zu kommen. Dass es übrigens gebildete und reflektierte US-Amerikaner gibt, die ein reiferes historisches Verständnis haben als viele unbelehrte, ja unbelehrbare Europäer, wird hier keineswegs bestritten.
Nach diesem Vergleich sehe ich in der Autobiografie von Welch vor allem einen geistigen Wert über alle anderen dominieren: Die Anerkennung des Individuums, die Hochschätzung von Talent, Engagement und Leistung:

Ich denke, wir haben es fertiggebracht, ein lernendes Unternehmen mit einer grenzenlosen Kultur zu schaffen, dem es besser als jedem anderen Unternehmen gelingt, die Entfaltung seiner Mitarbeiter zu fördern. (Welch (2003), S. 15)

Diesen Wert erhebt Welch in einen übergeordneten Rang, der direkten Einfluss auf die Geschäftsprozesse bei "GE" nimmt. Und letzteres ist alles entscheidend: Eine Organisation, die eine effiziente Geschäftskultur anstrebt, muss erreichen, dass ein bestimmtes Verhalten durch die gesamte Struktur der Geschäftsabläufe gezielt gefördert wird. Funktionsübergreifende Zusammenarbeit und die konstruktive Akzeptanz von Feedback dürfen nicht nur schöne Worte sein. Sie müssen sich klar ersichtlich auf Bezahlung, Personalbeurteilung und Beförderung auswirken. Vor allem die Geschäftsleitung muss mit großem Engagement und gutem Beispiel vorangehen, weil das gesamte Arbeitsklima von den Chefs bestimmt wird. Und die Ziele, die gesetzt werden, müssen durch eine weitgehend freie, risikofreudige und dezentralisierte Umsetzung die individuellen Talente der Mitarbeiter zur vollen Entfaltung bringen. Sehen Sie sich in Ihrer Firma gründlich um: Sie werden schnell sehen, wie viele Lichtjahre die meisten deutschen Unternehmen, insbesondere die Großunternehmen, von diesen Standards entfernt sind. Das ist zum Teil auf Unfähigkeit, zum Teil aber auch auf andere kulturelle Voraussetzungen als in den USA zurückzuführen. Soziale Stabilität und überreguliertes Sicherheitsdenken sind hierzulande Werte, die der individualistischen, streng leistungsbezogenen Freiheitsidee keinen unbegrenzten Spielraum lassen. Das führt rasch dazu, gegen die fortschreitende "Amerikanisierung" gebetsmühlenhaft Front zu machen. Doch da der globale Wettbewerbsfaktor heute die Realität bestimmt, ist auch das Überleben der Firma mehr als jemals zuvor von der internationalen Wettbewerbsfähigkeit abhängig. Tatsache ist: Die Welt ist längst schon US-amerikanisiert worden. Und zwar völlig unabhängig von unserem subjektiven Wollen und Meinen. Häufig ist die Anprangerung der Amerikanisierung ohnehin nichts als eine Weigerung, in der Idee individueller Freiheit etwas anderes zu sehen als eine Bedrohung. Damit umgeht man die Kritik an den eigenen, oft stümperhaften und antiquierten Geschäftsprozessen. Und obwohl man die Informationsgesellschaft und Wissensgesellschaft ständig im Mund führt, verkennt man, dass Teamwork und Vernetzung nicht nur technologische, sondern vor allem auch organisatorische Prinzipien sind, die unsere Ideen von "Arbeit" radikal verändern.
Was also können wir - unter gebührender Berücksichtigung kultureller Differenzen - von General Electric lernen?

Individualismus und Geschäftsprozesse

Der Individualismus US-amerikanischer Prägung ist eine notwendige Voraussetzung für das Betriebssystem von GE, aber gewiss nicht die einzige. Wenn Teamwork und funktionsübergreifende Zusammenarbeit Wachstum und Gewinn fördern, dann wird eine dezentralisierte, das autonome Individuum stärkende Arbeitsweise sehr schnell und sehr schlicht Ausdruck wirtschaftlichen Erfolgsstrebens. Nur dadurch, dass diese Autonomie profitabel ist, konnte sie den Rang einer ernsthaften Management-Technik einnehmen. Geschäft ist Geschäft. Und auch die Geschäftskultur ist selbstverständlich von ökonomischen Überlegungen bestimmt. Der "menschliche Faktor", das heißt die Individualität und Leistungswilligkeit aller Mitarbeiter, zahlt sich einfach aus:

Als ich versuchte, all die unterschiedlichen Unternehmensbereiche an weit auseinander liegenden Orten zu überblicken, erkannte ich deutlicher als je zuvor, dass mein Erfolg weitgehend von den Mitarbeitern abhängen würde, mit denen ich mich umgab. (...) Jeder herausragende Mitarbeiter würde mich entscheidend voranbringen. (S. 67)

Dergestalt gerät die kulturelle Wertschätzung des Individualismus sehr schnell zum Mittel, die eigene Karriere voranzutreiben - bei gleichzeitiger Steigerung der Gewinnmargen. Das Gleiche gilt übrigens für die von Welch stets hervorgehobene "Integrität". Langfristig, so betont er mehrfach, ist sie immer profitabel, während krumme Touren früher oder später zu Verlusten führen und die Organisation schädigen. Das ist zweifellos das schwache Glied in der Argumentationskette des Pragmatismus: Er liefert keine ethische Begründung für das ethische Phänomen der Integrität. Würde sich moralische Korrektheit nicht rentieren und würde ein unmoralisches Geschäftsgebaren langfristig größere Gewinne abwerfen - dann hätte dieser Pragmatismus keinerlei Begründung für den Begriff der Integrität vorzuweisen. Wenn er konsequent wäre, müsste er ihm sogar das Existenzrecht absprechen.

Es ist also nicht ausschließlich eine kulturelle Mentalität, die den Individualismus bei GE möglich macht. Es ist die Einsicht in die ökonomische Effizienz unabhängiger, begabter und zugleich teamfähiger Individuen, die diese Firmenkultur prägt. Und es gibt für die konservativen Geschäftsprozesse insbesondere der deutschen Firmen keinen überzeugenden ökonomischen Grund. Der Individualismus der US-Kultur ist ein Wettbewerbsvorteil, weiter nichts. Er nutzt die großen Gewinnspannen, die sich heute einem unbürokratischen und experimentierfreudigen Unternehmen bieten, einfach weit besser als das deutsche Management.
Doch nicht nur der komplexen und allseitig vernetzten Arbeitsweise im Informationszeitalter wird das Betriebssystem von GE gerecht. Der Individualismus stellt sich nicht weniger effektiv der Realität des globalen Marktes. Die Turbulenzen, die dort auftreten, sind beispiellos in der Geschichte aller bisherigen Ökonomie. Denn die Schnelligkeit, mit der Veränderungen eintreten, wird immer dramatischer. Ebenso die Komplexität zahlloser Faktoren, die in ihrem weltweiten Zusammenwirken immer schwieriger zu berechnen sind. Das Verfallsdatum von Prognosen und Strategien wird deshalb immer enger definiert. Jack Welch hat das schon erstaunlich früh erkannt. Bereits 1981, unmittelbar nach Amtsantritt, beruft er sich auf den deutschen Militär-Theoretiker Carl von Clausewitz, um die Lebensfremdheit langfristiger und unflexibler Strategien drastisch vor Augen zu führen:

In seinem Werk Vom Kriege (erschienen 1832, G.B.) fasste Carl von Clausewitz das Problem zusammen. Der Mensch werde keine Formel für die strategische Planung finden. Die detaillierte Planung schlage zwangsläufig fehl, da unvermeidliche Friktionen auftauchten zufällige Ereignisse, Fehler bei der Umsetzung und der unabhängige Wille der Gegenseite. Vielmehr müsse den menschlichen Elementen Vorrang eingeräumt werden Führung, Moral und dem instinktiven Vermögen der besten Generäle. (S. 454)

Die Aufwertung des "menschlichen Faktors" gegenüber der peniblen Langzeit-Strategie folgt erneut einer streng ökonomischen Einsicht. Hektische Marktturbulenzen und schwer durchschaubare Konkurrenten erzwingen intuitive Wendigkeit. Dabei ist die Anspielung auf Clausewitz keineswegs weit hergeholt. Seine strategischen Einsichten gehören längst zum viel zitierten Standardrepertoire von Unternehmensberatungen und Management-Kursen. Und das mit Recht. Denn wenn wir Clausewitz folgen, dann ist der Krieg ein soziales Phänomen, keine Kunst oder Wissenschaft. Diese Unterscheidung ist ein Schlag ins Gesicht für alle Rationalisten:

Das Wesentliche des Unterschiedes besteht darin, dass der Krieg keine Tätigkeit des Willens ist, die sich gegen einen toten Stoff äußert wie die mechanischen Künste, oder gegen einen lebendigen, aber doch leidenden, sich hingebenden Gegenstand, wie der menschliche Geist und das menschliche Gefühl bei den idealen Künsten, sondern gegen einen lebendigen, reagierenden. Wie wenig auf eine solche Tätigkeit der Gedankenschematismus der Künste und Wissenschaften passt, springt in die Augen, und man begreift zugleich, wie das beständige Suchen und Streben nach Gesetzen, denen ähnlich, welche aus der toten Körperwelt entwickelt werden können, zu beständigen Irrtümern hat führen müssen. (Clausewitz (2001), S. 90)

Die ökonomische Nutzanwendung auf den Konkurrenzkampf ist somit klar: Eine technokratisch und bürokratisch orientierte Strategie ist der sichere Weg in den Untergang. Heute mehr als je zuvor. Deshalb darf die Strategie vom eigentlichen Geschehen nicht isoliert werden, muss wortwörtlich mit ins Feld ziehen und behält lediglich die übergeordneten Ziele im Auge. Nicht nur im Krieg, auch in der Ökonomie und Politik - diese Vergleiche zieht Clausewitz bereits selber - soll man lernen, mit dem Unvorhersehbaren zu rechnen und zu leben. Es ist kein Ruhmesblatt für deutsche Unternehmen, dass die US-Amerikaner den preußischen Kriegsphilosophen weit besser verstanden haben als sie selbst.
Vorbildlich hat Welch diese Realitätsanalyse mit der ihm eigenen Konsequenz in die Praxis umgesetzt:

Was die vielen dezentralisierten Pläne und Initiativen dieses Unternehmens miteinander verknüpft, ist keine zentrale Strategie, sondern eine zentrale Idee ein einfaches Kernkonzept, an dem sich General Electric (...) orientieren wird.
(...)
Die Strategie bestand nicht in einem langfristigen Aktionsplan. Sie bestand in der Entwicklung einer zentralen Idee unter sich stetig ändernden Bedingungen. (S. 453f.)

Hier liegt auch der eigentliche Grund und Ausgangspunkt des Betriebssystems von GE:

Entscheidend für das Verständnis des Betriebssystems ist, dass es darin ausschließlich darum geht, zu lernen und die Resultate zu verbessern. Das System dient dazu, Ideen zu finden und zu verbreiten. (S. 218)

Daraus wiederum erklärt sich der hohe Stellenwert der individuellen Begabung. Ideen geben nur das Ziel vor, nicht den Weg:

Für eine Aufgabe die richtigen Leute zu finden ist wesentlich wichtiger als eine Strategie zu entwickeln. Das gilt für alle Geschäftsbereiche. Ich verbrachte jahrelang ungeheuer viel Zeit damit, viel versprechende Strategien zu entwickeln, die nie Ergebnisse brachten. (...) Wir mussten erkennen, dass uns die brillantesten Strategien nichts nutzten, wenn wir nicht die richtigen Leute mit der Durchführung betrauten. (S. 392)

Die wichtige Konsequenz aus diesem Ansatz besteht darin, dass es keinen Sinn macht, ständig die Menschen zu kontrollieren, die mit der Durchführung von Aufgaben betraut sind. Sie brauchen Bewegungsfreiheit, um mit den unkalkulierbaren "Friktionen" (Clausewitz) kreativ fertig zu werden. Es gilt also, vor allem Ergebnisse, nicht Mitarbeiter zu kontrollieren. Und das heißt im Klartext: Führungskompetenzen benötigen gerade große Unternehmen auf allen Ebenen. Im Grunde eine alte Einsicht, wie auch Daniel Goleman betont - erneut unter Berufung auf deutsche Theorieansätze:

Der Soziologe Max Weber erklärte vor hundert Jahren, dass Institutionen, die Bestand haben, ihren Erfolg nicht dem Charisma eines Anführers verdanken, sondern dem Umstand, dass sie die Kunst der Führung im gesamten System kultivieren. (...) Unternehmen, die über einen langen Zeitraum erfolgreich sind, zeichnen sich durch die Fähigkeit aus, Generationen von effektiven Führungskräften hervorzubringen. (Goleman (2002), S. 58)

Auch der Managementforscher und Berater John P. Kotter unterstreicht die große Bedeutung, die der persönlichen Führungsqualität des Einzelnen in der gesamten Organisation zukommt:

Betrachten Sie eine einfache militärische Analogie. Eine Armee in Friedenszeiten kann gewöhnlich mit guter Administration und Management aufwärts und abwärts der Hierarchie überleben, wenn sie mit guter Führung einhergeht, die ganz oben konzentriert ist. Eine Armee jedoch, die sich im Krieg befindet, braucht Führungskompetenz auf allen Ebenen. (HBR, Special Issue, Dec. 2001, S. 86)

Fassen wir vorläufig zusammen: Der Individualismus fördert die Effizienz der Unternehmen durch die Einsicht, dass die Hochgeschwindigkeit der vernetzten Geschäftsprozesse und die turbulenten Märkte keine Vorhersagbarkeit und Stabilität mehr zulassen. Traditionelle hierarchische Unternehmen können mit dem Fließzustand kontinuierlicher Veränderungen nicht mehr angemessen umgehen. Orientierende Ideen und Zielsetzungen lösen langfristige Planungen und Strategien ab. Das Individuum, das an der Front die Arbeit erledigt, benötigt Autonomie und Handlungsfreiheit. Und das gesamte Geschäftsklima wird durch informelle, alle herkömmlichen Grenzen sprengende, funktionsübergreifende Teamarbeit geprägt. Die Qualität der Mitarbeiter auf allen Führungsebenen und in allen Geschäftsbereichen entscheidet über Sieg und Niederlage im internationalen Wettbewerb. - Hinter dem Pathos von Jack Welch steckt somit ein äußerst realistischer sozioökonomischer Hintergrund. Er hat, im gravierenden Unterschied zu vielen deutschen Kollegen, die schlichte Wahrheit verstanden, dass der "menschliche Faktor" mehr als alles andere die Ertragslage des profitorientierten Unternehmens berührt:

Tatsächlich dreht sich bei GE alles darum, herausragende Mitarbeiter zu finden und aufzubauen. Es ist unerheblich, woher die Leute kommen. Ich neige in vielen Dingen zur Übertreibung, doch nirgendwo bin ich leidenschaftlicher als in meinem Bemühen, die Mitarbeiter zur Kernkompetenz von General Electric zu machen. (S. 171)

Doch braucht es zu diesem Zweck mehr als fromme Wünsche, mehr als die bloße Definition des Betriebssystems als Ideenentwicklung. Selbst Jack Welch muss sich eingestehen, dass organisatorische und administrative Maßnahmen unerlässlich sind, um neue Geschäftsprozesse erfolgreich zu implementieren:

Es mag seltsam erscheinen, doch gerade in diesem Fall spielt das System eine entscheidende Rolle. Ich verabscheue die Bürokratie und bekämpfe sie unermüdlich, doch nur die Strenge unseres Personalsystems ermöglicht die Auswahl der besten Mitarbeiter. (S. 171)

Gehen wir an das Eingemachte: Wie funktioniert das Betriebssystem bei GE tatsächlich? Und was kann ein deutscher Manager aus der vorbildlichen Einrichtung dieses Systems lernen? Die Zeit der wohlfeilen und populären Seitenhiebe auf die Amerikanisierung sollte in unserem eigenen ökonomischen Überlebensinteresse endgültig vorbei sein.

Differenzierung

Differenzierung heißt für Welch und GE zunächst nichts anderes, als die Mitarbeiter individuell wahrzunehmen, ihre Leistung zu messen und sie dementsprechend zu bezahlen:

Siegerteams entstehen durch die differenzierte Behandlung der Teammitglieder - die Besten werden belohnt, die Schlechtesten werden aussortiert und die Latte für das gesamte Team wird immer höher gelegt. (S. 40f.)

Das klingt, besonders für Europäer, ziemlich brutal und menschenverachtend. Menschen "aussortieren" - dagegen sträubt sich eine sozial und humanistisch orientierte Mentalität. Meine Kursteilnehmer aus Europa stimmen auch weitgehend darin überein, dass die Differenzierung der Mitarbeiter in ihren Ländern kaum praktikabel ist. Es fehlt der politische Konsens der Unternehmensumwelt. Und zweifellos wäre es töricht, diese Umwelt nicht zu respektieren: "Management funktioniert am besten, wenn es sich mit seiner kulturellen Umgebung im Einklang befindet, nicht, wenn es dem Diktat der Logik gehorcht". (Handy (1988), S. 151) Mit anderen Worten: Lokale Kulturen sind ein nicht aufhebbarer Standortfaktor. Wütende Streiks und ein irreparables Firmenimage wären in europäischen Ländern wie etwa Frankreich und Italien, ja selbst in Deutschland die Folgen einer Differenzierung à la Welch. In unserer kulturellen Wahrnehmung sind Menschen keine verdinglichte Manövriermasse. Auch dann nicht, wenn sie die geforderten Leistungsstandards verfehlen.
Doch was ist die Alternative? Träge und demotivierende Entlohnungssysteme. Nach dem Gießkannenprinzip werden Bonuszahlungen über ganze Abteilungen ausgeschüttet. Das bedingt den entsprechenden Abteilungsegoismus, der wie kein anderer die Wertsteigerung des Gesamtunternehmens bremst. Gehaltserhöhungen sind ebenfalls positionsgebunden und orientieren sich stärker an der Rolle als an der Leistung. So sind nicht nur die Abteilungen, sondern auch die Hierarchieebenen voneinander isoliert: Auf der horizontalen wie vertikalen Achse der Organisation schürt man damit zielsicher den Brotneid und das Konkurrenzdenken. Und das verursacht Kommunikationsstörungen - die absolute Todsünde im Betriebssystem. Jeder unnötige Verwaltungsakt, jede emotionale Unstimmigkeit, jedes Verschweigen oder Manipulieren einer Information, jede Form des Abschottens ist Betriebsmüll, der den Informationsfluss hemmt.
Eine informelle und leistungsorientierte Zusammenarbeit wird den Erfordernissen des globalen Wettbewerbs offensichtlich besser gerecht als unser deutsches Silo-Denken. - So sieht das System von GE aus:

Einmal im Jahr forderten wir alle Unternehmensbereiche auf, sämtliche Führungskräfte in einer Rangordnung einzustufen. Im Grunde ging es uns darum, die Bereichsleiter zur Differenzierung ihrer Führungsteams zu zwingen. Sie mussten erklären, welche ihrer Manager sie zu den besten 20 Prozent zählten, welche den 70 Prozent der "vitalen Mitte" angehörten und welche sie als die schlechtesten 10 Prozent einstuften. Wenn das Management also 20 Personen umfasste, wollten wir wissen, welche vier den besten 20 und welche 2 den schlechtesten 10 Prozent angehörten - samt Namen, Positionen und Gehalt. Die Manager, deren Leistungen besonders schlecht waren, mussten das Unternehmen üblicherweise verlassen. (S. 172f.)

20-70-10 - das sind die Proportionen der berüchtigten "Vitalitätskurve", die "A-, B- und C-Player" differenzieren soll. Wie gesagt - für uns Europäer in dieser Radikalität schwer vorstellbar. Doch diese Art der Qualitätskontrolle, so Welch, identifiziert die Besten in der Organisation:

In der Herstellung versuchen wir Abweichungen zu verhindern. Bei den Menschen sind wir auf Abweichungen angewiesen. (...) (S. 172)

Gefordert wird immerhin Individualität, nicht Konformität. Und die Vitalitätskurve verdeutlicht jedem Mitarbeiter, wo genau er eigentlich steht. Welch verteidigt dieses System sehr offensiv, weil es eine motivierende und kreative Einstellung fördert und eine Vielzahl individueller Karrieren und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet:

Ich habe von den Mitarbeitern stets verlangt und werde auch weiterhin von ihnen verlangen, hohe Leistungsstandards zu erreichen. Doch ich habe viel versprechenden Mitarbeitern auch zahlreiche Chancen zur "sprunghaften Entwicklung" eröffnet und zur Schaffung einer Atmosphäre beigetragen, die begabte und ehrgeizige Menschen anzieht. (S. 96f.)

Ich wollte einen neuen Vertrag vorlegen, der darauf beruhte, dass GE die besten Jobs in der Welt für Menschen schuf, die bereit waren, sich dem Wettbewerb zu stellen. Wenn die Mitarbeiter unterschrieben, würden wir sie hervorragend ausbilden und in einer Umgebung fördern, in der sie zahlreiche Möglichkeiten zum persönlichen und beruflichen Wachstum vorfinden würden. Wir konnten ihnen keine "lebenslange Beschäftigung" garantieren, doch würden wir alles tun, um sie mit Fähigkeiten auszustatten, die ihnen eine "lebenslange Beschäftigungsfähigkeit" garantieren würden. (S. 143)

Es ist demnach ratsam, die Differenzierung im Zusammenwirken mit den anderen Betriebselementen zu sehen, bevor man ein allzu vorschnelles Urteil fällt. Mit ethischen Bedenken trägt sich Welch sicher nicht. Wettbewerbsgeist gehört für ihn zum Selbstverständnis - und er interpretiert den Leistungswillen als Basis für das gesamte System:

Leistungsbewertungen sind ab dem ersten Schuljahr ein fester Bestandteil unseres Lebens. (...) In den ersten 20 Lebensjahren müssen wir alle die Differenzierung über uns ergehen lassen. Warum sollte sie am Arbeitsplatz enden, an dem wir den Großteil unserer Tage verbringen? .)
Die Vitalitätskurve funktioniert, weil wir über ein Jahrzehnt damit verbracht haben, eine Leistungskultur aufzubauen, in der die Angehörigen des Unternehmens auf allen Ebenen mit einem ehrlichen Feedback rechnen können. Aufrichtigkeit und Offenheit sind die tragenden Säulen einer solchen Kultur. Einer Organisation, die noch keine Leistungskultur besitzt, sollte deshalb auch keine Vitalitätskurve aufgezwungen werden. (S. 177)

Wenigstens eine Schlussfolgerung lässt sich für deutsche Unternehmen daraus ziehen: dass die Implementierung einer Leistungskultur an sich noch nicht menschenverachtend sein muss. Sie ist die Voraussetzung für die Vitalitätskurve, nicht schon diese selbst. Wenn man die C-Spieler kulturbedingt nicht einfach "aussortieren" kann, so besteht kein Grund, warum man Mitarbeiter, die über individuelle Klasse verfügen, nicht individuell belohnen und fördern sollte. Ohne hierarchische Scheuklappen und ohne Abteilungsdenken. Möglicherweise ist Welch sogar weit realistischer, weit tiefer, als manche Moralisten glauben. Vielleicht gar tendieren die Europäer in diesem Punkt selbst zu einem allzu naiven Menschenbild, das in der harten ökonomischen Praxis keinen Bestand hat. Welch betont:

Nur wer zu harten Entscheidungen in Bezug auf Menschen und Anlagen bereit ist, erwirbt sich das Recht, über "weiche" Werte wie "Vortrefflichkeit" oder die "lernende Organisation" zu sprechen. Die auf den Menschen zielenden Maßnahmen werden nicht funktionieren, wenn ihnen keine Demonstration der Härte vorangeht. Sie funktionieren nur in einer Kultur, welche die Leistung in den Mittelpunkt stellt. (S. 139)

Die schöne neue Arbeitswelt der Emotionalen Intelligenz, der kreativen, spontanen Zusammenarbeit und der persönlichen Freiheit setzt Motivation und Leistungswillen voraus. Das beste Betriebssystem kann nicht funktionieren, wenn es die Mitarbeiter nicht mit Eigeninitiative beleben. Wer auf Wettbewerbsfähigkeit nicht verzichten will, wird um eine Einstufung des Personals nicht ganz herumkommen. Menschen lieben die Veränderung nicht. Veränderung bedeutet Stress und Umlernen. Für gewöhnlich rührt niemand auch nur einen Finger für eine neue Idee, wenn er nicht spürt, dass die Firmenleitung die Sache bitter ernst nimmt. In diesem Punkt ist Welch kompromisslos:

Mitarbeiter, die sich in dieser informellen und von Unternehmergeist gekennzeichneten Atmosphäre nicht zurechtfanden, schieden aus oder wurden aufgefordert, ihren Hut zu nehmen. (S. 58)

Strenge allein freilich genügt nicht. Die wesentlichen Elemente des Betriebssystems sind bei GE auffällig konsequent mit den immer noch stärksten Motivationsanreizen verknüpft:

Mit der Einstufung auf der Vitalitätskurve muss eine entsprechende Einstufung im Gehaltsschema einhergehen Gehaltserhöhungen, Aktienoptionen und Beförderungen. (S. 175)

Die Wirksamkeit einer neuen Firmenkultur hängt entscheidend davon ab, dass sie sich auf alle relevanten Faktoren der Karriere direkt auswirkt. Alles andere ist substanzlose Träumerei. Bloße Worthülsen, die den Geldbeutel und den Status des Mitarbeiters nicht berühren, werden keine Verhaltensänderung herbeiführen. GE setzt dieses Druckmittel immer wieder ein, wenn das Betriebssystem blockiert wird:

Legte ein Bereichsleiter Empfehlungen für Bonuszahlungen oder Aktienoptionen vor, ohne die schlechtesten 10 Prozent zu nennen, so verweigerte ich die Bewilligung so lange, bis er sich zur Differenzierung bereit erklärte. (S. 176)

Das mag uns, besonders im Zusammenhang mit der Differenzierung, menschlich empören. Aber ohne den Hebel des Geldes und der Karriere lassen sich komplexe Unternehmen nicht wirklich in Bewegung setzen. Welch hat auch hier vor allem den ökonomischen Vorteil für die gesamte Organisation im Auge:

Auf diese Art werden herausragende Organisationen aufgebaut. Mit der Differenzierung wird die Latte Jahr für Jahr höher gelegt, und das Niveau der Gesamtorganisation steigt. Da der Prozess niemals endet, hat niemand eine Garantie dafür, auf Dauer in der Spitzengruppe zu bleiben. Alle Beteiligten müssen laufend beweisen, dass sie ihren Platz in dieser Gruppe verdienen. (S. 173)

Aus US-amerikanischer Sicht sind Wettbewerb und Erfolgsstreben starke kulturelle Triebfedern, ja starke menschliche Elemente, die ethische Betulichkeit erst gar nicht aufkommen lassen:

Wir bauen großartige Mitarbeiter auf, die anschließend großartige Produkte und Dienstleistungen hervorbringen. (S. 171)

Interkulturell sehr aufschlussreich ist Welchs Umgang mit den Kritikern der Differenzierung, die ihm seine zahlreichen "grausamen" Entlassungen vorwerfen. Er kontert selbstbewusst:

Ich halte es für grausam, Leute im Unternehmen zu behalten, die dort nicht gedeihen werden. Nichts ist so grausam wie jahrelang abzuwarten, um jemandem dann zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt in seiner Karriere - wenn er nur noch beschränkte Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt hat, die Ausbildung seiner Kinder finanzieren oder eine Hypothek zurückzahlen muss - mitzuteilen, dass er nicht zum Unternehmen passt. (S. 176)

Für Europäer klingt das recht zynisch. Man tue Menschen, so Welch, mit der Entlassung sogar einen großen Gefallen, weil sie sich anderswo vermutlich besser entwickeln werden und man habe die Verantwortung, ihnen diese Gelegenheit zu verschaffen…
Dennoch ist die Differenzierung ein Vorbild für die erfolgreiche Implementierung von Veränderungen. Die Einstufungskriterien sind klar definiert. Die Mitarbeiter werden an den Initiativen und Unternehmenszielen gemessen (Globalisierung, Six Sigma, E-Business und grenzenloses Verhalten ("boundaryless")). Und es gibt eine exakte Typologie des idealen GE-Mitarbeiters:

A-Player besitzen die "vier Es der Führung" Sie haben sehr viel Energie (energy), sind imstande, andere mit Blick auf gemeinsame Ziele zu energetisieren (energize), besitzen die Entschlossenheit (edge), schwierige Entscheidungen zu fällen, und sind in der Lage, Ergebnisse zu liefern (execute). (S. 173)

In meinen Augen werden die vier Es durch ein L zusammengehalten - durch die Leidenschaft. (S. 174)

Jeder Mitarbeiter von GE trägt eine kleine Karte bei sich, auf der diese Es demonstrativ aufgelistet sind.
So erbarmungslos sein Umgang mit den C-Playern ist, so hemmungslos liebt Welch die A-Player:

Einen A-Player gehen zu lassen ist eine Sünde. Man muss sie lieben, hätscheln und unbedingt an das Unternehmen binden. Wir führen nach dem Weggang eines A-Players Gespräche mit ihm, um Aufschluss über seine Beweggründe zu gewinnen, und ziehen das Management für den Verlust zur Verantwortung. Das funktioniert. Wir verlieren jedes Jahr weniger als ein Prozent unserer A-Player. (S. 175)

Bemerkenswert ist dabei immer wieder die Feedback-Kultur bei GE. Der Fehler könnte bei der Firma liegen, wenn ein ausgezeichneter Mitarbeiter geht. Und die unmittelbaren Vorgesetzten müssen Rede und Antwort stehen.
Wie bereits gesagt ist die Differenzierung jedoch nur ein Element im Gesamtsystem von GE. Und spätestens jetzt, wo wir diese moralisch nicht unproblematische Komponente der Organisation verlassen, gibt es keine Ausreden mehr für deutsche Unternehmen, die von erfolgreichen ausländischen Konkurrenten offensichtlich nicht lernen wollen.

Führungskräfteentwicklung

Die Definition des Betriebssystems als Förderung und Verbreitung von Ideen bedarf der konsequenten Unterstützung durch eine firmeneigene Ausbildung. In den USA fällt diese Einsicht etwas leichter, weil die Business Schools sich schon immer an praktischen Fallstudien aus der Unternehmenswelt orientiert haben. Und Welch ist von Anfang an entschlossen, den Nachwuchs und das bestehende Management in eine herausragende Firmenschulung zu integrieren:

Crotonville sollte zu einem Ort werden, an dem man in einer offenen Atmosphäre Ideen verbreitete. Es konnte sich in den idealen Platz verwandeln, um die hierarchischen Grenzen zu überwinden. Ich wollte den Kontakt zu den Managern tief im Bauch der Organisation suchen, ohne die Botschaft von mehreren Führungsebenen filtern zu lassen. (S. 185)

Dies ist der Vorteil einer firmeneigenen Management-Ausbildung: Die Lernsituation ist wohltuend objektivierend. Sie kennt nur Argumente und Lernprozesse, kennt nur Aufgaben und deren Lösungen. Abteilungen und Positionen geraten allerdings nur dann in den Hintergrund, wenn man das Schulungszentrum auch in Übereinstimmung mit dem Betriebssystem definiert - als stets pulsierendes Ideenlaboratorium. Diese klare Zielsetzung, eine lernende Organisation mit Führungsqualitäten auf möglichst vielen Ebenen zu schaffen, sollte der Gründung von Firmenschulen unmissverständlich vorangehen. Wie überhaupt festzustellen ist, dass sich erfolgreiche von nicht erfolgreichen Unternehmen vor allem darin unterscheiden, dass ein klarer übergeordneter Zweck für alle Mitarbeiter verbindlich ist. Jack Welch lässt jedenfalls keinen Zweifel daran, dass die Teilnahme an den Managementkursen keine Belohnung für ausgebrannte und verdienstvolle Mitarbeiter ist; und erst recht keine funktionelle Kaderschmiede, die Standards und Routine im hierarchischen Geschäftsgang vermitteln soll:

Ich wollte, dass sich Crotonville nicht mehr mit der spezifischen Funktionsausbildung, sondern mit der Entwicklung von Führungsfähigkeiten beschäftigte. (…)

... wenn wir die Besten dazu bewegen wollten, nach Crotonville zu gehen, mussten wir daraus eine Ausbildungsstätte von Weltklasse machen. (S. 186)

Die klare Bestimmung und Zielsetzung von Crotonville wird nicht zuletzt auch von der Einsicht getragen, dass Ausbildung Geld kostet. Noch während der Umstrukturierung setzt Welch eine umstrittene Investition von 46 Millionen Dollar in das Projekt durch. - In der Erkenntnis, dass Crotonville das Herzstück der Organisation ist, das langfristig den Ertrag des Unternehmens steigert:

Diese Investition würde für alle Zeiten Erträge abwerfen. Das war mein Ernst. (S. 186)

Doch nicht nur Definition und Zielrichtung sind stimmig. Auch die programmatische Ausrichtung der Firmenschule wird konsequent an die Bedürfnisse des operativen Geschäfts angepasst. Welch und seine Kollegen führen das so genannte "Action Learning" ein. Die bisherigen Kurse hatten vor allem Fallstudien aus anderen Unternehmen verwendet. Man engagierte Noel Tichy, Managementprofessor der University of Michigan, um im Unterricht reale Vorgänge von GE zugrunde zu legen. Das von Tichy 1985-87 etablierte Lernmodell stellt sicher, dass die Schulung als integratives Moment der Organisation wahrgenommen wird:

Das von Tichy entwickelte Konzept des Aktionslernens, in dessen Mittelpunkt die Arbeit an Problemen aus dem realen Unternehmensleben stand, bildete den Kern der fortgeschrittenen BMC- und EDC-Kurse. (Business Management Course und Executive Development Course, G.B.) Die Projekte bezogen sich auf einen Schlüsselmarkt, einen wichtigen GE-Bereich oder die Fortschritte, die das Unternehmen in Qualitäts-, Globalisierungs- oder ähnlichen Initiativen machte. (...)

In den Kursen wurde derart großer Wert auf die praktischen Maßnahmen gelegt, dass sich die Teilnehmer in interne Berater des Top-Managements verwandelten. Die Klassen untersuchten unsere Wachstumschancen und die Vorgehensweise anderer erfolgreicher Unternehmen in praktisch allen Industrie- und Entwicklungsländern. (...) In jedem Fall zogen sie praktische Lehren, die in einem Unternehmensbereich in die Tat umgesetzt wurden. Wir erhielten ausgezeichnete Beratung durch unsere besten Leute, denen die Entwicklung des Unternehmens wirklich am Herzen lag, und in den Kursen wurden über die Bereiche hinweg dauerhafte Freundschaften geschlossen. (S. 189)

Die Schule ist also nicht ein Ort, der abstrakte Erkenntnisse vermittelt, die erst später an die Praxis herangetragen werden. Sie fungiert als interne Unternehmensberatung, deren Ergebnisse reale Veränderungen der Praxis unmittelbar nach sich ziehen können. In der deutschen Mentalität, die immer noch ein theoretisches BWL-Wissen einseitig bevorzugt und überdies durch Risikoscheu Experimente systematisch verhindert, dürfte die Implementierung von "Action Learning" mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein. Man tut sich hierzulande schon äußerst schwer damit, empirische Fallstudien als Unterrichtsmethode überhaupt anzuerkennen - geschweige denn, das eigene Unternehmen als mögliche Fallstudie ernsthaft wahrzunehmen. Man hat die Tatsache schlicht verschlafen, dass statische Theorieansätze so gut wie statische Organisationen nur dann von Vorteil sind, wenn die Welt auch ihrerseits stabil und vorhersagbar ist. Ständiger Wandel und Unberechenbarkeit erfordern eine empirisch-experimentelle Einstellung, die der angloamerikanischen Mentalität zweifellos näher liegt. Das alles kann jedoch nicht länger eine stichhaltige Ausrede sein. Wer über firmeneigene Schulen oder gar Universitäten nachdenkt, muss sie als integrierten Bestandteil eines übergeordneten Betriebssystems definieren. Wer über keine klare Definition seines Betriebssystems verfügt und über die Zwecke seiner eigenen Organisation nicht deutlich sprechen kann, wird nur eine ineffiziente Mischung aus reiner Lehre und Funktionsausbildung erhalten, die an staatlichen und freien Universitäten in der Tat besser aufgehoben sind.
Damit nicht genug: Neben der Definition benötigt eine Firmenschule ein eindeutiges und unmissverständliches Engagement der Firmenleitung. Ohne das so genannte "Commitment" von oben ist jede Unternehmensreform noch nicht einmal das Papier wert, worauf sie geschrieben steht. Und auch GE musste das erst mühsam erlernen:

Im Jahr 1995 las ich in Fortune einen Artikel über Pepsi-Cola und darüber, wie Geschäftsführer Roger Enrico und sein Team ihre Manager in Führungsmethoden unterwiesen. Ich fand Gefallen an ihrem Modell und entschied, dass jedes Mitglied unseres Führungsteams ebenfalls eine Unterrichtsstunde abhalten sollte. Bis dahin hatten unsere Spitzenmanager und Bereichsleiter nur sporadisch unterrichtet. Anhand der von Pepsi entlehnten Methode konnten wir den Klassen Einblick in die Vorgehensweise unserer erfolgreichsten Rollenvorbilder geben. Heute sind 85 Prozent der Lehrer in Crotonville Manager von GE. (S. 190)

(Â…)
Ich blieb leicht in Crotonville hängen. Ich verbrachte außergewöhnlich viel Zeit dort. Ich war ein- bis zweimal im Monat im Pit (der zentrale Vorlesungssaal, G.B.) und unterrichtete jeweils bis zu vier Stunden lang. Im Lauf von 21 Jahren hatte ich Gelegenheit, persönlich zu fast 18 000 Managern von GE zu sprechen. Ich empfand die Ausflüge nach Crotonville stets als Verjüngungskur. Sie gehörten zu meinen liebsten Beschäftigungen. (S. 191)

Wer von GE lernen will, kommt demnach um zwei entscheidende Fragen nicht herum: Haben Sie einen klar definierten Zweck Ihres Betriebssystems, der Ihre gesamte Organisation zu einer schlagkräftigen Einheit integriert? Und ist das Top-Management unmittelbar und regelmäßig an der Ausbildung der Nachwuchskräfte beteiligt? Wenn Sie diese Fragen nicht klar beantworten können, ist eine Firmenschule bestenfalls nur eine Schule mehr - und kein effizienter Bestandteil Ihrer Organisation.
Welch ist sich natürlich darüber im Klaren, dass die praktische Arbeit in der Organisation von der idealen Lernsituation in einer Schule durchaus verschieden ist. Dennoch interpretiert er die Schule keineswegs als bloß unterstützendes Anhängsel des realen Betriebs, der vom "Action learning" profitiert. Umgekehrt soll die Schule auch die Praxis charakteristisch durchdringen und verändern. Und deshalb gelangt er zu der wichtigen Erkenntnis, dass Crotonville ein soziales Lernmodell stiftet, dass die lernende Organisation auf allen Ebenen charakterisiert:

Wir müssen den Pit (den zentralen Vorlesungssaal, GB.) in Crotonville überall im Unternehmen kopieren. (S. 196)

Lernprozesse sollen also fortan den gesamten Betrieb nahtlos verknüpfen. Die Idee zum "Work-Out-Programm" ist geboren: Die konsequente Berücksichtigung von Wissen bis hinab zur Produktion. Die übergeordnete These lautet: Die Leute, die die Arbeit tatsächlich machen, wissen am besten, wie sie funktioniert. Derlei Lippenbekenntnisse hört man auch in Deutschland. Doch die Umsetzung dieses Konzepts setzt organisatorische Maßnahmen und Einfühlungsvermögen in die Stimmung der Mitarbeiter voraus:

Der Pit in Crotonville funktionierte, weil die Leute dort das Gefühl hatten, offen sprechen zu können. Ich war zwar eigentlich ihr "Boss", doch ich hatte nur sehr geringen Einfluss auf ihre persönliche Laufbahn. (...) Entsprechende Bedingungen mussten wir in allen Unternehmensbereichen schaffen. Es lag auf der Hand, dass deren Leiter nicht mit der Leitung der Sitzungen betraut werden durften, weil sie jeden im Raum kannten. Damit wäre die Dynamik verloren gegangen und jede Offenheit im Keim erstickt worden.
Wir kamen auf die Idee, geschulte externe Moderatoren zu engagieren. Wir dachten dabei in erster Linie an Universitätsprofessoren, die nicht persönlich involviert waren. Das Vorbild für Work-Out lieferte die traditionelle neuenglische Gemeindeversammlung. Gruppen von 40 bis 100 Mitarbeitern wurden aufgefordert, sich zu ihrem Unternehmen und der Bürokratie zu äußern, insbesondere zu Genehmigungen, Berichten, Sitzungen und Leistungsmessungen.
Work-Out war wörtlich zu verstehen: Wir wollten unnötige Arbeit aus dem System entfernen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollte jeder Unternehmensbereich hunderte von Work-Out-Versammlungen abhalten. Es sollte ein gewaltiges Programm werden.
Eine typische Work-Out-Veranstaltung dauerte zwei bis drei Tage. Der Manager gab den Startschuss, indem er eine bestimmte Aufgabe formulierte oder eine umfassende Zielsetzung vorschlug. Anschließend zog er sich zurück. In Abwesenheit des Chefs und mit Unterstützung des Moderators begannen die Mitarbeiter, Probleme aufzulisten, Lösungsvorschläge zu diskutieren und sich darauf vorzubereiten, ihre Ideen dem Vorgesetzten vorzulegen. Der neutrale Moderator (...) erleichterte den Meinungsaustausch zwischen den Mitarbeitern und dem Manager.
Die eigentliche Neuerung bestand darin, dass wir die Manager verpflichteten, auf der Stelle über die Vorschläge zu entscheiden. Sie hatten zumindest 75 Prozent der Ideen sofort anzunehmen oder abzulehnen. War es nicht möglich, sofort eine Entscheidung zu fällen, so musste sie bis zu einem bestimmten Termin erfolgen. Es war unmöglich, einen Vorschlag in der Schublade verschwinden zu lassen. (S. 197)

Stellen Sie sich, nach dieser Lektüre, doch ein paar einfache Fragen: Gibt es in Ihrem Betrieb auch tatsächlich betriebliche Maßnahmen, die eine Lernsituation sicherstellen? Gibt es Moderatoren, die für die entsprechende Freiheit der Meinungsäußerung Sorge tragen? Ist Wissen wirklich die integrierende Zielsetzung Ihrer Organisation? Werden die Manager durch entsprechende Regeln wirklich unter Druck gesetzt, das Wissen der Mitarbeiter zu bewerten und zu realisieren? Nicht? Dann können, sollten und müssten Sie von GE lernen:

Als die Mitarbeiter sahen, dass ihre Ideen tatsächlich umgehend in die Praxis umgesetzt wurden, verwandelte sich Work-Out in das Jüngste Gericht für die Bürokratie. (…)
Mitte des Jahres 1992 hatten 200 000 Mitarbeiter von GE an Work-Outs teilgenommen. Der Gedanke, auf dem das Programm beruhte, lässt sich am besten mit den Worten eines Arbeiters mittleren Alters beschreiben: "25 Jahre lang haben Sie nur meine Hände bezahlt, obwohl Sie auch meinen Verstand hätten haben können - und zwar gratis." (S. 198)

Setzen wir den - zugegeben unangenehmen - Fragenkatalog fort: Ist in Ihrer Firma nicht etwa umgekehrt die Bürokratie das Jüngste Gericht für Kreativität? Haben Sie Initiativen und Zahlen vorzuweisen, die zum Ausdruck bringen, dass unternehmensweites Lernen ein bewusster Bestandteil des Betriebssystems ist? Nein? Dann wird es Zeit, dass Sie von GE lernen. Denn die Ergebnisse eines lernfähigen Betriebssystems lassen sich einfach nicht leugnen:

Work-Out bestätigte, was wir bereits wussten Die Leute, die die Arbeit tatsächlich machen mussten, verstanden am meisten davon. Fast alle vorteilhaften Entwicklungen im Unternehmen haben ihren Ursprung darin, dass eine Betriebseinheit, ein Team oder ein einzelner Mitarbeiter autonom entscheiden durfte. Work-Out setzte die Kreativität vieler Mitarbeiter frei. Das Programm trug dazu bei, eine Kultur zu schaffen, in der sich jeder zu beteiligen begann, in der die Ideen aller Mitarbeiter zählten und in der die Führungskräfte führten, anstatt Kontrolle auszuüben. Sie coachten die Mitarbeiter, anstatt vor ihnen zu predigen. Die Resultate gaben uns Recht. (S. 198)

Wer über Kreativität, Innovation und Wissensgesellschaft spricht, der muss sein Betriebssystem mobilisieren. Daran führt keine Erkenntnis vorbei. Fantasielosigkeit gegenüber den eigenen Geschäftsprozessen ist in Deutschland leider an der Tagesordnung. Wenn uns die Exportzahlen nicht über Wasser halten, beschränkt man sich darauf, Kosten zu senken, Produktionseinheiten zu schließen oder auszulagern und das Kerngeschäft zu forcieren. Die Neugestaltung des Betriebs jedoch bleibt außen vor. Obschon sich gerade hier ein gewaltiges Einsparpotenzial realisieren lässt und neue profitable Ideen generiert werden könnten. Armes Deutschland - fantasiearmes Deutschland.

Grenzenlosigkeit

Der Idee des grenzenlosen Verhaltens ist das entscheidende Bindemittel des gesamten Betriebssystems bei GE. Ausgangspunkt für den Begriff Boundaryless ist der Versuch, eine sprachliche Synthese für die Arbeitsweise des Betriebs zu finden:

Work-Out hatte sich als gewaltiger Erfolg erwiesen. Wir trieben die Bürokratie mit dem Programm vor uns her. Überall im Unternehmen brachen sich neue Ideen Bahn. Und ich suchte nach einem Begriff, um dieses Phänomen zu beschreiben, nach einem Slogan, der von der ganzen Organisation Besitz ergreifen und den Ideenaustausch auf ein höheres Niveau heben konnte. (S. 200)

Welch knüpft dabei an eine seiner Lieblingsvorstellungen an - das so genannte "geistige Kapital". Das geistige Kapital einer Firma zu nutzen bezeichnet jenen Idealzustand, in dem jeder Mitarbeiter vom Wissen der gesamten Organisation profitiert. Das heißt also "... die geistige Kapazität von mehr als 300 000 Menschen jedem Einzelnen von ihnen zugänglich zu machen". (S. 200) 1989, während der Flitterwochen mit seiner zweiten Frau Jane Beasley auf Barbados, wird Jack Welch eine sprachliche Erleuchtung zuteil:

Ich sprach die ganze Zeit darüber, wie Work-Out die Grenzzäune niederriss. Plötzlich kam mir das Wort "grenzenlos" in den Sinn. Tatsächlich ließ sich mit diesem Wort mein Traum für das Unternehmen zusammenfassen. Es ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. So seltsam das auch klingen mag Ich fühlte mich, als wäre mir eine bahnbrechende wissenschaftliche Entdeckung gelungen. (S. 201)

Den Traum für das Unternehmen in einem inspirierenden Wort zusammenzufassen ist eine außerordentlich wichtige Managementkompetenz. Nur auf diese Weise lässt sich das Unternehmen tatsächlich erreichen, nur auf diese Weise eine einheitliche Idee und Zielsetzung entwickeln, die für alle verbindlich ist und letztendlich zum Erfolg führt. Welch ist sich über die Bedeutung dieses sprachlichen Kraftaktes vollkommen im Klaren:

Ich prägte früh den Begriff der "integrierten Diversität", um den Angehörigen von GE den Vorteil eines Gedankenaustauschs über die Unternehmensbereiche hinweg vor Augen zu führen. Doch dieses Konzept funktionierte nicht. Die "integrierte Diversität" war Managementjargon. Der Begriff war zu unpersönlich und nicht menschlich genug. (S. 205)

Es ist verblüffend, was ein paar Worte bewirken können - oder auch nicht. Selbstverständlich genügte ein Wort oder eine Phrase nicht. Wir mussten ein System errichten, um das Konzept in die Tat umzusetzen. (S. 206)

Persönliche und menschliche Worte zu finden, sprachliche Fantasie und Überzeugungskraft können also sehr viele Energien freisetzen. Und bevor wir die Implementierung der "Grenzenlosigkeit" im System weiter verfolgen, lohnt sich ein Blick auf die charakteristische Art und Weise, in der Welch seine Sprache einsetzt und überwältigende Resonanz im Unternehmen erzielt:

Wenn ich eine Idee oder Botschaft hatte, die ich in der Organisation etablieren wollte, konnte ich nicht oft genug darauf hinweisen. Ich wiederholte sie immer und immer wieder, bei jedem Meeting und jeder Besprechung, jahrelang, bis ich es selbst schon nicht mehr hören konnte. Ich war immer der Meinung, ich müsse unermüdlich auf einer Idee beharren, um hunderttausende Menschen restlos davon zu überzeugen. (…) "Boundaryless" ist ein klobiges Wort, das ich kaum über die Lippen brachte, und ich verhaspelte mich unzählige Male. Dennoch wiederholte ich es bis zum Umfallen.

In dieser Hinsicht war ich oft maßlos und vielleicht sogar besessen. Ich weiß nicht, ob dass der einzige Weg ist, aber in meinem Fall führte er zum Ziel. (S. 401)

Die Maßlosigkeit und Besessenheit des propagandistischen Wiederholungstäters Welch folgt einem richtigen Instinkt. In sozialen Gemeinschaften bindet das gesprochene und lebendige Wort, nicht der tote Buchstabe. Und nichts erzeugt so viel Stimmung im Unternehmen wie das persönliche Wort des Chefs, der bis zu 70% des Arbeitsklimas beeinflusst:

Alle orientieren sich am Chef. Die Leute beziehen ihre emotionalen Hinweise von oben. Selbst wenn der Chef nicht unmittelbar greifbar ist -, wie der Geschäftsführer, der im obersten Stock hinter geschlossenen Türen arbeitet - wirkt sich seine Haltung auf die Stimmung seiner engsten Mitarbeiter aus, die sie wiederum an ihre Mitarbeiter weitergeben, sodass es zu einem Dominoeffekt kommt, der das emotionale Klima des gesamten Unternehmens beeinflusst. (Goleman (2002), S. 27)

Wie erfolgreich Welch es versteht, eine positive emotionale Kettenreaktion im Unternehmen auszulösen, belegt die Allgegenwart seiner Sprache:

Ich betrachtete jedes Meeting als Baustein des Ideengebäudes. Ein Baustein wurde auf den anderen gesetzt, um die Ideen zu erweitern und zu vervollkommnen. So wurden die Versammlungen mehr als nur eine Reihe langweiliger, zeitaufwändiger Geschäftssitzungen. Neue Mitarbeiter erklären oft, die Besonderheit von GE liege darin, dass es seine zentralen Ideen ständig wiederhole, Sitzung für Sitzung für Sitzung. (S. 207)

Sitzung für Sitzung für Sitzung - das ist ein Musterbeispiel für die von Goleman und seinen Kollegen geforderte "Resonanz" des emotional intelligenten Managers. Doch hat es die Emotionale Intelligenz bislang versäumt, den überragenden Stellenwert der Sprache des Chefs genauer ins Visier zu nehmen. Stimmung und Verhalten des Chefs werden nicht unwesentlich durch mündliche Kommunikation durch das Unternehmen geschleust. Denn Sprache ist immer noch das entscheidende Medium von Botschaften, wenn auch zweifellos begleitet von nonverbaler Ausdrucksfähigkeit im persönlichen Kontakt. Wie Welch richtig analysiert: Es ist unglaublich, was ein paar Worte auslösen können - oder auch nicht.

Genau an diesem Punkt, wo wir die Sprache reflektieren, gibt es eine hochinteressante Parallele zwischen Literatur und Management: Die ursprüngliche kulturelle Sprachäußerung der Menschheit ist poetisch und zeigt eine auffällig exakte Übereinstimmung mit Golemans Idee einer emotionalen Kettenreaktion. Und zwar in Form eines magisch-magnetischen Dominoeffekts. Im Kanon der Weltliteratur gibt es für dieses Phänomen vielleicht keinen besseren Beleg als Platons Dialog "Ion", der sich über Herkunft und Wirkung der Poesie wie folgt äußert:

... eine göttliche Kraft, welche dich bewegt, wie in dem Steine, der vom Euripides der Magnet (...) genannt wird. Denn auch dieser Stein zieht nicht nur selbst die eisernen Ringe, sondern er teilt auch den Ringen die Kraft mit, dass sie eben dieses tun können wie der Stein selbst, nämlich andere Ringe ziehen, so dass bisweilen eine ganze lange Reihe von Eisen und Ringen aneinander hängt; allen diesen aber ist ihre Kraft von jenem Steine angehängt. Ebenso auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze Reihe anderer durch sie sich Begeisternder. Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und ebenso die rechten Liederdichter, und so wenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind, mit vernünftigem Bewusstsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewusstsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie von Harmonie und Rhythmus erfüllt sind (...). (Platon (1957), Bd. I, S. 102f.)

Vermutlich ist sich Welch bei seinen "besessenen" Sprachaktivitäten nicht über die Tradition im Klaren, in der er eigentlich steht: Das menschliche Wort als kraftvoller Mythos, der Orientierung und Identität in einer Gemeinschaft stiftet, eine bindende Idee, die den Enthusiasmus aller Mitglieder entfesselt:

Der Gott aber zieht durch alle diese die Seelen der Menschen wohin er will, indem er der einen Kraft an den andern anhängt. Und wie an jenem Steine, so hängt auch hier eine gar lange Reihe von Chorsängern und Lehrern des Chors und Unterlehrern, die wieder seitwärts angehängt sind, an den an der Muse hängenden Ringen. (Platon, S. 105)

Wir betreiben hier übrigens keine romantische Ursprungstheorie der Sprache. Poesie ist nachweisbar älter als Philosophie und Wissenschaft. Das lebendig gesprochene Wort des Rhapsoden, des Verkünders der Götter, der die magisch-poetischen Formeln rezitiert, ist die erste literarische Äußerung menschlicher Gemeinschaften, die erste universelle Orientierung, die bis in die Anfänge der Stammeskulturen zurückdatiert:

Das Dichten ist eine der frühesten ästhetischen Betätigungen des menschlichen Geistes. Wenn man die Poesie in der frühen literarischen Kunst eines Volkes nicht als eine spezielle Form findet, liegt das daran, dass sie mit der Literatur als Gesamterscheinung identisch und gemeinsames Ausdrucksmittel für Geschichte, Religion, Magie und sogar für das Recht ist. Wo die frühe Kultur eines Volkes erhalten geblieben ist, erweist sie sich als fast ausnahmslos lyrisch, nämlich rhythmisch oder metrisch in ihrer Form. Die Griechen, Skandinavier, Angelsachsen, Romanen, Inder, Chinesen, Japaner und Ägypter beweisen diese allgemeine Feststellung. (Caudwell (1971), Einführung, II)

In der sozialen Gemeinschaft eines Unternehmens, das lässt der von Goleman ermittelte Dominoeffekt emotionaler Reaktionen vermuten, wird Sinn und Orientierung durch das lebendige Wort des Chefs mächtig befördert. Das Ausmaß, in dem Geschichten, Erzählungen und bestimmte Stichwörter eine Organisation prägen, belegt ihre Fähigkeit, sich selbst zu definieren, eine eigene Identität zu entwickeln und Sinnkonstruktionen zu schaffen, die in Krisen Mut und Orientierung geben. Das wird durch die Idee des "Sensemaking" (Karl. E. Weick) oder die "Resilience" (Diane L. Coutu, Warren Bennis) längst auch bei den Management-Forschern anerkannt. Eine Firma, die keine charakteristischen Erzählungen vorzuweisen hat, keine Gründungsmythen, an denen weiter gesponnen wird, keine symbolischen Fälle, die als vorbildlich empfunden werden, verliert ihre Identität und gerät in gefährliche Desorientierung. Bei dem ständigen Wechsel der Ereignisse bedarf es der stabilen Sinngebung durch einen firmeneigenen Mythos, der die soziale Gemeinschaft stark zusammenschweißt. Diese Erfahrung ist, wortwörtlich, so alt wie die Menschheit.
Was also wird in Ihrer Organisation erzählt? Welche Geschichten gibt es? Wird die Tradition nur historisch erinnert oder enthusiastisch erneuert? Gibt es aufschlussreiche Anekdoten? Wie sieht der Unternehmenscode aus? Gibt es Träume und Visionen, die prägnant und allgemeinverständlich zusammengefasst werden? Wenn Sie in Deutschland arbeiten, sprechen Sie wahrscheinlich nur noch über Kostenreduktion. - Ganz anders GE und Jack Welch: Hier ist der Chef der Rhapsode der Globalisierung, ein Hohepriester der Realität und des Wettbewerbs, ein Besessener, der Siege zelebriert, ein großer Mythenmacher und leidenschaftlicher Erzähler, der alles Schriftliche hasst und das lebendige Wort "bis zum Umfallen" verbreitet. Direkt auf der Achse der persönlichen Kommunikation. "Straight from the gut". - Dem deutschen Management sollte langsam dämmern, dass die sprachlich effiziente Übertragung von Emotionen eine der wichtigsten Führungskompetenzen darstellt. Vielleicht sogar die wichtigste. Eine Firma ohne Mythos wird keine guten Leute anziehen oder lange halten können. Und gute Leute, wir erinnern uns, sind wichtiger als die brillanteste Strategie.

Beobachten wir nun, wie instinktsicher Welch seine Gemeinde "GE" führt. Denn natürlich reicht die Sprache allein nicht aus, um die Implementierung von "Boundaryless" zu bewirken. Dramatische Szenen, unterstützt von administrativen Maßnahmen, sind keineswegs zu verachten. Besonders das wirkungsvolle Rollen der Köpfe. Schritt eins: Welch macht Boundaryless zum festen Bestandteil von Personalbeurteilungen:

Im Jahr 1991 begannen wir, den Managern im Rahmen der Personalbeurteilungen Noten für ihre Fähigkeit zu grenzenlosem Verhalten zu geben. Jeder Manager im Unternehmen wurde aufgrund der Beurteilung durch seine Kollegen und später ausgehend vom Urteil seiner Vorgesetzten eingestuft. (S. 203)

Schritt zwei: Welch entwickelt 1992 eine innovative Manager-Typologie, die eine Beurteilung des grenzenlosen Verhaltens erleichtert. Die tragende Säule dieses Konzepts ist die Aufwertung der kulturellen Eignung, die den gleichen Rang erhält wie die finanziellen Ergebnisse. Der Manager des Typs 1 bringt Ergebnisse und passt zur Kultur. Hier gibt es keine Probleme. Der Manager des Typs 2 bringt weder die Ergebnisse noch die kulturelle Eignung mit. Auch hier fällt die Entscheidung leicht. Er muss gehen. Typ 3 teilt die Werte des Unternehmens, liefert aber nicht die gewünschten Resultate - solche Führungskräfte haben eine weitere Chance verdient. Das zentrale Problem ist der Manager des Typs 4: Er bringt hervorragende Ergebnisse, passt aber kulturell nicht zum Unternehmen. Auch er muss gehen. Und dies ist die zentrale Neuerung der Personalbeurteilung: Mangelnde kulturelle Eignung ist ein Entlassungsgrund:

"Typ 4" stellt uns vor die größten Schwierigkeiten. Ein solcher Manager hält all seine Zusagen ein, liefert die geforderten Ergebnisse, teilt jedoch die Werte nicht. Manager dieses Typs zwingen ihre Mitarbeiter üblicherweise zu Leistungen, statt sie zu motivieren. Wir haben es in diesen Fällen mit Autokraten, mit Tyrannen zu tun. Allzu oft verschließen wir angesichts der Leistungen solcher Manager die Augen vor ihren schweren Mängeln. Ich selbst habe das mehr als einmal getan.

In früheren Zeiten mochte das funktioniert haben. Doch in einem Unternehmen, das die Grenzenlosigkeit zu einem seiner Wesenszüge machen wollte, konnten wir uns Manager des Typs 4 auf gar keinen Fall mehr leisten". (S. 203)

Dies erklärt Welch 1992 in Boca Raton, wo er ostentativ auf das Fehlen einiger Manager aufmerksam macht, die er dem Typ 4 zurechnet. Welch verkündet vor versammelter Mannschaft:

"Der Grund dafür, dass ich mich so ausführlich damit beschäftige, liegt darin, dass es wirklich wichtig ist. Wir können nicht über die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, über Ehrlichkeit, Globalisierung, Grenzenlosigkeit, Geschwindigkeit und Empowerment sprechen und gleichzeitig mit Leuten arbeiten, die diese Werte nicht verinnerlichen. Jeder Einzelne von uns muss den Worten Taten folgen lassen."
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Als ich ihnen sagte, dass ein Mangel an grenzenlosem Verhalten ein Kündigungsgrund sei, begriffen sie, worum es ging. Man konnte sie geradezu denken hören: Die meinen das tatsächlich ernst. (S. 204)

Wer derartige Geschichten nicht zu inszenieren versteht und seine Ernsthaftigkeit nicht mit unmissverständlichen administrativen Maßnahmen untermauern kann, der sollte das Wort Firmenkultur erst gar nicht in den Mund nehmen. Gibt es diese Konsequenz in Ihrer Firma? Für US-amerikanische Firmen jedenfalls ist die Idee des "Cultural fit" (Intel) zunehmend ein Einstellungs- wie auch ein Entlassungsgrund.

Es folgt Schritt 3: Schon 1989 führt Welch ein neues Bezahlungssystem ein. Bonusse werden in Aktienoptionen ausbezahlt, um jedem Mitarbeiter und jeder Abteilung zu verdeutlichen, dass die Wertsteigerung des gesamten Unternehmens zählt:

Wenn wir wollten, dass sich die Unternehmensbereiche in Ideenlaboratorien verwandelten, mussten wir die Leute entsprechend bezahlen. (...) Ich wollte, dass die Resultate des Gesamtunternehmens und der Aktienkurs größere Bedeutung für die Leute erhielten als die Ergebnisse ihrer Unternehmensbereiche. (S. 206)

Motivation beginnt beim Geldbeutel, eine Lektion, die schwerer wiegt als schöne Sonntagsreden. Das Betriebssystem von GE lässt diesen Gesichtspunkt niemals außer Acht und richtet sich gezielt danach aus.
Schritt 4: Nach der Einführung des Begriffs "Boundaryless" erfolgt eine komplette Neueinrichtung des gesamten Betriebssystems, das sich konsequent am Ideenaustausch orientiert:

Wir mussten eine Methode entwickeln, um die besten Ideen zutage zu fördern und rasch durch die Organisation zu schleusen.
So gestalteten wir ein neues Betriebssystem. Wie in jedem Unternehmen fanden auch bei uns im Lauf eines Jahres zahlreiche Versammlungen des Managements statt, in denen Aktivitäten geplant, die Resultate vorgelegt und die Fortschritte geprüft wurden. Die Grenzenlosigkeit verknüpfte diese Versammlungen zu einem Betriebssystem, das auf dem stetigen Fluss der Ideen beruhte. (S. 207)

Dieses legendäre Betriebssystem sieht in seinen Grundzügen wie folgt aus: Im Januar treffen sich die 500 führende Betriebsmanager in Boca Raton. Dort werden die besten Ideen und Mitarbeiter gefeiert. Das Treffen dauert zwei Tage und präsentiert knappe Fortschrittsberichte. Im März findet das erste Quartaltreffen, das "Corporate Executive Council (CEC) in Crotonville statt. Auch dies dauert zwei Tage und setzt sich aus 35 Teilnehmern zusammen (den Leitern der Unternehmensbereiche plus den Spitzenmanagern aus der Konzernzentrale). Hier wird der aktuelle Stand der Tätigkeiten mit Bezug auf die Unternehmens-Initiativen besprochen. Zur Bedingung des Treffens wird eine neue Idee gemacht, die auch von anderen Einheiten übernommen werden kann. Im April/Mai folgen die Personalbeurteilungen, im Juni und Juli die Strategieanalysen sowie die Beobachtung der Konkurrenz. Darauf folgt eine zweistündige Videokonferenz: Dort müssen die Korrekturen einer zu schleppenden Umsetzung der Initiativen durchgeführt worden sein. Im Oktober wird das Jahrestreffen von 170 Führungskräften in Crotonville veranstaltet. Es dient der Sichtung von Strategieanalysen und Personalbeurteilungen. Und im November schließlich werden die Betriebspläne für das kommende Jahr präsentiert. Dann geht es wieder nach Boca Raton, wo die Wahl der besten Ideen aus dem Jahresverlauf zelebriert werden. Welch, der berüchtigte Gegner der Bürokratie, unterstützt dieses nahtlose System des Ideenaustauschs mit einer zentralen Lenkungsgruppe für Konzerninitiativen - den einzigen neuen Stab, den er geschaffen hat. Er ist kein Dogmatiker und sieht auch in der Macht der Zentrale ein mögliches Gestaltungsmittel.
Mittlerweile ist dieses Betriebssystem selbst zu einem Mythos der globalen Ökonomie geworden. Stolz fasst Welch zusammen:

Die Aktienoptionen hatten es uns ermöglicht, den Prozess in Gang zu bringen. Das Betriebssystem verknüpfte die Punkte miteinander und verwandelte einen Prozess, der ansonsten aus einer Reihe von Routinesitzungen bestanden hätte, in einen Lernzyklus. Eine Personalbeurteilung, die das grenzenlose Verhalten in den Mittelpunkt rückte, bewegte die Mitarbeiter dazu, sich um den Ideenaustausch zu bemühen. Eine für die Initiativen zuständige Abteilung in der Zentrale beschleunigte die Veränderungen. (S. 210)

Die Gestaltung der Geschäftsprozesse ist somit die absolute organisatorische Kernkompetenz für ein globales Unternehmen - während in Deutschland gebetsmühlenhaft die Kostenfaktoren heruntergebetet und die allgemeine Amerikanisierung und Brutalität des Turbo-Kapitalismus sinnlos beklagt werden.
Genau aus diesem Grund klingen die Vorteile des Betriebssystems von GE hier zu Lande wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht:

In dem grenzenlosen Unternehmen, das mir vorschwebte, würden alle Mauern zwischen den Funktionen - Entwicklung, Herstellung, Marketing und so weiter - niedergerissen. Wir würden nicht mehr zwischen "inländischer" und "internationaler" Aktivität unterscheiden, sondern ebenso gern in Budapest und Seoul arbeiten wie in Louisville und Schenectady.

Ein grenzenloses Unternehmen würde auch die Mauer zur Außenwelt beseitigen, um seine Lieferanten und Abnehmer in einen einzigen Prozess zu integrieren. Es würde die Grenzen zwischen den Geschlechtern und ethnischen Gruppen aufheben. Es würde dem Team Vorrang vor dem Einzelnen geben.
Seit Bestehen des Unternehmens hatten wir den Erfinder oder den Urheber einer guten Idee stets belohnt. Boundaryless würde nicht nur den Urhebern guter Ideen, sondern auch jenen Anerkennung zollen, die eine solche Idee erkannten und entwickelten. Damit wurden die Führungskräfte ermutigt, die Anerkennung für hervorragende Ideen mit ihren Teams zu teilen, anstatt sie für sich allein in Anspruch zu nehmen. Dies veränderte die Beziehungen zueinander im Unternehmen grundlegend. (S. 201)
Zudem würde uns Boundaryless für die besten Ideen und Arbeitsmethoden anderer Unternehmen empfänglich machen. Wir hatten bereits damit begonnen, das Not-Invented-Here-Syndrom (NIH) zu bekämpfen, indem wir die Kanban-Produktionsmethode aus Japan übernommen hatten, die ein Vorläufer der Just-in-Time-Produktion war. Doch Boundaryless ging viel weiter. Ich wollte, dass jeder Mitarbeiter von GE den Tag mit dem Ziel begann, "einen besseren Weg zu finden". Der Slogan "Finding a Better Way Every Day" wurde in unseren Produktionsanlagen und Büros in aller Welt an die Wände geheftet.
Die Idee erfüllte die von Work-Out begründete Lernkultur mit neuem Leben. Bereits im Jahr 1990 konnten wir beobachten, dass die Unternehmensbereiche begannen, untereinander Wissen auszutauschen. Boundaryless war einfach der Begriff, den wir gebraucht hatten, um diesen fließenden Austausch zu beschreiben und im Alltag der Unternehmenstätigkeit zu verankern. Wir nutzten den Slogan, um Mitarbeiter in Bedrängnis zu bringen, die eine Idee für sich behalten wollten, oder um Manager unter Druck zu setzen, die nicht bereit waren, einen guten Mitarbeiter an einen anderen Bereich abzutreten. Solche Leute mussten sich nun scherzhafte Kommentare anhören: "Na, wenn das kein grenzenloses Verhalten ist!" Sie verstanden die Botschaft. (S. 202f.)

Dass diese Vorteile auch in Deutschland gewünscht werden, steht zwar außer Frage. Aber unsere Sicherheitsmentalität weigert sich, experimentell zu lernen. Schon gar nicht von anderen. Wir machen das, was wir immer getan haben. Nur intensiver. Zweifellos sind wir heute Opfer unserer überragenden Exportkarriere nach dem Zweiten Weltkrieg, verwöhnte und gleichzeitig verdorbene Kinder. Kundenorientiertes Denken ist ein Fremdwort für uns. Schließlich haben wir doch unsere Produkte. Leistung, Motivation und kreative Geschäftsprozesse erscheinen uns als Zumutung, die unsere idyllische Routine grausam zerstört. Die eigentliche Zumutung aber ist der internationale Wettbewerb, die entfesselte Informationsgesellschaft und das erbarmungslose Diktat der Geschwindigkeit. Wenn wir die bittere Lektion gelernt haben, dass das Leben riskant ist und dass wir endlich besser kommunizieren müssen, dann werden wir wieder erfolgreich sein. Keinen Tag früher.
Was Jack Welch betrifft, so dürfen wir ihm getrost ein Höchstmaß Emotionaler Intelligenz bescheinigen. Er war der leidenschaftliche Antrieb eines lernenden, kooperativen und pfeilschnellen Betriebssystems, das durch überragenden wirtschaftlichen Erfolg bewiesen hat, wie entscheidend die Wettbewerbsfähigkeit von Kommunikationsfähigkeit abhängt. Vielleicht bedarf es heute dieser starken und informellen Manager-Typen. Und mir scheint die These, wonach ein Superstar-CEO einen viel geringeren Einfluss hat, als ihm der öffentliche Mythos zuschreibt, im Falle wirklicher Superstars wie Welch völlig haltlos. Das beweist der hohe Einfluss, den der Chef auf das Arbeitsklima hat. Und die Tatsache, dass bevorzugt informelle Beziehungen - die kurzen Kommunikationswege - die Voraussetzung für profitable Betriebssysteme schafft. Alles andere, die Technologie, die Marktanalysen, die Kosten sind demgegenüber nachgeordnet. Was immer Sie auch tun: Ihr Erfolg hängt von kommunikativen Prozessen ab. Ohne Vertrauen, ohne die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, entsteht kein Informationsfluss. Und ohne kritische Selbstwahrnehmung fehlt der gegenseitige Respekt. Diese so utopisch klingenden Arbeitsbedingungen bringen hier und heute Profit. Wenn Sie einen Chef haben, der verstanden hat, worum es geht.

© 2004 Günter Bachmann

Literatur:

  • Christopher Caudwell, Bürgerliche Illusion und Wirklichkeit, München 1971.
  • Clausewitz. Strategie denken. Hrsg. v. Strategieinstitut der Boston Consulting Group, München 2001.
  • J.W.v. Goethe, Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, München 1981.
  • Charles Handy, Management-Stile, Hamburg 1988.
  • HBR = Harvard Business Review
  • G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Stuttgart 1970.
  • Christoph Helferich, Geschichte der Philosophie, Stuttgart 1992.
  • Clarence J. Mann/Klaus Götz (Herausgeber), The Development of Management Theory and Practice in the United States, Boston 2002.
  • Friedrich Nietzsche, Werke, München 1969.
  • Platon, Sämtliche Werke, Hamburg 1957.
  • Jack Welch, Was zählt. Die Autobiografie des besten Managers der Welt, München 2003.