Folgender Text ist ein Auszug aus:

Günter Bachmann
Literatur und Management
Kulturelle Dimensionen der Emotionalen Intelligenz
Artislife Press Hamburg 2005. ISBN 3-938378-05-0

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Hermann Hesses Siddhartha: Fünf Argumente für Führungskräfte

Ein Auszug aus dem Buchprojekt „Literatur und
Management“
von Dr. Phil. Günter Bachmann

Vorbemerkung

Nur wenige Exemplare aus der erzählenden Literatur
dürften von der Welt des Managements weiter entfernt sein als
Hermann Hesses Siddhartha. Die Dichtung entstand Anfang der
20er Jahre des letzten Jahrhunderts und geriet nach dem Zweiten
Weltkrieg weitgehend in Vergessenheit. Erst Mitte der 60er Jahre
erlebte Siddhartha eine explosive Renaissance in den USA und
wurde zum literarischen Inbegriff der psychedelischen
Hippie-Kultur. Identitätssuche, jugendlicher Protest gegen
kapitalistische Wertvorstellungen, Bewusstseinserweiterung, halb
idyllisierende, halb utopische Sehnsucht nach meditativer Harmonie
und Einheit – das sind bis heute die farbigen Etiketten, die
diesem Buch hartnäckig anhaften. Keine Kluft könnte also
tiefer und breiter sein als die zwischen jener „indischen
Dichtung“ und dem Selbstverständnis eines effizienten
Managers.
Dennoch eröffnet eine Analyse, die sich an den Erkenntnissen
der Emotionalen Intelligenz orientiert, überraschende
Einblicke. Die in Siddhartha dargestellten meditativen
Bewusstseinstechniken kombinieren höchste Konzentration mit
absolut zielgerichtetem Handeln. Fünf klar umrissene Argumente
konnten ermittelt werden, die für kommunikative Kompetenz
förderlich sind. Sie stehen in engem Zusammenhang mit neuen
„Leadership“-Modellen, die Individualismus,
Selbsterkenntnis, Einfühlungsvermögen und Selbstkontrolle
empfehlen. Allerdings gibt es in Siddhartha Differenzen auch
zum modernen Management. Sie sind vor allem kulturell bedingt.
Besonders das Zeitverständnis der indischen Religiosität
ist gänzlich unvereinbar mit westlichen Traditionen. Wenn
diese unaufhebbaren Differenzen nicht gewaltsam geleugnet werden,
lassen sich jedoch aufschlussreiche interkulturelle Lehren daraus
ziehen. Und auch diese steigern das Argumentationspotenzial global
agierender Führungskräfte.

Hermann Hesses Siddhartha: Fünf Argumente für Führungskräfte

Ein gutes Beispiel für Durchsetzungsvermögen und
zielgerichtetes Handeln bietet Hermann Hesses Roman
Siddhartha (1922). Die Familie des Helden gehört den
Brahmanen an, einer altehrwürdigen Priesterkaste, die den
Göttern opfert und die Rituale pflegt. Der junge Siddhartha
scheint ein Musterbeispiel dieser religiösen Organisation.
Früh schon macht er durch Gelehrsamkeit und Meditation von
sich reden. Aber ausgerechnet er bezweifelt, dass er in der
traditionellen Religionsausübung findet, was er sucht.
Besonders die volkstümliche Vielgötterei seiner Eltern
empfindet der Sohn als zu oberflächlich. Er strebt nach einem
rein geistigen Prinzip, das alle Erscheinungen in sich fasst. Durch
meditative Versenkung hofft er, dem so genannten
„Atman“ zu begegnen, ein für die westliche Welt
nicht sofort verständlicher Begriff. Nach alter brahmanischer
Überlieferung ist der Atman die individuelle Seele, der
belebende „Atem“ oder „Hauch“. Insofern
also durchaus vergleichbar mit dem griechischen Wort
„Psyche“. Die indische Idee der Psyche weicht
allerdings erheblich von den rationalistischen Vorstellungen des
Abendlandes ab: Der Atman nämlich ist identisch mit
„Brahman“, der Weltseele, dem Seienden schlechthin. Und
das heißt konkret: Alles, was existiert, ist eine
Manifestation ein und derselben Substanz. Die räumliche
Trennung zwischen Ich und Du ist Täuschung. Die zeitliche
Trennung zwischen Vergangenheit und Zukunft ist ebenfalls nur ein
Gaukelspiel der Sinnlichkeit (Maya). Die Welt sind wir
selbst. Wir sind mit ihr wesensgleich. Was ich der Welt tue, tue
ich mir selbst. Die Identität von Atman-Brahman ist
nichts Geringeres als der Ursprung und der Grundgedanke der
indischen Religion und Meditation. Wir werden noch sehen, dass
dieser uns fremde Ansatz eine ganz besondere Form des
Durchsetzungsvermögens begründet.
Zu Recht also ist für Siddhartha der Atman das erste,
das ursprüngliche, das tiefere und edlere geistige Prinzip und
damit auch die Grundlage der Götter: „Waren nicht die
Götter Gestaltungen, erschaffen wie ich und du, der Zeit
untertan, vergänglich? War es also gut, war es richtig, war es
ein sinnvolles und höchstes Tun, den Göttern zu
opfern?“ (S. 9) Der junge Mann wagt einen unerhörten
Schritt. Er stellt Tradition und Herkommen in Frage, indem er sie
auf ihren eigenen Ursprung zurückführt. Und er zitiert
selbstsicher aus der heiligen Überlieferung der
Brahmanenpriester (den Upanishaden) den Vers: „Deine
Seele ist die ganze Welt“. (10). Das ist der oben skizzierte
Grundgedanke jener Identität von Ich und Welt. Die
Schlussfolgerung, die Siddhartha daraus zieht, ist messerscharf:
Die Brahmanen haben diesen Ursprung vergessen und projizieren in
die täuschende Erscheinungswelt eine Vielzahl von
institutionalisierten Göttern. Die lebendige Erfahrung des
Göttlichen ist in Dogmen, Regeln und Zaubersprüchen
mumifiziert worden. Die Religion hat hier zwar die wichtige
Funktion sozialer Spielregeln übernommen. Aber der Preis
dafür besteht im Vergessen des entscheidenden Prinzips.
Siddhartha leugnet keineswegs den gewaltigen gesellschaftlichen
Überbau, den die Brahmanen organisatorisch bis ins letzte
Detail durchgestaltet haben: „Alles wussten sie, die
Brahmanen und ihre heiligen Bücher, alles wussten sie, um
alles hatten sie sich gekümmert und um mehr als alles, die
Erschaffung der Welt, das Entstehen der Rede, der Speise, des
Einatmens, des Ausatmens, die Ordnungen der Sinne, die Taten der
Götter – unendlich vieles wussten sie -, aber war es
wertvoll, dies alles zu wissen, wenn man das Eine und Einzige nicht
wusste, das Wichtigste, das allein Wichtige?“ (S. 9)
Schöpferische Ideen, die letztlich jeder historisch
gewachsenen Organisation zugrunde liegen, sind in Hesses Romanwelt
offensichtlich Energien und Prozesse. Ihre Eigenart liegt in ihrer
Dynamik. Und daraus resultiert ein Paradoxon, das alle
Bemühungen um stabile Dauerhaftigkeit ad absurdum führt:
Denn je umfassender Ideen in der Wirklichkeit gestaltet werden,
desto mehr entziehen sie sich dem ursprünglichen Verstehen.
Sie sind unvereinbar mit statischen Gebilden. Und sie lassen alle
Lebensformen hinter sich zurück, in denen sie endgültig
festgeschrieben werden sollen. So wendet sich Siddhartha also von
den Brahmanen ab und versetzt sich wieder in ein lebendiges
Verhältnis zur ursprünglichen Idee: „Und wo war
Atman zu finden, wo wohnte Er, wo schlug Sein ewiges Herz, wo
anders als im eigenen Ich, im Innersten, im Unzerstörbaren,
das ein jeder in sich trug?“ (Ebd.) Das ewig schlagende Herz
der Idee, ihre unaufhebbare Dynamik durchbricht hier eine perfekt
ausgeklügelte religiöse Organisation und reduziert sich
wieder auf das einsam suchende Ich.
Als Siddhartha den Entschluss fasst, zu den Samanas zu
gehen, hat er tatsächlich eine radikale Entscheidung gegen
seine Herkunft getroffen. Samanas sind Asketen, die auf das
ursprüngliche Prinzip des Atman zurückgehen
wollen. Das Mittel hierzu ist die Abtötung des weltlichen Ich
und der Verzicht auf Familie und Privatbesitz. Die Samanas
machen also keine Kompromisse mit der praktischen Lebenswelt. Sie
beziehen eine esoterische Position außerhalb des gemeinen
Volkes, leben bedürfnislos in Wäldern und suchen
spirituelle Erlösung vom Kreislauf des Leidens. Ihre Suche
nach Atman scheint also genau das, was Siddhartha selbst
sucht.
Was lässt sich nun aus diesem Auftakt zu Hesses
„indischer Dichtung“ an Erkenntnissen für
Führungskräfte gewinnen? Bei Veränderungen, so viel
lehrt die Abkehr Siddharthas von den Brahmanen, ist es überaus
wichtig, die grundlegende Idee des Unternehmens auch als
dynamischen Prozess der eigenen Wandlung zu begreifen. Deshalb ist
es notwendig, immer wieder auf den ursprünglichen Ansatz
zurückzugehen und ihn weiterzuentwickeln.

Argument 1: Ursprüngliche Ideen sind dynamisch. Sie
überleben am besten als tragendes Prinzip für permanente
Veränderung.

Das ist die Art, wie traditionelle Organisationen in die Krise
geraten: Ihre ureigenen geistigen Prinzipien werden sträflich
vernachlässigt und sind mit den hierarchischen Formen, in die
sie gegossen wurden, nicht länger vereinbar. Ideen erlauben
keine Statik. Und je perfekter sie verwirklicht werden, desto mehr
entfremden sie sich von ihrem Ursprung. Substanzverlust droht
gerade von den begabtesten und motiviertesten Eingeweihten, die der
ursprünglichen Idee eigentlich am nächsten stehen und
frustriert zur Konkurrenz wechseln. - Hesses Romanheld Siddhartha
liefert für diesen Prozess ein beeindruckendes
Psychogramm.
Der beste Schutz einer starken, traditionellen und
ausgeklügelten Organisation besteht demnach in einer
Veränderungskultur, die immer wieder Kraft aus ihren
Ursprüngen bezieht. Dabei handelt es sich mehr um Werte als um
zeitgebundene Produkte. Eine Firma etwa wie die Robert Bosch GmbH
würde ihre Grundlagen wie auch ihre besten Kräfte
verlieren, wenn sie ihr Bekenntnis zur Qualitätsarbeit jemals
vergessen sollte: Diese Leitlinie ermöglichte dem
Firmengründer, eine kleine feinmechanische Werkstatt zu einem
internationalen Unternehmen auszubauen, das zwei Weltkriege,
dramatische Wirtschaftskrisen, zahlreiche Imitationsprodukte und
juristische Streitigkeiten um Namensrechte erstaunlich robust
überlebte: „Es war einfach so: das Ausland fragte nach
den Bosch-Zündern, und zwar war es der Privatkunde, der die
zuverlässigen Apparate wieder haben wollte.“ (Theodor
Heuss (1986), S. 342) Selbst gegen patriotische Anfeindungen und
Schutzzölle in England, Frankreich und den USA setzte sich
Robert Bosch am Ende durch: „Sein ‚Monopol’ war
nicht durch kapitalistische Marktbeherrschung oder durch
Umschirmung mit Patenten erwachsen, sondern ganz einfach durch die
gute Arbeit.“ (Ebd., S. 366) Die Firmengeschichte von Bosch
ist somit ein Schulbeispiel für das heute so intensiv
diskutierte Phänomen der Resilience. Das Wort
bezeichnet die „Unverwüstlichkeit“ von Menschen
und Organisationen im harten Konkurrenzkampf. Die
Management-Psychologin Diane L. Coutu betont in diesem Zusammenhang
die ethische Basis als wichtigste Voraussetzung: „Die
Wertsysteme unverwüstlicher Unternehmen verändern sich
über Jahre hinweg sehr wenig und werden als Gerüst in
Krisenzeiten benutzt.“ (HBR, May 2002, S. 52) Dieses
Stabilität verleihende Gerüst von Werten ist heute um so
wichtiger, als der Innovationsrhythmus immer schneller und
hektischer pulsiert. Wir leben immer mehr im bloßen Umbau und
Provisorium, die nach flexibler Standfestigkeit, also in der Tat
nach einem „Gerüst“ verlangen. Und diese tragende
Funktion können langfristig nur klar definierte Werte
übernehmen. Coutu stellt nach vielen Fallstudien nüchtern
fest: „Unternehmen, die überleben, haben auch ihre
Überzeugungen, die ihnen Ziele jenseits des bloßen
Geldmachens setzen.“ (Ebd.) Selbst Mike Eskew, der CEO von
UPS, einer Organisation also, die gewiss keiner Romantik
verdächtig ist, bestätigt: „Unsere Strategie und
unsere Mission können sich ändern, unsere Werte aber
niemals.“ (Ebd.) Zweifellos hat der US-amerikanische
Dienstleistungsgedanke das Unternehmen zu einer weltweit
zuverlässigen Größe gemacht.

Sehr ruhig, sehr kurz und sehr trocken eröffnet Siddhartha
seinem Freund Govinda die Entscheidung, ein neues Leben zu
beginnen: „Morgen in der Frühe wird Siddhartha zu den
Samanas gehen. Er wird ein Samana werden.“ (11) Das Ziel
steht merkwürdig unverrückbar fest, sein Eintreffen ist
sicher, ja beinahe zweitrangig, als wäre es eine ausgemachte
Sache. Govinda liest den Entschluss „im unbewegten Gesicht
seines Freundes, unablenkbar wie der vom Bogen losgeschnellte
Pfeil.“ (12) Einmal erkannt, ist das Ziel für Siddhartha
also schlicht gegenwärtig. Das Ziel anvisieren und umsetzen
ist keine umständliche Entwicklung, sondern ein einziger
unteilbarer Akt. Dies ist Teil der indischen Tradition der
Versenkung, die Zeit und Raum eben nur als äußerliches
Blendwerk interpretiert und die Wahrheit in der absoluten
Vereinigung mit der einen, allgegenwärtigen Substanz sucht. In
jedem Moment der Bewegung wird das allgegenwärtige Ziel
bereits getroffen, es gibt keine messbare Veränderung, keine
messbare Distanz, keinen messbaren Prozess:

Om ist Bogen, der Pfeil ist Seele,
Das Brahman ist des Pfeiles Ziel,
Das soll man unentwegt treffen. (S. 11)

Als Govinda Bedenken äußert, Siddharthas Vater, ein
angesehener Brahmane, werde den Entschluss nicht billigen und seine
Erlaubnis verweigern, wacht Siddhartha aus seiner Versenkung auf:
„Pfeilschnell las er in Govindas Seele, las die Angst, las
die Ergebung.“ (S. 12) Offensichtlich versteht er es, seine
meditative Erfahrung ins Leben zu übertragen. Auch in den
Niederungen des bewussten Alltagslebens hält er am Ziel als
ein Gegenwärtiges und Gegebenes „pfeilschnell“
fest: „O Govinda“, sprach er leise, „wir wollen
nicht Worte verschwenden. Morgen mit Tagesanbruch werde ich das
Leben der Samanas beginnen. Rede nicht mehr davon.“ (S.
12)
Sehr selbstsicher eröffnet er deshalb auch dem Vater:
„Mit deiner Erlaubnis, mein Vater. Ich bin gekommen, dir zu
sagen, dass mich verlangt, morgen dein Haus zu verlassen und zu den
Asketen zu gehen. Ein Samana zu werden, ist mein Verlangen.
Möge mein Vater dem nicht entgegen sein.“ (12) Nach
langem Schweigen erwidert der Vater, dass heftige und zornige Worte
einem Brahmanen nicht ziemten, dass er aber diese Bitte nicht zum
zweiten Mal aus Siddharthas Mund vernehmen wolle. Was folgt, ist
jedoch Siddharthas prompte und absolute Vergegenwärtigung des
Ziels. Er bleibt einfach still und unbeweglich mit
verschränkten Armen stehen: „Worauf wartest du?“
fragt der verblüffte Vater. Siddhartha antwortet: „Du
weißt es.“ (12) – Da er sein Ziel als Gegenwart
begreift, setzt er kühn die Zustimmung des Vaters voraus. Er
zwingt ihn gewaltlos, mit einer symbolischen Geste, zum
Einverständnis.
Die ganze Nacht hindurch kehrt sein immer unruhiger werdender Vater
zurück und trifft immer das gleiche Bild an: den reglos und
zeitlos dastehenden Sohn. In seiner zunehmenden Hilflosigkeit sucht
er noch einmal den Dialog. Er werde stehen bleiben, sagt
Siddhartha. Er werde müde werden. Er werde sterben. Aber
einschlafen werde er nicht. Der verdutzte Brahmane hakt nach:
„Und willst lieber sterben, als deinem Vater
gehorchen?“ – „Siddhartha hat immer seinem Vater
gehorcht.“ – „So willst du dein Vorhaben
aufgeben?“ – „Siddhartha wird tun, was sein Vater
ihm sagen wird.“ (S. 14) Wieder ist das Ziel
überwältigend gegenwärtig und setzt die Zustimmung
des Widerstrebenden folgerichtig voraus. Bei Tagesanbruch
beobachtet der Vater zwar ein leichtes Zittern der entschlossen
stehenden Gestalt. Aber: „In Siddharthas Gesicht sah er kein
Zittern, fernhin blickten die Augen. Da erkannte der Vater, dass
Siddhartha schon jetzt nicht mehr bei ihm und in der Heimat weile,
dass er ihn schon jetzt verlassen habe.“ (S. 14) Der Vater
willigt schließlich ein und Siddhartha verlässt die
Brahmanen.
Die traditionelle Religion Indiens zeigt vorbildlich das Wesen von
Entschlusskraft und Durchsetzungsvermögen. Es geht entschieden
darum, sich von zeitlicher „Entwicklung“ – ein
Paradigma europäischer Kultur - nicht irre machen zu lassen:
Unabgelenkt wie ein geradliniger Pfeil trägt die Entscheidung
das Ziel ja bereits in sich. Die Entfaltung des Weges in der Zeit
wird durch absolute Konzentration und Fokussierung bestenfalls eine
nachgereichte Bestätigung. Dafür bedarf es, wie der Fall
Siddharthas zeigt, wortwörtlich Stehvermögen.

Argument 2: Das Ziel ist in der Entscheidung schon gegenwärtig.

Diese Unbeirrbarkeit und Unablenkbarkeit ist offenkundig eine
grundlegende Eigenschaft großer
Führungspersönlichkeiten. So geht zum Beispiel der
Historiker Richard S. Tedlow in einem brillanten Artikel (''What
Titans Can Teach Us'') der Frage nach, wie große
Firmengründer sich ihrer Vision eigentlich so sicher sein
konnten. Woher wusste George Eastman, dass es einen Massenmarkt
für Fotokameras geben wird? Zu einer Zeit, wo kaum jemand eine
Kamera kannte? Woher wusste Henry Ford, dass er mit billigen
Automobilen Erfolg haben wird, als die Preise für dieses
Produkt regelmäßig anstiegen? Woher wusste Sam Walton,
dass große Einkaufsmärkte in abgelegen kleinen
Städten prosperieren werden? Tedlow antwortet lakonisch:
„They just knew.“ (HBR, December 2001, Special Issue,
S. 73) – Sie wussten es eben. Das hat sicher etwas mit der
Fähigkeit zu tun, Markttrends genial vorwegzunehmen. Denn
Entschlossenheit an sich ist noch keine Tugend. Mindestens ebenso
wichtig aber ist die Fähigkeit, an einer Vision wie an einer
gegenwärtigen Zukunft eisern festzuhalten. Sonst wird man
allzu leicht von gescheiterten Vorgängern entmutigt - oder
durch Einwände, deren Verführungskraft gerade in ihrer
Rationalität besteht. Denn die scheinbar unüberwindbare
faktische Gegenwart hat meist die besseren Argumente zur Hand, wenn
Visionäre gebremst werden sollen. Das Titanische der
Industrie-Titanen liegt deshalb gerade in ihrer Unbeirrbarkeit, die
das Ziel permanent trifft und gegenwärtig hält.
Georg Eastman etwa verkündete schon 1894, sechs Jahre bevor
seine weltberühmte Brownie-Kamera auf den Markt kam, mit
großer Zuversicht: „Das offensichtliche Schicksal der
Eastman Kodak Company besteht darin, der weltweit größte
Hersteller von fotografischen Materialien zu werden oder vor die
Hunde zu gehen.“ (Ebd., S. 73) George Eastman beschwört
das Ziel sehr deutlich als faktische Anwesenheit, da er von einem
„offensichtlichen Schicksal“ (destiny) spricht. Die
prognostizierte Entwicklung seiner Firma folgt also einer
Erzählstrategie, die das zukünftige Ziel vor allem als
gegenwärtige Notwendigkeit aufleuchten lässt – als
Moment eines unaufhebbaren Geschickes also, dessen Ende im Grunde
schon beschlossene Sache ist.
Etwas von der zielsicheren, eigentümlich kurz angebundenen,
vor allem aber bezwingenden Entschlusskraft Siddharthas findet sich
bei allen charismatischen Führungskräften. Allein diese
unablenkbare Konzentration auf das Ziel, sein Festhalten als
gegenwärtige Realität, bedingt auch die dynamische
Handlungsfähigkeit der Visionisten. Denn es ist ein
großer Unterschied, so meint auch Siddhartha, Visionen
bloß zu haben oder sie konsequent umzusetzen: „Wo war
der Kundige, der das Daheimsein im Atman aus dem Schlafe
herüberzauberte ins Wachsein, in das Leben, in Schritt und
Tritt, in Wort und Tat?“ (S. 10) Wer sein Ziel als
Realität vergegenwärtigen will, hält seine
Entschlossenheit vor allem in der zeitlichen Entfaltung, im
alltäglichen schwierigen Detail unverändert aufrecht. Was
wir als Intuition und zupackendes praktisches Handeln bewundern,
beruht sehr wesentlich auf der Fähigkeit, jedes konkrete
Moment „pfeilschnell“ an das Ziel zu binden – und
umgekehrt. Es ist ein müheloses Fluktuieren zwischen
hochkomplexen Einzelproblemen und dem Ganzen. Dafür gibt es in
der Zwischenzeit auch empirische Befunde aus Psychologie und
Verhaltensforschung. Daniel Goleman, der Guru der
„Emotionalen Intelligenz“, fasst die Ergebnisse dieser
Studien wie folgt zusammen: „Die Leistungs-Asse unterscheiden
sich nur in einer kognitiven Fähigkeit vom Durchschnitt: der
Mustererkennung, dem Denken in ‚großen Bildern’,
dank dessen Führungspersönlichkeiten aus der Fülle
von Informationen, mit denen sie überschüttet werden, die
bedeutsamen Entwicklungen herauspicken und strategisch weit in die
Zukunft hinein denken können.“ (Goleman, 2000, S.
47.)

Nicht zu Unrecht könnte man an dieser Stelle allerdings
einwenden, dass Literatur zwar die sprachliche, psychologische und
kulturelle Kompetenz einer Führungskraft oft unerwartet zu
stärken vermag. Doch damit scheint das Exempel
Siddhartha auch erschöpft. Denn der Versuch, in
meditativer Versenkung die unzertrennbare Einheit alles Lebendigen
zu finden, zeugt doch von einer zeit- und raumlosen Welt –
und ist demzufolge ungeeignet für das Business, wo
Ideen zweifellos zeitlich zu fassen sind und überdies immer
schneller wechseln. Seit der industriellen Revolution machen wir in
unserer westlichen Kultur ohnehin die Erfahrung einer stets
zunehmenden zeitlichen Beschleunigung und Mobilität, von den
materiellen Transportmitteln bis hin zu digitaler
Echtzeitkommunikation. Die Innovation ist zu einem permanenten
Zustand, zu einem ständigen Fließen gerade inmitten der
Zeit erhoben worden. Was soll uns da das Absolute, das
Überzeitliche, die Erlösung? Wir haben es doch mit dem
unendlich Relativen, mit hektischen Terminen, mit der immer
tieferen Verstrickung in Raum und Zeit zu tun. - Dieser Einwand
wäre durchaus berechtigt, wenn Siddhartha bei den
Samanas tatsächlich Erlösung finden und im
Nirwana einfach verschwinden würde. Doch das Gegenteil
ist der Fall: Er gibt auch diese Lebensform wieder auf und wird
– nach einer Auseinandersetzung mit Buddha –
ausgerechnet ein Kaufmann. Und diese Wandlung ist für unser
Thema überaus aufschlussreich.
Schnell und zielgerichtet erlernt Siddhartha zunächst die
Meditationstechniken der Samanas, die wesentlich
anspruchsvoller sind als die der Brahmanen: „Ein Ziel stand
vor Siddhartha, ein einziges: leer werden, leer von Durst, leer von
Wunsch, leer von Traum, leer von Freude und Leid. Von sich selbst
wegsterben, nicht mehr Ich sein, entleerten Herzens Ruhe zu finden,
im entselbsteten Denken dem Wunder offen zu stehen, das war sein
Ziel. Wenn alles Ich überwunden und gestorben war, wenn jede
Sucht und jeder Trieb im Herzen schwieg, dann musste das Letzte
erwachen, das Innerste im Wesen, das nicht mehr Ich ist, das
große Geheimnis.“ (S. 15) Doch dieses scheinbar
Absolute ist insofern relativ, als es immer nur auf kurze Zeit
erreicht werden kann. Siddhartha stellt nach vielen Versuchen
resigniert fest: „Aber ob auch die Wege vom Ich
hinwegführten, ihr Ende führte doch immer zum Ich
zurück. Ob Siddhartha tausendmal dem Ich entfloh, im Nichts
verweilte, im Tier, im Stein verweilte, unvermeidlich war die
Rückkehr, unentrinnbar die Stunde, da er sich wiederfand, im
Sonnenschein oder im Mondschein, im Schatten oder im Regen, und
wieder Ich und Siddhartha war, und wieder die Qual des auferlegten
Kreislaufes empfand.“ (S. 17) Die Idee der Erlösung
scheitert. Sie lässt sich erfahren, aber (wie alle Ideen)
nicht statisch bewahren. Und eben als Erfahrung bleibt sie
unaufhebbar zeitlich begrenzt. Weit schlimmer noch: egoistische
Motive bestimmen das Gebaren der Samanas nicht minder als
das des Durchschnittsmenschen: „Was ist Versenkung? Was ist
Verlassen des Körpers? Was ist Fasten? Was ist Anhalten des
Atems? Es ist Flucht vor dem Ich, es ist ein kurzes Entrinnen aus
der Qual des Ich-Seins, es ist eine kurze Betäubung gegen den
Schmerz und die Unsinnigkeit des Lebens. Dieselbe Flucht, dieselbe
kurze Betäubung findet der Ochsentreiber in der Herberge, wenn
er einige Schalen Reiswein trinkt oder gegorene Kokosmilch.“
(S. 18) Gerade im Moment der Entselbstung also geht es um das liebe
Selbst, das eine kurze Betäubung sucht.
Sehr bedenklich stimmt auch Siddharthas Verlust der Empathie, der
Fähigkeit des Mitfühlens, die der im Absoluten befangene
Mensch nicht länger aufbringen kann: „Eisig wurde sein
Blick, wenn er Weibern begegnete; sein Mund zuckte Verachtung, wenn
er durch eine Stadt mit schön gekleideten Menschen ging. Er
sah Händler handeln, Fürsten zur Jagd gehen, Leidtragende
ihre Toten beweinen, Huren sich anbieten, Ärzte sich um Kranke
mühen, Priester den Tag für die Aussaat bestimmen,
Liebende lieben, Mütter ihre Kinder stillen, und alles war
nicht den Blick seines Auges wert (...).“ (S. 15) Das
angebliche Aufgehen in der allumfassenden Einheit schafft
paradoxerweise die scharfe Trennung von den Mitmenschen. Und das
ist vielleicht eine Eigenart aller Theorien, die eine
bedingungslose Totalität anstreben.
So ergreift Siddhartha die nächste Gelegenheit beim Schopf und
verlässt auch die Samanas. Es geht die Sage von einem
Heiligen, Gotama Buddha, dessen Lehre viel Zulauf findet. Der
Freund Govinda redet oft von ihm. Siddhartha beschließt, den
Mann zu sehen. An die absolute Lehre glaubt er allerdings nicht
mehr. Der Wert Buddhas, so gesteht er Govinda, besteht für ihn
vor allem darin, „dass er uns von den Samanas wegruft!“
(S. 23) Siddhartha beginnt also, das Leben konsequent als eine
Folge von Veränderungen zu begreifen. Als Bereitschaft zum
Wandel. Daraufhin bricht er mit seinem Freund Govinda zum Hain
Jetavana auf, wo Buddha seine Schüler um sich versammelt
hat.
In der Auseinandersetzung mit diesem großen Lehrer der
Menschheit wird schnell deutlich, wie stark sich auch das
Erkenntnisinteresse Siddharthas gewandelt hat: „Er war wenig
neugierig auf die Lehre (...). Aber er blickte aufmerksam auf
Gotamas Haupt, auf seine Schultern, auf seine Füße, auf
seine still herabhängende Hand, und ihm schien, jedes Glied an
jedem Finger dieser Hand war Lehre, sprach, atmete, duftete,
glänzte Wahrheit. Dieser Mann, dieser Buddha, war wahrhaftig
bis in die Gebärde seines letzten Fingers. Dieser Mann war
heilig. Nie hatte Siddhartha einen Menschen so verehrt, nie hatte
er einen Menschen so geliebt wie diesen.“ (S. 27) Das
entscheidende Kriterium für Siddhartha ist jetzt
Wahrhaftigkeit. Nicht einfach Wahrheit, sondern gelebte Wahrheit.
Doch die Schlussfolgerung, die Siddhartha zieht, läuft dennoch
nicht auf ein Bekenntnis zu Buddha hinaus. Sobald der
bedingungslose Glaube an die absolute Lehre zerbrochen ist, wird
Imitation sinnlos. Es gibt keine ewigen Verhaltensmuster mehr, die
strikt zu befolgen wären. Und es gibt auch keinen
Königsweg zur Weisheit. In seinem Gespräch mit Buddha
bringt Siddhartha diese Einsicht auf den Punkt: „Keinem, o
Ehrwürdiger, wirst du in Worten und durch Lehre mitteilen und
sagen können, was dir geschehen ist in der Stunde deiner
Erleuchtung! Vieles enthält die Lehre des erleuchteten Buddha,
viele lehrt sie, rechtschaffen zu leben, Böses zu meiden.
Eines aber enthält die so klare, die so ehrwürdige Lehre
nicht: sie enthält nicht das Geheimnis dessen, was der
Erhabene selbst erlebt hat, er allein unter den Hunderttausenden.
(...) Dies ist es, weswegen ich meine Wanderschaft fortsetze
– nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn
ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle
Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen oder zu
sterben.“ (32) Es ist frappierend: Wer einem großen
Vorbild folgen will, der muss es eben deswegen verlassen.
Glaubwürdigkeit in einer relativierten Welt kann nur bedeuten,
den eigenen Weg zu gehen, allein sein Ziel zu erreichen – und
bereit sein, dafür zu sterben. Selbst in einer gottlosen Welt
gibt es das Heilige nicht zum Discount-Preis.

Argument 3: Wahrhaftigkeit bedeutet Mut zur Einmaligkeit.

Die Management-Forscher Robert Goffee und Gareth Jones haben
vier Merkmale isoliert, deren virtuoses Zusammenspiel erfolgreiche
Führungskräfte auszeichnet. Sie zeigen ihre
Schwächen, entwickeln Intuition, praktizieren strenge Empathie
– und haben Selbsterkenntnis. Der letzte Punkt ist
entscheidend. Denn auf die oft peinliche Frage, warum sich jemand
ausgerechnet Sie zum Chef wünschen sollte, bedarf es einer
überzeugenden Antwort. Hier ist der Mut zur Einmaligkeit, zum
bewussten und reflektierten Anderssein gefordert. Starke
Führungskräfte ziehen deshalb Nutzen „aus dem, was
sie von anderen Führungskräften abhebt. Die besonders
erfolgreichen Leader machen von ihrer Verschiedenartigkeit ganz
bewusst Gebrauch, um sozialen Abstand zu wahren – auch dann,
wenn sie ihre Mitarbeiter näher an sich heranlassen.“
(Harvard Business Manager, 6 (2001), S. 59) Einzigartigkeit kann
sich in auffälliger Kleidung so gut wie in herausragenden
geistigen und kommunikativen Fähigkeiten geltend machen. Das
Problem besteht darin, sich dem schwierigen Prozess der
Selbsterkenntnis zu stellen. Denn nur so können wir sicher
gehen, einen authentischen Stil zu entwickeln, der wirklich zu uns
passt: „Bei unseren Interviews kam heraus, dass die meisten
Führungskräfte nicht wissen, worin sie sich von anderen
unterscheiden; am Ende begreifen sie, und setzen diese Eigenheiten
mit der Zeit immer wirkungsvoller ein.“ (Ebd., S. 60.) Dabei
geht es freilich nicht um bloße Selbstfindung oder
philosophische Grundsatzfragen: „Inspirierende
Führungspersönlichkeiten nutzen ihre Eigenarten, um
andere zu besserer Leistung zu motivieren. Das macht sie noch nicht
zu Machiavellisten. Sie erkennen nur einfach instinktiv, dass Leute
mehr von sich selbst verlangen werden, wenn ihr Anführer sich
ein klein wenig von ihnen abhebt. Schließlich ist
Menschenführung kein Wettbewerb um Beliebtheit.“
(Ebd.)
Dennoch benötigt die Forderung nach Selbsterkenntnis eine
philosophische Dimension und Fundiertheit – „Erkenne
dich selbst“, so lautet nicht zufällig die berühmte
antike Inschrift am Apollotempel in Delphi. Sie ist die historische
Basis aller praktischen Philosophie und inspirierte zum Beispiel
Sokrates zur Entwicklung seiner klassischen Tugendlehre. Die
Selbsterkenntnis gehört freilich zum denkbar Schwersten. Und
auch Goffee und Jones bekennen: „Wir empfehlen den
Führungskräften, die wir betreuen: ‚Seien Sie Sie
selbst und – mehr noch – das mit Geschick.’ Doch
es gibt keinen Ratschlag, der schwerer zu befolgen
wäre.“ (Ebd., S. 61) Trotzdem ist einzig durch diese
Suche nach dem eigenen Selbst die Imitation zu verhindern. Denn
„Bücher mit Rezepten für das Geschäftsleben
– Bücher, die schildern, wie es Lee Iaccoca oder Bill
Gates ‚geschafft’ haben - sind oft nutzlos; niemand
kann eine andere Führungspersönlichkeit einfach
imitieren.“ (Ebd., S. 60)
Immerhin: Hesses Siddhartha bietet jedem Manager eine
anschauliche Lektion in Selbsterkenntnis und Selbstbehauptung des
eigenen Ich. Klar, kurz und eindringlich demonstriert diese
Dichtung am Beispiel Buddhas, dass auch das größte
Vorbild vor allem eine Aufforderung zur Veränderung des Status
Quo sein sollte, eine Aufforderung, uns selbst – und nicht
den anderen – ähnlicher zu werden; in den Worten
Siddharthas: „uns von den Samanas wegzurufen.“

Überraschend exakt bestätigt Hesses Siddhartha
die neuen und preisgekrönten Forschungsergebnisse von Goffee
und Jones: „Wahrlich, kein Ding in der Welt hat so viel meine
Gedanken beschäftigt wie dieses mein Ich, dies Rätsel,
dass ich lebe, dass ich einer und von allen andern getrennt und
abgesondert bin! Und über kein Ding in der Welt weiß ich
weniger als über mich, über Siddhartha!“ (S. 34f.)
Selbsterkenntnis beruht auch hier auf der Einsicht, worin ich mich
von allen anderen unterscheide und abhebe. Siddharthas Mut zur
Einmaligkeit hat außerdem interessante kulturelle
Konsequenzen. Mit seinem radikalen Individualismus nähert er
sich westlichen Standards an und verlässt deutlich den Kontext
indischer Kultur. Und auch ästhetisch wendet er sich von der
mystischen Vereinigung mit der einen und identischen
göttlichen Substanz ab. Seine Wahrnehmung wird sinnlicher,
individueller und scharf beobachtend: „Blau war Blau, Fluss
war Fluss, und wenn auch im Blau und Fluss (...) das Eine und
Göttliche verborgen lebte, so war es doch eben des
Göttlichen Art und Sinn, hier Gelb, hier Blau, dort Himmel,
dort Wald und hier Siddhartha zu sein. Sinn und Wesen waren nicht
irgendwo hinter den Dingen, sie waren in ihnen, in allem.“
(S. 36.) Plötzlich dominiert also die einzelne Erscheinung,
die nicht länger von religiösen Dogmen und Abstraktionen
verstellt wird. Der Mut zur Selbsterkenntnis öffnet hier die
Augen für die praktische und zielorientierte Erfahrung einer
mannigfaltigen Wirklichkeit.
Hinzu kommt die virtuose Fähigkeit Siddharthas, Kontakte durch
Empathie herzustellen und zu pflegen. Das mitfühlende
Verstehen der anderen, eine Schlüsselkompetenz der Emotionalen
Intelligenz, hat Siddhartha in der meditativen Tradition bereits
eingeübt: Im anderen sich selbst, im Selbst den anderen zu
erkennen ist geradezu die Basis der indischen Psyche
(Atman=Brahman). Doch die Zielsetzung dieser Technik hat
sich jetzt erheblich verändert. Es geht, auch über die
Ästhetik hinaus, nicht länger um die rein geistige
Erfahrung der Wesensidentität. Ganz im Gegenteil strebt
Siddhartha konsequent nach weltlichen Erlebnissen und
entschließt sich, die erotischen Liebeskünste zu
studieren. Seine geschärfte sinnliche Wahrnehmung verwandelt
dabei die traditionelle Meditationstechnik in eine intuitive und
überaus erfolgreiche Lebenspraxis.
So in der Begegnung Siddharthas mit Kamala, einer Edelkurtisane,
die sich wohlhabender Gönner erfreut und die er sich zur
Lehrmeisterin ausersehen hat. Geschickt stellt er zunächst
einen sinnlichen und nonverbalen Kontakt her: „Tief verneigte
er sich, als die Sänfte nahe kam, und sich wieder aufrichtend
blickte er in das helle holde Gesicht, las einen Augenblick in den
klugen hochüberwölbten Augen, atmete einen Hauch von
Duft, den er nicht kannte. Lächelnd nickte die schöne
Frau, einen Augenblick, und verschwand im Hain, und hinter ihr die
Diener.“ (S. 46) Unmittelbar darauf entwickelt er einen
hochsensiblen Radar für soziale Signale. Er bemerkt die
Geringschätzung seiner bettelhaften Gestalt im Verhalten der
Diener und Mägde. Er macht sich davon, erkundigt sich bei den
Stadtbewohnern diskret nach Namen und Wohnort der Schönen,
befreundet sich flugs mit einem Barbier und präsentiert sich,
rasiert und frisiert, nur einen Tag später erneut dem Blick
der Kurtisane. Dann bringt er einen Diener dazu, ein Treffen zu
vermitteln, was ihm sofort gewährt wird.
Interessant ist, dass Siddhartha nach wie vor sein Ziel als
Gegenwart begreift, selbst dort, wo sein Interesse gewiss nicht
rein geistig orientiert ist. Ohne zu zögern, interpretiert er
bereits die erste Begegnung mit Kamala als „holdes
Zeichen“ (ebd.), als schicksalhaft und unausweichlich also.
Selbstbewusst versichert er der verblüfften Dame: „Wie
sollte ich nicht erreichen, was ich gestern mir vorgenommen
habe?“ (S. 48) „Es war mein Vorsatz, bei dieser
schönsten Frau die Liebe zu lernen. Von jenem Augenblick an,
da ich den Vorsatz fasste, wusste ich auch, dass ich ihn
ausführen werde. Ich wusste, dass du mir helfen würdest,
bei deinem ersten Blick am Eingang des Haines wusste ich es
schon.“ (S. 52) Doch die Kurtisane macht ihn auf die
Gepflogenheiten ihres Standes aufmerksam: „... du brauchst
viel Geld, wenn du Kamalas Freund sein willst.“ (S. 50)
Siddhartha lässt sich aber keineswegs aus dem Konzept bringen:
„Vorgestern war ich noch ein struppiger Bettler, gestern habe
ich schon Kamala geküsst, und bald werde ich ein Kaufmann sein
und Geld haben und all diese Dinge, auf die du Wert legst.“
(S. 52) Es ist, als wäre sein Ziel eine unaufhaltsame
naturgesetzliche Entwicklung.
Siddhartha plagen auch keine Bedenken, wie er als besitzloser
ehemaliger Asket zu Reichtum kommen soll; und das inmitten eines
ihm bis dato völlig unbekannten, materialistischen Weltlebens.
Er werde, durch Vermittlung Kamalas, in den Dienst des Kaufmanns
Kamaswami treten: „Einfach ist das Leben, das man in der Welt
hier führt. (...) Ich brauche Kleider und Geld, sonst nichts,
das sind kleine nahe Ziele, sie stören einem nicht den
Schlaf.“ (S. 51) Befragt, welche Fähigkeiten er auf dem
Arbeitsmarkt denn anbieten könne, antwortet er nur: „Ich
kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten.“ (S. 49)
Kamala stellt jedoch beruhigt fest, dass er auch Lesen und
Schreiben kann. Kompetenzen, die ihn wenigstens als Assistenten
empfehlen. Erst als sie seine Selbstsicherheit ein wenig
belächelt, demonstriert Siddhartha die praktische Dimension
seiner scheinbar nutzlosen spirituellen Fähigkeiten. Er
gebraucht das Gleichnis von einem ins Wasser fallenden Stein, um zu
erklären, welche entscheidende – und übertragbare
– Lebenstechnik er bei den Samanas gelernt hat:

„Wenn du einen Stein ins Wasser wirfst, so eilt er auf dem
schnellsten Weg zum Grunde des Wassers. So ist es, wenn Siddhartha
ein Ziel, einen Vorsatz hat. Siddhartha tut nichts, er wartet, er
denkt, er fastet, aber er geht durch die Dinge der Welt hindurch
wie der Stein durchs Wasser, ohne etwas zu tun, ohne sich zu
rühren; er wird gezogen, er lässt sich fallen. Sein Ziel
zieht ihn an sich, denn er lässt nichts in seine Seele ein,
was dem Ziel widerstreben könnte. Das ist es, was Siddhartha
bei den Samanas gelernt hat. Es ist das, was die Toren Zauber
nennen und wovon sie meinen, es werde durch die Dämonen
bewirkt. Nichts wird von Dämonen bewirkt, es gibt keine
Dämonen. Jeder kann zaubern, jeder kann seine Ziele erreichen,
wenn er denken kann, wenn er warten kann, wenn er fasten
kann.“ (S. 52f.)

Diese grandiose Beschreibung zielorientierter Konzentration
folgt einer paradoxen Argumentation. In unserer westlichen Logik
verknüpft sich die Erreichung eines Zieles zweifellos mit der
Idee einer aktiven Willenskraft des Handelnden. In Siddharthas
Gleichnis jedoch liegt die Aktivität im Ziel selbst, nicht im
Streben danach. Das Individuum steht in einem passiven
Verhältnis zu ihm: Siddhartha wird gezogen, lässt sich
fallen, sein Ziel zieht ihn an sich. Er geht durch die Dinge der
Welt hindurch, aber ohne etwas zu tun oder sich zu rühren.
Möglich wird dieses Paradoxon durch die Metapher des fallenden
Steines, der sich bewegt, aber den Schwerpunkt seiner
Mobilität nicht in sich selbst, sondern in der Einwirkung der
Schwerkraft hat. Das Ziel zu treffen ist also so unausweichlich, so
lückenlos und so unaufhebbar wie das Gesetz der Gravitation.
Die einzige echte Aktivität, die dem Individuum
eingeräumt wird, zeigt sich in seiner Fähigkeit zur
Negation: nichts in seine Seele einzulassen, was dem Ziel
widerstreiten könnte. Das Navigationssystem, das zum Erfolg
führen soll, ist kein verkrampftes Wollen, sondern
höchste Wachsamkeit gegenüber Ablenkungen. Es ist also
die Kunst des Nein-Sagens, die das Ziel aktiv schützt und
gerade damit seine Eigendynamik unwiderstehlich freisetzt.
Eine westliche Parallele zu diesem Modell findet sich bestenfalls
in der inneren Stimme des Sokrates, dem so genannten
Daimonion: „Mir aber ist dieses von meiner Kindheit an
geschehen, eine Stimme nämlich, welche jedes Mal, wenn sie
sich hören lässt, mir von etwas abredet, was ich tun
will, zugeredet aber hat sie mir nie.“ (Platon (1957), Band
I, S. 22) Das Daimonion bewahrt Sokrates davor, seine
Philosophie durch politische Manöver oder den bloßen
Selbsterhaltungstrieb zu korrumpieren, als er in einen Prozess
gerät. Er akzeptiert das Todesurteil. Und exakt damit
unterstreicht er die Größe und Reinheit seiner
Philosophie, die durch die willige Hinnahme des Urteils scharf
hervortritt und Sokrates zur unsterblichen Figur des heroischen
Wahrheitssuchers erhebt. Hätte er den Schierlingsbecher nicht
getrunken, hätte seine ausdrücklich auch den Tod nicht
fürchtende Philosophie an Glaubwürdigkeit verloren. So
aber hatte sein Schüler Platon ein echtes Vorbild gewonnen
– und mit ihm die Entwicklung der gesamten europäischen
Philosophie.

Argument 4: Das Nein-Sagen ist die eminenteste Form des Ja-Sagens zum eigenen Schicksal.

Als Illustration mag eine interessante Episode aus dem Leben
zweier großer Unternehmensgründer dienen. Im Jahr 1897
war es Robert Bosch gelungen, eine zuverlässige elektrische
Magnetzündung in ein motorisiertes Fahrzeug einzubauen. Sein
Nachbar Gottlieb Daimler wurde vom Aufsichtsrat der
Daimler-Motoren-Gesellschaft gedrängt, Bosch ein
Übernahmeangebot zu machen. Zweifellos ein schwerer Gang
für Daimler, den Erfinder der
„Glührohrzündung“, die er bei der Konzeption
der ersten schnelllaufenden Verbrennungsmotoren mit dem genialen
Ingenieur Wilhelm Maybach entwickelt hatte. Nach einem Wort von
Carl Benz war die Zündung für den praktischen Gebrauch
des Automobils in der Tat „das Problem der Probleme“.
Zurecht also war Daimler nicht wenig Stolz auf die Idee des
Glührohrs. Und nun sollte ihm der junge Bosch den Rang
abgelaufen haben! Die Verhandlungen nahmen jedoch eine unerwartete
Wendung, weil Bosch auf seiner Freiheit beharrte und nichts weniger
als geschmeichelt schien. Sein Biograph Theodor Heuss kommentiert:
„...seine jetzt erreichte Unabhängigkeit wolle er,
Bosch, nicht aufgeben; wenn es mit dem Zusammenarbeiten nicht
klappen werde, wolle er ‚ohne Bedauern’ Lebewohl sagen
können.“ (Heuss (1986), S. 121) Heuss interpretiert sehr
hellsichtig: „Im Grunde wird seine (Boschs, G.B.) innere
Stimmung auf ein Nein ausgegangen sein.“ (Ebd.)
Dieses Nein sicherte die Zukunft seiner Firma. Bosch konnte ja
gerade am Beispiel Daimlers lernen, wie ein großer
Unternehmer in die Sachzwänge einer Kapitalgesellschaft
geraten war. Wie er entgegen seiner innersten Überzeugung
Verhandlungen führen musste. Daimler saß übrigens
unbeteiligt in einem Nebenzimmer und hatte Maybach und einem
Finanzexperten das Reden überlassen. Intuitiv seinem Nein
folgend, greift Bosch zu einer überlegenen, äußerst
sachlichen Argumentation, mit der er Maybach schließlich
schachmatt setzt:

„Ob Bosch bereit sei, den Alleinverkauf an die
Daimler-Motoren-Gesellschaft zu übergeben? Die Gegenfrage
lautete: welche Sicherungen er erhalten könne, etwa auch die
Verpflichtung, in Zukunft nur mehr Bosch-Zündungen zu
verwenden? Maybach muss Rücksprache bei Daimler nehmen, und
Bosch hört aus dem Nebenzimmer dessen Antwort: ‚Das
müsste ein schlechter Erfinder oder Konstrukteur sein, der von
einem Tag zum anderen sich an eine solche Neuerung
bände.’ Die feste Verknüpfung fiel weg. Aber in
welcher Größenordnung sich denn nun Daimlers
Abnahmebereitschaft halte? Maybach meinte, zunächst nicht
viel, etwa 100 Stück, im nächsten Jahr etwa 150. Aber er
habe, antwortete Bosch, im letzten Jahre an 1200 Zündapparate
verkauft – das zeige den Herren, dass ein beschränkendes
Abkommen mit der Daimler-Motoren-Gesellschaft nicht in Frage stehe.
Die Verhandlung, ob Bosch ein abhängiger Teilbetrieb von
Daimler werde, musste damit ergebnislos abgebrochen werden.“
(Theodor Heuss, ebd.)

Natürlich genügt die bloß negative Geste
keineswegs, um ein derartiges Gespräch überzeugend zu
führen. Wer aber die Verkaufszahlen und den technischen
Fortschritt auf seiner Seite weiß, kann unbeirrbar seiner
Vision folgen. Hier schützt die Negation durchaus im Sinne
Siddharthas vor dem Verlust der eigenen Zielsetzungen. Schon kurze
Zeit später treten die Bosch-Zündungen nicht
zufällig einen phänomenalen Siegeszug an. Der
Luftschiffbauer Graf Zeppelin bestellt die elektrische
Magnetzündung, weil sie im Unterschied zur
Glührohrzündung die Brandgefahr reduziert. In Frankreich
wiederum entsteht die Begeisterung für den Motorsport und die
Fahrer erkennen, dass fast alle siegreichen Automobile mit der
Bosch-Zündung ausgestattet sind. Die Ironie der Ereignisse
wird besonders durch den Tatbestand unterstrichen, dass in beiden
Bereichen, sowohl in der Luftfahrt als auch im Straßenrennen,
bevorzugt Daimler-Motoren erfolgreich sind. Schließlich
erfolgt auch die Wende im Hause Daimler selbst. Der
österreichische Marketingexperte Emil Jellinek, dessen Tochter
„Mercedes“ dem berühmtesten Daimler-Produkt den
Namen gab, überzeugt die Firmenleitung, dass die
Bosch-Zündung kundenfreundlicher ist. Jellinek stellt seine
Kooperation mit Daimler in Frage, wenn auf die
Glührohrzündung nicht verzichtet wird, ja geht sogar
publizistisch gegen sie vor. „Zähneknirschend“
(ebd., S.124) lenkt Gottlieb Daimler ein.
Selbstverständlich sollte man hier einwenden, dass Daimler
bereits ein schwer kranker Mann war, dass er, im Unterschied zu
Bosch, sein Lebenswerk schon geleistet hatte und demzufolge ein
wenig zur Starrsinnigkeit neigte. Als Daimler noch im Werden war,
verfügte er selbst über ein gediegenes Maß an
Selbstbewusstsein und Zielsicherheit. Und auch in noch
ungesicherter Position war er bereit, Angebote abzulehnen, wenn sie
seiner Idee von Arbeit und Qualität zuwiderliefen. So zum
Beispiel bei seinem freiwilligen Ausscheiden aus der
Maschinenfabrik Reutlingen: „Ich habe seit vier Jahren
zugesehen, wie immer Männer von anderen als vom Maschinenfach
an der Leitung unserer Maschinenfabrik ihre Proben machten und will
nicht abermals das selbe Vergnügen haben; auch kann der
Maschinenfabrik mit einem Verwalter, der ihr seine Tätigkeit
nur halb zuwenden könnte, wieder nicht gedient sein. Der
Unterzeichner wird nur hier bleiben, wenn er seine Aufgabe ganz hat
und (...) als Verwalter der Fabrik durch den Aufsichtsrat
angestellt wird.“ (Niemann (2000), S. 52) Beide, Daimler wie
Bosch, zeigten also ein äußerst starkes Profil in ihren
Negationen und beide waren bereit, für ihre Ideen große
Risiken einzugehen. Daimler etwa erlangte erst nach obiger
Kündigung leitende Positionen in Karlsruhe und Köln. Und
auch Bosch war sich beim Zurückweisen der Daimler-Offerte
keineswegs sicher, dass seine Zündung mehr sein könnte
als eine „Eintagsfliege“ (Heuss (1986), S. 127).
Vor allem in Sachen Qualität vermieden beide Gründer
seichte Kompromisse und hatten, über kurzsichtiges
Gewinnstreben hinaus, stets eine größere Konzeption im
Blickfeld. Wer hier wankt, der fällt. So schreckte Bosch nicht
davor zurück, Kunden offen zur Konkurrenz zu schicken, wenn
sie seine Preise nicht akzeptieren wollten. Qualität sei
haltbarer und zuverlässiger – und damit letztendlich
billiger. Deshalb sei sie ihr Geld wert. Im Übrigen zahle er
nicht deshalb seinen Leuten einen hohen Lohn, weil er große
Gewinne mache. Er mache im Gegenteil große Gewinne, eben weil
er seine Leute gut bezahle. Gutes Geld für gute Arbeit und
entsprechende Preise auf dem Markt – davon ließ Bosch
sich nicht abbringen. Dergestalt bestimmten positive Ziele und eine
klar definierte Unternehmenskultur seine allseits gefürchteten
Negationen – nicht minder als bei Daimler selbst.
Inwieweit heute radikale Negationen für einen Unternehmer noch
möglich sind, inwieweit die komplexen Verflechtungen des
Investitionskapitals die Unabhängigkeit überhaupt noch
zulassen, darüber kann man mit guten Gründen geteilter
Meinung sein. Der deutsche Soziologe Max Weber stellte schon zu
Beginn des 20. Jahrhunderts fest, dass aufgrund der immer
komplexeren Rationalität, Finanzierung und Verwaltung von
Geschäftsabläufen das Zeitalter der großen
Gründerfiguren unwiederbringlich vorbei sei. Doch gerade
für Startups, die eine Geschäftsidee erst
etablieren wollen, aber auch für jede Führungskraft, die
glaubwürdig und integer sein möchte, bleibt Siddharthas
Hinweis überaus wertvoll: nichts in seine Seele einzulassen,
was dem Ziel widerstreiten könnte. Intuition, das lehren uns
die großen Firmengründer, ist ein geheimes Wissen um
unsere innersten Ziele, Werte und Überzeugungen. Wenn wir
Abwege vermeiden, wenn wir Versuchungen widerstehen, dann bleiben
wir tatsächlich auf dem Weg, den wir beschreiten wollten.
Selbst dann, wenn wir ihn (noch) nicht genau kennen. Auf diese
Weise bilden wir ein ganz andersartiges Kapital, das laut Bosch die
beste Geschäftsgrundlage ist: „Einen Vertrag
abschließen ohne Hintergedanken, ihn aufs pünktlichste
erfüllen, ist eine Tat höchster geschäftlicher
Klugheit. Immer habe ich nach dem Grundsatz gehandelt:
‚Lieber Geld verlieren als Vertrauen.’ Die
Unantastbarkeit meiner Versprechungen, der Glaube an den Wert
meiner Ware und den an mein Wort standen mir stets höher als
ein vorübergehender Gewinn.“ (Heuss (1986), S.
308f.)

Siddhartha erweist sich schon bald als erfolgreicher Kaufmann.
Sein Ziel besteht darin, den finanziellen Ansprüchen der
schönen Kamala zu genügen, um bei ihr die Kunst des
Liebens zu erlernen. Kamala ist weit mehr als eine ''Trophy
Woman'', die wohlhabenden Geschäftsmännern lediglich
zur Dekoration dient. Sie ist eine echte Mentorin. Sie warnt den
unerfahrenen Siddhartha, nicht ein dienendes, sondern ein
ebenbürtiges Verhältnis zu dem Kaufmann Kamaswami
herzustellen. Von vornherein also muss sich Siddhartha gegen die
Macht des Geldes behaupten. Bei seinem Vorstellungsgespräch
wird deshalb sofort der Gegensatz zwischen Geist und Wirtschaft
thematisiert. – Und damit im Grunde genommen auch das
Spannungsverhältnis, das den Schreibanlass für dieses
Buch bildete.
Der Kaufmann Kamaswami begrüßt Siddhartha mit der
Mutmaßung, dass er ein in Not geratener Gelehrter sei, der
sich um eine Stelle bemühe. Siddhartha entgegnet, er sei noch
nie in Not gewesen, er komme von den Samanas. Kamaswami aber
bleibt bei seiner Argumentation, indem er darauf hinweist, dass die
Asketen doch völlig besitzlos seien. Siddhartha jedoch
antwortet: „Gewiss bin ich besitzlos. Doch bin ich es
freiwillig, bin also nicht in Not.“ (S. 54.) Kamaswami
lässt sich nicht auf diesen Gedanken ein. Die geistige Idee
eines bewussten Verzichts auf Reichtum hebt für ihn keineswegs
die materiellen Lebensbedingungen auf: „Wovon aber willst du
leben, wenn du besitzlos bist?“ – „Ich habe daran
noch nie gedacht, Herr. Ich bin mehr als drei Jahre besitzlos
gewesen, und habe niemals daran gedacht, wovon ich leben
sollte.“ (Ebd.) Kamaswami holt daraufhin zum entscheidenden
Gegenschlag aus: „So hast du vom Besitz anderer
gelebt.“ (Ebd.) Dieses klassische Argument erfreut sich in
der Auseinandersetzung von Wirtschaft und Kultur bis heute
großer Beliebtheit. Schließlich schafft erst die
Ökonomie die materiellen Grundlagen für geistige
Aktivität. Buddhas Hain Jetavana ist zum Beispiel das
Geschenk eines reichen Kaufmanns. Und der Erzähler verschweigt
keineswegs, dass selbst der Erleuchtete täglich „den
Bettelgang“ absolviert, um Nahrung zu beschaffen. (S. 26)
Auch Siddhartha bestätigt: „Vermutlich ist es so“;
doch er fügt hinzu: „Auch der Kaufmann lebt ja von der
Habe anderer.“ (S. 54)
Dieser elegante Einwand liest sich wie eine Kritik des Profits, den
der Händler einstreicht. Kamaswami aber sieht die elementare
Form seines Geschäfts, den Tauschhandel, als ein faires Geben
und Nehmen: „Wohl gesprochen. Doch nimmt er von den anderen
das Ihre nicht umsonst; er gibt ihnen seine Waren
dafür.“ (Ebd.) Siddhartha wiederum akzeptiert diese
Prämisse: „So scheint es sich in der Tat zu verhalten.
Jeder nimmt, jeder gibt, so ist das Leben.“ (Ebd.) Kamaswami
verteidigt aber auch weiterhin seinen materialistischen Standpunkt:
„Aber erlaube: wenn du besitzlos bist, was willst du da
geben?“ (Ebd.) Indem er den Geist auf die Ebene des
Tauschhandels stellt, wirft er erneut eine klassische Frage auf:
Wozu sind Kunst, Kultur und Religion eigentlich nütze? Sind
sie nicht bloße Orchideenfächer und unproduktive
Schöngeisterei, die dann, wenn es zur tatsächlichen
Abrechnung kommt, nicht wirklich etwas gelten können?
Siddhartha antwortet zunächst ausweichend:

„Jeder gibt, was er hat. Der Krieger gibt Kraft, der
Kaufmann gibt Ware, der Lehrer Lehre, der Bauer Reis, der Fischer
Fische.“
„Sehr wohl. Und was ist es nun, was du zu geben hast? Was ist
es, das du gelernt hast, das du kannst?“
„Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann
fasten.“
„Das ist alles?“
„Ich glaube, es ist alles!“ (S. 55.)

Natürlich gibt sich der Kaufmann damit nicht zufrieden. Er
will wissen, wozu das gut sein soll. Anders als im Falle Kamalas
gibt Siddhartha diesmal kein Gleichnis. Er muss handfester und
konkreter werden. So schildert er die Tugend des Fastens als
Bollwerk gegen Not und Armut: „Wenn ein Mensch nichts zu
essen hat, so ist Fasten das Allerklügste, was er tun
kann.“ (Ebd.) Und er betont sehr selbstbewusst, dass seine
Meditationskunst ihm Unabhängigkeit gewährt – auch
vom reichen Kaufmann Kamaswami: „Wenn, zum Beispiel,
Siddhartha nicht fasten gelernt hätte, so müsste er heute
noch irgendeinen Dienst annehmen, sei es bei dir oder wo immer,
denn der Hunger würde ihn dazu zwingen. So aber kann
Siddhartha ruhig warten, er kennt keine Ungeduld, er kennt keine
Notlage, lange kann er sich vom Hunger belagern lassen und kann
dazu lachen. Dazu, Herr, ist Fasten gut.“ (Ebd.). Siddhartha
wendet die schwierige Thematik Geist/Ökonomie also ins
Diplomatische. Er folgt zielsicher der Ermahnung Kamalas, sich
Kamaswami keineswegs unterzuordnen. Damit liegt er goldrichtig.
Denn eine abstrakte Grundsatzdiskussion hätte den Kaufmann
weit weniger überzeugt als eine starke Verhandlungsposition:
„Du hast recht, Samana.“ (Ebd.) Und da Siddhartha die
Schreib- und Leseprüfung souverän besteht, bekommt er
prompt die Stelle zugesprochen.
Siddharthas Geschäftsgebaren erweist sich in der Folge als
eine ideale Fallstudie für Emotionale Intelligenz. Seine
Fähigkeit zur Empathie ist ein beträchtlicher
Erfolgsfaktor, der sogar mangelhafte Sachkenntnisse wettmacht.
Unwillig gesteht Kamaswami, „...dass Siddhartha von Reis und
Wolle, von Schifffahrt und Handel wenig verstand, dass aber seine
Hand eine glückliche war, und dass Siddhartha ihn, den
Kaufmann, übertraf an Ruhe und Gleichmut, und in der Kunst des
Zuhörenkönnens und Eindringens in fremde Menschen.“
(S. 57.) Siddhartha lässt sich offenkundig nicht von seinen
Emotionen beherrschen und bewahrt sich die Fähigkeit einer
verstehenden Identifikation mit anderen. Als er in ein Dorf reist,
um eine große Reisernte aufzukaufen, ist ihm ein anderer
Händler schon zuvorgekommen. Das Geschäft ist geplatzt:
„Dennoch blieb Siddhartha manche Tage in jenem Dorf,
bewirtete die Bauern, schenkte ihren Kindern Kupfermünzen,
feierte eine Hochzeit mit und kam überaus zufrieden von der
Reise zurück.“ (S. 57.) Kamaswami freilich reagiert
ungehalten. Siddhartha habe Zeit und Geld vergeudet. Wieso er nicht
sofort umgekehrt sei? Und ob er nur zu seinem Vergnügen reise?
– „Wozu denn sonst?“ (S. 58.) entgegnet
Siddhartha. Und nun folgt eine Lektion in Soft Skills, d.h.
dem Aufbau informeller Beziehungen und dem Nutzen, den emotional
fundierte Kontakte langfristig gewähren: „Sieh, Lieber,
wenn ich Kamaswami gewesen wäre, so wäre ich sofort, als
ich meinen Kauf vereitelt sah, voll Ärger und in Eile
zurückgereist, und Zeit und Geld wären in der Tat
verloren gewesen. So aber habe ich gute Tage gehabt, habe gelernt,
habe Freude genossen, habe weder mich noch andere durch Ärger
und durch Eilfertigkeit geschädigt. Und wenn ich jemals wieder
dort hinkomme, vielleicht um eine spätere Ernte zu kaufen,
oder zu welchem Zwecke es sei, so werden freundliche Menschen mich
freundlich und heiter empfangen, und ich werde mich dafür
loben, dass ich damals nicht Eile und Unmut gezeigt habe.“
(Ebd.)
Der geschickte Umgang mit den Gefühlen anderer wird durch
Siddharthas außergewöhnliches Maß an
Selbstwahrnehmung optimal ergänzt. Denn die Fähigkeit zur
distanzierten Selbstbeobachtung und Selbsterkenntnis ist die
entscheidende Schlüsselkompetenz für emotional kluges
Verhalten: Nur dadurch wird die Regulierung und Kontrolle der
eigenen Gefühlswelt möglich. Wer keine Position
außerhalb seiner Impulse, Triebe und Emotionen einnehmen
kann, wird besinnungslos von ihnen beherrscht und mitgerissen. Und
die Meditationstechniken der indischen Kultur lehren gezielt die
Befreiung von eben dieser Befangenheit in der egoistischen
Perspektive, die nur die eigene Person als Realität anerkennen
will. Diesem Egoismus steht die Einsicht gegenüber, dass das
„Ich“ nicht minder als „die anderen“
Täuschungen der Erscheinungswelt sind. Das Weltleben ist ein
Spiel (Sansara), in dem die Menschen noch nicht zur
Besinnung gelangt sind. Die zahllosen Egos, die scheinbar nur ihre
eigenen Zwecke verfolgen, schneiden sich permanent ins eigene
Fleisch. Denn vergessen wir nicht: Ich und Welt ist für dieses
Denken eine geistige Identität (Atman=Brahman). Der
entfesselte Egoismus verliert sich im Rad des Leidens und durchlebt
unzählige Reinkarnationen, solange er nicht einsieht, dass er
selbst der Urgrund alles Leidens ist. Nur durch die Lösung vom
Ich, nur durch Selbstüberwindung wird ein Karma
aufgebaut, das die Verstrickung in endlose Wiedergeburten aufhebt
und eine günstige Prognose für das Eingehen ins
Nirwana erlaubt. Im Grunde sind also beide, Selbsterkenntnis
wie Empathie, persönliche wie soziale Kompetenz auch aus dem
Kontext indischer Kultur durchaus ableitbar. Die Fundierung der
Emotionalen Intelligenz in einem neurologischen
Begründungszusammenhang sollte deshalb durch kulturelle und
mentalitätsgeschichtliche Überlegungen stets erweitert
werden.
Wir haben zwar gesehen, dass Siddhartha die Erlösungstheorie
ablehnt. Aber sein intensives Studium des Brahmanismus und
Buddhismus ermöglicht ihm eine überlegene Selbstkontrolle
der herrschsüchtigen Impulse und Emotionen. Auch seine
Perspektive als Kaufmann ist zweifellos von der asketischen Distanz
zum Weltleben geprägt, wie er sie als Samana
praktiziert hat. Und Hesse gibt dem Kapitel, worin Siddharthas
Einstieg ins Business geschildert wird, nicht zufällig
die bezeichnende Überschrift: „Bei den
Kindermenschen.“ Die Geschäfte treibenden Menschen
befinden sich auf der untersten Bewusstseinsstufe des Karmas. Sie
haben das Spiel noch nicht durchschaut. Sie nehmen ihre Interessen,
ihr Ich, aber auch die Trennung von den anderen für bare
Münze. Und sie sind bewusstlos verstrickt in eine Kette des
Leidens, die sie sich letztlich selbst geschmiedet haben: „Er
sah sie sich mühen, sah sie leiden und grau werden um Dinge,
die ihm dieses Preises ganz unwert schienen, um Geld, um kleine
Lust, um kleine Ehren, er sah sie einander schelten und beleidigen,
er sah sie um Schmerzen wehklagen, über die der Samana
lächelt, und unter Entbehrungen leiden, die ein Samana nicht
fühlt.“ (S. 59) Obwohl sich Siddhartha also von den
Samanas getrennt hat, obwohl er selbst handfeste erotische
Interessen verfolgt – der eigentümlich reflexive und
meditative Abstand zum weltlichen Treiben ist ihm geblieben:
„Er gab Rat, er bemitleidete, er schenkte, er ließ sich
ein wenig betrügen, und dieses ganze Spiel und die
Leidenschaft, mit welcher alle Menschen dies Spiel betrieben,
beschäftigte seine Gedanken ebenso sehr, wie einst die
Götter und das Brahman sie beschäftigt hatten.“ (S.
60)
Die Kontrolle der Emotionen durch reflexive Distanz wird im Text
aus unterschiedlichen Perspektiven beschrieben. Der Erzähler
stellt zum Beispiel fest: „Kamaswami betrieb seine
Geschäfte mit Sorglichkeit und oft mit Leidenschaft,
Siddhartha aber betrachtete dies alles wie ein Spiel, dessen Regeln
genau zu lernen er bemüht war, dessen Inhalt aber sein Herz
nicht berührte.“ (S. 56) Ein wenig später erfahren
wir, dass auch das Motiv der weltlichen Liebe hinreichend ist, um
nicht völlig im Geschäft aufzugehen: „In der Tat
war seine Seele nicht beim Handel. Die Geschäfte waren gut, um
ihm Geld für Kamala einzubringen, und sie brachten weit mehr
ein, als er brauchte.“ (S. 59) Nicht nur die
Samana-Vergangenheit unterstützt Siddharthas emotionale
Besonnenheit. Er praktiziert eine höchst ausgeglichene
Work-life balance. Erotik und Geldverdienen sind perfekt
aufeinander abgestimmt. Und die Eroberung Kamalas verleiht ihm eine
Zielgerichtetheit auch im Business, eben weil diese
Liebschaft außerhalb der praktischen Berufstätigkeit
liegt. Das Geldmachen ist ein Mittel zum Zweck, nicht
leidenschaftlicher Selbstzweck. Sogar Kamaswami ist von der
spielerischen Leichtigkeit beeindruckt, womit Siddhartha seine
Geschäfte abwickelt. Ihm fehlt allerdings der Schlüssel
zu Siddharthas unablenkbarer und gleichzeitig entspannter
Konzentration, die durch die Dinge dieser Welt wie der
„fallende Stein“ hindurchgeht. Kamaswami gehört
noch zu den „Toren“, die das „Zauber“
nennen: „Dieser Brahmane“, so Kamaswami, „ist
kein richtiger Kaufmann und wird nie einer werden, nie ist seine
Seele mit Leidenschaft bei den Geschäften. Aber er hat das
Geheimnis jener Menschen, zu welchen der Erfolg von selber kommt,
sei das nun ein angeborener guter Stern, sei es Zauber, sei es
etwas, das er bei den Samanas gelernt hat. Immer scheint er mit den
Geschäften nur zu spielen, nie gehen sie ganz in ihn ein, nie
beherrschen sie ihn, nie fürchtet er Misserfolg, nie
bekümmert ihn ein Verlust.“ (S. 57)
Ein gerissener Geschäftspartner schließlich schlägt
Kamaswami vor, Siddhartha an Gewinn und Verlust zu beteiligen:
„Gib ihm von den Geschäften, die er für dich
treibt, ein Drittel vom Gewinn, lass ihn aber auch denselben Anteil
des Verlustes treffen, wenn Verlust entsteht. So wird er eifriger
werden.“ (Ebd.) Doch gerade hier zeigt sich die
Überlegenheit emotionaler Selbstkontrolle. Denn Siddhartha
erweist sich als absolut unverwüstlich: „Traf ihn
Gewinn, so nahm er ihn gleichgültig hin; traf ihn Verlust, so
lachte er und sagte: ‚Ei sieh, dies ist also schlecht
gegangen!’ “ (Ebd.) Das Geheimnis, so äußert
sich Siddhartha gegenüber Kamala, liegt wohl in einer inneren
Stille und Zuflucht. (S. 60f.) Und dies habe nichts mit Klugheit
und Intelligenz zu tun: „Kamaswami ist ebenso klug wie ich,
und hat doch keine Zuflucht in sich. Andre haben sie, die an
Verstand kleine Kinder sind.“ (S. 61) Die Zuflucht aber
besteht eben darin, Mut zu sich selbst zu haben - in der
Management-Sprache von Goffee und Jones: zu wissen, worin man sich
von anderen unterscheidet: „So leicht es ihm gelang, mit
allen zu sprechen, mit allen zu leben, von allen zu lernen, so sehr
ward ihm dennoch bewusst, dass etwas sei, was ihn von ihnen
trennte, und dies Trennende war sein Samanatum.“ (S. 59) Zwei
Möglichkeiten also bietet der Text an, um sich der Gefahr
einer zu großen Identifikation mit dem Geschäftsleben zu
entziehen: Entweder bekennt man sich zu einem kulturellen
Wertesystem, dass die Relativität, Hinfälligkeit und
spielerische Nichtigkeit des Business wahrzunehmen
ermöglicht; oder man orientiert sich, wenn das religiöse
Motiv nicht so stark ist, an einem emotionalen Schwerpunkt, der
außerhalb des Berufs liegt.
In jedem anderen Fall droht die Manager-Krankheit, der Strudel von
Sorgen und Gefühlen, der sein Opfer verschlingt. Siddhartha
jedenfalls ist auffällig immun gegen Stress – im
Unterschied zu Kamaswami, dessen Gedanken immer bei seinem Handel
sind: „War ein Geschäft im Gange, welchem Misserfolg
drohte, schien eine Warensendung verloren, schien ein Schuldner
nicht zahlen zu können, nie konnte Kamaswami seinen
Mitarbeiter überzeugen, dass es nützlich sei, Worte des
Kummers oder des Zornes zu verlieren, Falten auf der Stirn zu
haben, schlecht zu schlafen.“ (S. 58) Kamaswami, der die
innere Ruhe und emotionale Überlegenheit Siddharthas durchaus
anerkennt, versucht zwar, seine Position zu rechtfertigen.
Schließlich habe Siddhartha doch alles, was er verstehe, von
ihm, von Kamaswami gelernt. Die Antwort aber ist vernichtend:
„Wolle mich doch nicht mit solchen Späßen zum
besten haben! Von dir habe ich gelernt, wie viel ein Korb voll
Fische kostet, und wie viel Zins man für geliehenes Geld
fordern kann. Das sind deine Wissenschaften. Denken habe ich nicht
bei dir gelernt, teurer Kamaswami, suche lieber du, es von mir zu
lernen.“ (S. 59)
Das ist im Grunde eine späte Antwort auf die eingangs
diskutierte Frage, wozu der Geist eigentlich nütze sei und was
er dem Kaufmann zu geben hat. Siddhartha profitiert von seinem
meditativen Abstand. Er behält Heiterkeit und Gleichmut, weil
seine reflexive Distanz ihn daran hindert, ein Opfer seiner
egoistischen Motive zu werden. Er ist frei von quälenden
Emotionen, ein Fels in der Brandung, unerschütterlich. Und da
er gelernt hat, sich mittels seiner Einfühlsamkeit den
Menschen zuzuwenden, strömen sie ihm zu: „Willkommen war
ihm der Händler, der ihm Leinwand zum Kauf anbot, willkommen
der Verschuldete, der ein Darlehen suchte, willkommen der Bettler,
der ihm eine Stunde lang die Geschichte seiner Armut erzählte,
und welcher nicht halb so arm war als ein jeder Samana.“ (S.
59) Auch sein natürliches und ungezwungenes Betragen hebt ihn
von seinesgleichen vorteilhaft ab: „Den reichen
ausländischen Händler behandelte er nicht anders als den
Diener, der ihn rasierte, und den Straßenverkäufer, von
dem er sich beim Bananenkauf um kleine Münze betrügen
ließ.“ (Ebd.) Das Ergebnis? Siddhartha wird als
Kaufmann eine populäre Figur – und wohlhabend: „Er
war reich geworden, er besaß längst ein eigenes Haus und
eigene Dienerschaft, und einen Garten vor der Stadt am Flusse. Die
Menschen hatten ihn gerne, sie kamen zu ihm, wenn sie Geld oder Rat
brauchten (...).“ (S. 63)

Argument 5: Die Kombination von reflexiver Distanz und Empathie ist der Schlüssel zum Erfolg.

Wer als Manager reflexiven Abstand entwickelt, kann viel
erreichen. Die Geschäftsabläufe werden ihm ein Mittel zum
Zweck, ein unerschütterliches Hindurchgehen, wenn seine
Emotionen aus übergeordneten Werten gespeist werden. Damit ist
nicht unbedingt ein religiöses System oder ein Glaube gemeint,
der im indischen Kontext immer ein absoluter Glaube, ein
weltüberwindender Glaube ist. Wir haben Siddharthas Welt- und
Menschenverachtung, solange er sich noch als waschechter
Samana verstand, kennen gelernt. Weltlicher Erfolg bedarf
aber der Vermittlung mit menschlichen Gefühlen und Motiven.
Der christliche Glaube, hierin flexibler als die indische Variante,
verleiht etwas mehr Spielraum. Ich war über die
Bibelfestigkeit und Glaubensstärke US-amerikanischer ''Sales
manager und Consultants'' oftmals erstaunt. Sie beziehen
damit eine geschäftsexterne Position, die es ihnen erlaubt,
von höherer Warte aus zu reflektieren. Und vor allem die
Familie wird oft zu einem Bezugspunkt, für den sie arbeiten.
Es muss also nicht immer eine Kamala sein. Eine Position des
Glaubens, der perspektivische Distanz und soziales Mitgefühl
gewährleistet, scheint für dauerhaften Erfolg jedenfalls
sehr vorteilhaft.
In der gegenwärtigen Managementsprache werden auch zunehmend
Selbsterkenntnis und Empathie als wichtige Faktoren anerkannt.
Nicht nur im Konzept der Emotionalen Intelligenz sind sie
Kernkompetenzen. Sie sind wichtig vor allem bei der
Durchführung des Adaptive Change, der Anpassung einer
Organisation an eine immer schneller und durchgreifender sich
verändernde Umwelt. Die Leadership-Experten Ronald A.
Heifetz und Martin Linsky haben die neuen
Führungsqualitäten untersucht, die hier gefordert sind:
„Die Fähigkeit, einen perspektivischen Abstand mitten in
der Aktion aufrechtzuerhalten, ist für die Überwindung
organisatorischer Widerstände entscheidend. Jeder
militärische Offizier weiß um die Bedeutung, die der
Fähigkeit zur Reflexion zukommt, besonders im unmittelbaren
Einsatz. Große Athleten müssen gleichzeitig das Spiel
spielen und es als Ganzes beobachten. Wir nennen diese
Fähigkeit ‚weg vom Tanzboden und raus auf den
Balkon’, ein Bild, das die mentale Aktivität des
Abstandnehmens von der Handlung und die Frage ‚Was geht hier
wirklich vor sich?’ wiedergibt.“ (Heifetz/Linsky, ''A
Survival Guide for Leaders'', in: HBR, June, 2002, S. 66) Der
Grund für diese Einsicht ist offenkundig. Er liegt in der
mörderischen Geschwindigkeit, womit sich Märkte heute
verändern: Führungskräfte „müssen auf
Ereignisse reagieren, während sie sich noch entfalten.“
(Ebd., S. 67) Überlebenswichtig ist außerdem, sein Ich
nicht absolut mit seiner beruflichen Rolle zu identifizieren.
Über diese Rolle hinaus bedarf es der Fähigkeit, in sich
selbst eine „Zuflucht“ zu finden. Das Stichwort lautet:
Anchor yourself. „Das vielleicht Wichtigste ist die
Notwendigkeit, zwischen Ihrem persönlichen Selbst, das Ihnen
als Anker in stürmischem Wetter dienen kann, und Ihrer
beruflichen Rolle, die das niemals leisten kann, zu
unterscheiden.“ (Ebd., S. 73)
Über die Bedeutung schließlich der Empathie besteht
schon lange ein Common Sense. Die Informations- und
Innovationsgeschwindigkeit erfordert emotionale Fähigkeiten
wie nie zuvor in der Geschichte der Arbeitswelt:
funktionsübergreifende Teamarbeit, ein leistungsfähiges
informelles Netzwerk, abgeflachte Hierarchien, innerbetriebliche
Wissensvermittlung und Kommunikationsfluss sind organisatorische
Pluspunkte, wo Reaktionsgeschwindigkeit und Wettbewerbsvorteil
nicht mehr voneinander zu trennen sind. Nur ein Wissenspool, nicht
der abgekapselte Experte, kann das leisten. Der US-Amerikaner Phil
Weilerstein, Direktor der „National Collegiate Inventors and
Innovators Alliance“, spricht Klartext: „Ingenieure
werden künftig andere Fähigkeiten benötigen als die,
in denen sie ausgebildet wurden: ihr Leben lang in einem Kabuff bei
General Dynamics zu sitzen und Propellerblätter konstruieren.
Sie werden so beweglich sein müssen, dass sie alle drei, vier,
fünf Jahre ihren Job wechseln. Sie müssen wissen, wie man
als Teil eines Teams Ideen entwickelt und umsetzt, wie man eine
Idee verkauft, sie müssen Kritik und Feedback einstecken und
sich anpassen können.“ (Zitiert nach: Daniel Goleman,
2000, S. 61) Ohne Vertrauen, ohne Zuhörenkönnen, ohne
Verstehen der Fremdperspektive ist jede Unternehmenskultur heute
gnadenlos zum Untergang verurteilt – und mit ihr das
Unternehmen. Denn die Informationstechnologie hat nur noch
deutlicher zu Tage gefördert, was im Grunde immer schon klar
war: Beziehungen sind alles. Und ohne Beziehungen ist alles nichts.
Hesses Siddhartha demonstriert die Gültigkeit dieser
Maxime sogar im Umfeld einer urtümlichen Agrarwirtschaft.

Wenn wir neue Stichwörter wie Anchor yourself oder
Getting off the dance floor and going to the balcony Revue
passieren lassen, dann bemerken wir die Vorzüge der Literatur
für das Management sehr deutlich. Sie macht die ''Soft
Skills'' erzählbar und darstellbar. Handlung wie Figuren
erlauben die Entwicklung eines anschaulichen Argumentationsmusters,
von dem die Führungskraft profitieren kann. Nicht nur die
Rhetorik der „weichen Fähigkeiten“ lässt sich
vertiefen, sondern auch das Verständnis ihrer kulturellen,
philosophischen und religiösen Zusammenhänge.
Ökonomische Fallstudien und neurologische Labors werden das
nicht leisten können. Hesses Siddhartha bietet zum
Beispiel einen aufschlussreichen Blick auf die indische
Mentalität. Eine Perspektive, die an Interesse gewinnt, weil
wir wissen, dass dieser Blickwinkel zusätzlich gebrochen und
gefiltert wird durch die Wahrnehmung des hochgebildeten
europäischen Autors. Inwiefern sich die europäische
Kultur der indischen annähern kann, wie ein Verständnis
überhaupt aussehen könnte – hier haben wir eine
anschauliche sprachliche Erfahrung, die unsere kommunikative
Kompetenz außerordentlich erweitert.
Literatur und Management ermöglichen allerdings nicht nur
überraschende Querbezüge, die argumentativ entwickelt und
systematisiert werden können. Sie bleiben natürlich in
einem widersprüchlichen Verhältnis. Bislang wurden ja nur
positive Argumente entwickelt: Siddhartha lehrt uns, den
dynamischen Charakter von Ideen als Prinzip des Wandels und der
Veränderung zu begreifen. Aus dem meditativen Kontext
indischer Kultur erfahren wir viel über das Wesen des
Durchsetzungsvermögens, das Ziele als schicksalhafte Gegenwart
behandelt und konsequent umsetzt. Wir lernen viel über
Wahrhaftigkeit, die den Mut voraussetzt, sich zu seiner
Einmaligkeit zu bekennen. Auch die Bedeutung des intuitiven
Nein-Sagens hat sich als Navigation zu einem Ziel offenbart, das
auf der inneren Übereinstimmung mit persönlichen
Wertsetzungen beruht. Schließlich wurden wir noch
darüber aufgeklärt, dass reflexive Distanz und Empathie
nicht nur den Stress reduzieren, sondern auch ökonomische
Durchschlagskraft besitzen. So weit, so gut. Dennoch enthält
das Buch auch eine harte Lektion für Führungskräfte,
die etwa der Versuchung erliegen, zu ungehemmt aus dem Quell
indischer Weisheit und Meditation zu schöpfen. Denn
Siddharthas Lebenslauf beweist, dass dieser Kontext nur teilweise
mit unserer westlichen Lebenswelt kompatibel ist.
Die traditionelle indische Kultur kann offensichtlich nicht von
einem unüberwindbaren Widerspruch lassen. Die Meditation
trennt die praktische Lebenswelt und das religiöse Bewusstsein
äußerst radikal voneinander ab. Sie bewegt sich
unüberbrückbar zwischen Sansara, dem blinden,
unaufgeklärten und unbesonnenen Spiel täuschender
Erscheinungen – und der Unio mystica, der Erfahrung
der Wesensidentität alles Seienden, die letztlich zum Ausstieg
aus der Welt, zum Ausstieg aus Zeit und Raum, zum Exitus ins
Nirwana (= „erlöschende Flamme“)
führt. Ähnlich wie im klassischen europäischen
Katholizismus, scheint die Welt unrettbar in die Erbsünde
verstrickt. Schon die nackte Geburt belegt ja unsere Schuld,
für die wir im unendlichen Rad des Leidens sühnen
müssen. Die Erlösung ist abseitig und jenseitig, ja
gewährt noch nicht einmal die Vorstellung eines
persönlichen Gottes, der uns Gnade gewähren könnte.
Mönchisch und asketisch ist dieses Weltbild. Und es lebt vom
Widerstreit zwischen einer dem Leid verfallenen Existenz und
geistiger Befreiung.
Dieses Nebeneinanderbestehen zweier unvermittelbarer Prinzipien
beendet die erfolgreiche Karriere Siddharthas als Kaufmann. Am
Anfang beherrscht er noch den schwierigen Drahtseilakt zwischen
Meditation und praktischem Leben. Je mehr sich aber Siddhartha der
Welt aktiv zuwendet, desto mehr erfährt er sie als
sündhafte Verführung und Disziplinlosigkeit: „Die
Welt hatte ihn eingefangen, die Lust, die Begehrlichkeit, die
Trägheit, und zuletzt auch noch jenes Laster, das er als das
törichteste stets am meisten verachtet und gehöhnt hatte:
die Habgier“ (S. 65f.) – Schlimmer noch: Siddhartha ist
es auch nicht gegeben, sich vollständig in das aktive Leben zu
integrieren und wirklich restlos in ihm aufzugehen. Er verliert
seine Intuition und Selbstkontrolle. Nicht jedoch seinen
gewohnheitsmäßigen Hang zur Reflexion, zum distanzierten
Beobachten. Er hat, biblisch gesprochen, vom Baum der Erkenntnis
gegessen. Und von dort aus gibt es keinen Weg zurück zu dem
naiven und ungebrochenen Leben der „Kindermenschen“:
„Er beneidete sie um das eine, was ihm fehlte und was sie
hatten, um die Wichtigkeit, welche sie ihrem Leben beizulegen
vermochten, um die Leidenschaftlichkeit ihrer Freuden und
Ängste, um das bange, aber süße Glück ihrer
ewigen Verliebtheit. In sich selbst, in Frauen, in ihre Kinder, in
Ehre oder Geld, in Pläne oder Hoffnungen verliebt waren diese
Menschen immerzu.“ (S. 64f.) Im Gegenteil lernt Siddhartha
von ihnen „gerade das Unangenehme, was er selbst
verachtete.“ (Ebd.) Zwischen Sünde und Erlösung
gibt es keinen Indifferenzpunkt, auf dem man einfach stehen bleiben
könnte.
Interkulturell ist von Interesse, dass Hesse diese strenge, keine
Alternative duldende Trennung von reiner Vergeistigung und
Weltlichkeit mit einem wichtigen Motiv der deutschen Romantik
verbindet: mit dem abgründigen Widerspruch zwischen der
poetischen Innerlichkeit des Künstlers und dem prosaischen
Spießbürger, der seinen Platz im Leben fraglos einnimmt.
Hermann Hesse und Thomas Mann sind wohl die profiliertesten
deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, die den alten
romantischen Gegensatz zwischen Künstler und Bürger in
allen nur denkbaren Schattierungen weiterentwickelt haben. Sie
sahen darin die Opposition zwischen Geist und Leben schlechthin.
Denn wer, wie der Künstler, das Leben beschreiben will, kann
nicht am Leben teilhaben. Der Drang zur künstlerischen
Gestaltung schafft stets eine Distanz zur praktischen
Selbstverständlichkeit, womit der lebenstüchtige Mensch
sein Dasein souverän absolviert. Der Künstler ist zum
bewusst reflektierenden Abstand verurteilt, weil er seine
Erfahrungen einzig als konstruktives Material für seine Arbeit
betrachtet. Je mehr er darin aufgeht, desto besser und
glaubwürdiger ist er. Außerhalb des Lebens stehen bis
hin zur asketischen Selbstverleugnung, das Leben also der Kunst
gleichzeitig weihen und opfern, diese deutsche Idee des
Künstlers verquickt sich in Hesses Siddhartha
zweifellos mit dem indischen Weltbild. In einem intimen
Gespräch zwischen Kamala und Siddhartha kommt das direkt zum
Ausdruck:

„Und dennoch, Lieber, bist du ein Samana geblieben,
dennoch liebst du mich nicht, du liebst keinen Menschen. Ist es
nicht so?“
„Es mag wohl so sein“, sagte Siddhartha müde.
„Ich bin wie du. Auch du liebst nicht – wie
könntest du sonst die Liebe als eine Kunst betreiben?“
(S. 62)

Siddhartha, der sich so sehr wünscht, „wirklich zu
genießen und zu leben, statt nur so als ein Zuschauer daneben
zu stehen“ (S. 60), ist eine interessante deutsch-indische
Fusion totaler Vergeistigung. Und zweifellos sind beide Denkmodelle
unergiebig für effektives Management, wo es auf Handeln und
Entscheiden ankommt.
So auch bei Siddhartha: Er lässt über Nacht, gerade wie
er geht und steht, Reichtum, Völlerei und Spielsucht
endgültig hinter sich zurück. Er taucht bei einem alten
Fährmann unter, wo er den ruhelos und doch ewig gleich
dahinströmenden Fluss als Sinnbild der Ewigkeit erfährt:
„...da sah ich mein Leben an, und es war auch ein Fluss, und
es war der Knabe Siddhartha vom Manne Siddhartha und vom Greis
Siddhartha nur durch Schatten getrennt, nicht durch Wirkliches. Es
waren auch Siddharthas frühere Geburten keine Vergangenheit,
und sein Tod und seine Rückkehr zu Brahma keine Zukunft.
Nichts war, nichts wird sein; alles hat Wesen und Gegenwart.“
(S. 88) Vor allem das Zeitverständnis macht deutlich, wie
gravierend sich die Eigenart der indischen Kultur von unserer
westlichen Welt unterscheidet. Das Hier und Jetzt, der Ausstieg aus
der Illusion der Zeit – und damit aus der Welt des
Business – ist das systemimmanente Ziel letztlich
jeder Meditation.
Doch auch aus dem bleibenden Spannungsverhältnis zwischen
Literatur und Management lassen sich, neben dem kulturellen
Lerneffekt, wichtige Argumente ableiten. Ex negativo
können wir aus Siddhartha lernen, dass der Zielpunkt
geschäftlichen Handelns natürlich im Rahmen einer
zeitlichen Entwicklung und nicht etwa im außerzeitlichen
Nirwana anzusetzen ist. Der schon zitierte George Eastman
ist ein gutes Beispiel dafür, wie man die in Siddhartha
entwickelten Techniken der Zielorientierung für das
Business nutzen kann. Ebenso die anderen
Gründerfiguren, die wir erwähnt haben. Zeitliche
Planbarkeit, Umsetzbarkeit und Erreichbarkeit sind aber zweifellos
westliche Kulturelemente, die im Zuge der neuzeitlichen
Wissenschaft konstituiert wurden. Dazu gehört auch ein anderes
Verständnis der menschlichen Geschichte, das der indischen
Ideenwelt ursprünglich fremd ist. Es ist die Idee, dass
zeitliche Ereignisse und ihre Abläufe keine substanzlose
Täuschung sind, die das wahre Wesen verschleiern. Im Gegenteil
glaubt die westliche Welt daran, dass Geschichte über die
Hoffnungen, Träume und Utopien des Menschen entscheidet, dass
die Zukunft keine Wiederholung des immer Gleichen, sondern ein
Experimentierfeld ist, worin sich das Schicksal unserer Visionen
real vollzieht – und vor allem: dass es möglich ist,
Geschichte selbst zu gestalten. Die industrielle Revolution in
England sowie die politische Revolution in Frankreich, die
technische und politische „Machbarkeit“ der Zukunft
sind immer noch die entscheidenden Paradigmen für unser
westliches Weltverständnis. Wir stehen innerhalb der Zeit. Und
Sinn wie Unsinn der geschichtlichen Prozesse definieren für
uns geistige, im Extremfall auch ideologische Standpunkte.
Durch die innerweltliche und innerzeitliche Zielsetzung, die das
Handeln im westlichen Denken bestimmt, wird verhindert, dass wir
den Geist von der Lebenspraxis abtrennen. Wir haben zwar die
Fähigkeit zur Meditation verloren, doch dafür kehrt die
geistige Suche nur umso intensiver in unserem Ideal der Arbeit
wieder. Wir haben die Meditation durch Motivation ersetzt. Und von
einem echten Unternehmensgründer, aber auch von jeder
inspirierenden Führungskraft erwarten wir eine
quasireligiöse Hingabe an ihr Tun. Die meisten Titanen, so
Richard Tedlow, „hatten Frauen, Clubs, Hobbys und zeigten
philanthropische Aktivitäten. Aber sie haben ihre Firmen zur
überragenden Größe geführt, indem sie jeden
wachen Moment über sie nachgedacht haben.“ (HBR,
December 2001, Special Issue, S. 78) - Also durch die
„komplette Hingabe an den Erfolg des Geschäfts und an
ihren eigenen Ehrgeiz.“ (Ebd., S. 77) Dieser
vollständige Dienst am Unternehmen, diese ununterbrochene
Wachsamkeit zeigt eine starke Parallele zur spirituellen
Weisheitssuche, eine unübersehbar asketische Tendenz zu
äußerster Disziplin und Selbstbeherrschung. Das
westliche Modell dieser spirituellen Dimension hat Max Weber in der
protestantischen Arbeitsmoral identifiziert, dem der moderne
Geschäftsmann (oft unbewusst) folgt. Es ist eine
„innerweltliche Askese“, die auf den ersten Blick etwas
verblüfft. Aber die Industrie-Titanen belegen es zweifellos.
Ein Beispiel unter vielen: Gottlieb Daimler nutzte 1893 die
Flitterwochen mit seiner zweiten Frau absolut bedenkenlos als
Public-Relations-Tour zur Weltausstellung in Chicago ...
Meiner Meinung nach ist es deshalb bis zum heutigen Tag völlig
absurd, sich eine Top-Führungskraft als Exponenten
einer gesunden „Work-Life Balance“ vorzustellen, wie
sie in unserer Freizeit- und Spaßgesellschaft angestrebt
wird. Der erfolgreiche Macher und Manager gilt immer noch als Ikone
exzessiver Arbeitsmoral. Zeit ist seine wertvollste Ressource
– weil er innerhalb der Zeit die Verwirklichung von Ideen
strategisch koordinieren muss. Empathie und Selbstwahrnehmung
allerdings legen nahe, einen Rückzugsort, eine Zuflucht in
sich selbst aufzubauen. Denn ohne reflexiven Abstand, durch das
bloße Tun allein, wird der Stress besinnungslos herrschen -
und letztendlich auch die Effizienz bedeutend herabsetzen. Auch das
können wir vom „Kaufmann“ Siddhartha durchaus
lernen. Um sicher zu gehen, dass wir vom grenzenlosen Aktivismus
nicht aufgefressen werden, benötigen wir jedoch Werte, die mit
dem Ideal zeitlicher Umsetzung vereinbar sind. Das Nirwana
wird hier schwerlich hilfreich sein. Es ist offensichtlich die
Liebe zur Arbeit, die unsere Motivation bestimmen sollte. Der
Unternehmer Dan Bricklin, Erfinder der Computertabelle
„VisiCalk“, lässt daran keinen Zweifel:
„Training, Talent und die sehr schwer fassbare Komponente des
guten Timings sind wesentlich. Aber sie sind nicht genug. Sie
brauchen eine wahre Leidenschaft für das, was Sie tun.“
(HBR, September 2001, S 54) Selbst der hartgesottene Jack Welch
bestätigt das in einem Interview wie folgt:: „Mein Leben
und meine Arbeit gingen ineinander über. Der entscheidende
Punkt ist: Ich hatte den Luxus, das zu tun, was ich liebe
(...).“ (HBR, February, 2002, S. 92)
Ein westlicher Manager ist also gut beraten, wenn er sich zu seinem
ureigenen Erbe bekennt. Dem Erbe der protestantischen Arbeitsmoral.
Indem er in seinem Beruf eine Berufung erblickt, erfährt er in
seiner Führungspraxis eine geistige Intensität, die
durchaus vergleichbar ist mit der spirituellen Suche nach Wahrheit
und Erlösung. Kunst, Literatur und Philosophie können ihm
dabei helfen, seinen reflexiven Abstand – und damit seine
Emotionale Intelligenz - bedeutend zu stärken. Nicht mehr und
nicht weniger. Das Wirtschaftsleben ist keine humanistische, noch
weniger eine hedonistische Veranstaltung. Wer in einer
führenden Position arbeitet, kann nur durch bedingungslose
Hingabe und klar definierte Werte überzeugen.

©2003 Günter Bachmann

Literaturhinweise

Daniel Goleman, Der Erfolgsquotient, München
2000. Deutscher Taschenbuch Verlag.
Daniel Goleman, Emotionale Intelligenz, München
2001. Deutscher Taschenbuch Verlag.
HBR = Harvard Business Review
Hermann Hesse, ''Siddhartha. Eine indische
Dichtung'', Frankfurt a. M. 1974. Rowohlt.
Theodor Heuss, Robert Bosch. Leben und Leistung,
Stuttgart 1986. Deutsche Verlags-Anstalt.
Harry Niemann, ''Gottlieb Daimler. Fabriken, Banken und
Motoren'', Vaihingen/Enz 2000. Delius Klasing.
Platon, Sämtliche Werke, Hamburg 1957.
Rowohlt.