Hermann Hesse in Cannstatt

Viel ist spekuliert worden über Hermann Hesses
Kindheit und Jugend. Seine Rebellion gegen die vorgezeichnete
Laufbahn als Theologe, sein Abfall vom Glauben der Eltern und sein
beeindruckender Werdegang als Dichter erscheinen heute im Licht
einer exemplarischen Loslösung von der Welt des
Bürgertums. Leicht könnte man den Eindruck gewinnen, als
wäre Hesses Persönlichkeit schon immer voll ausgebildet
gewesen. Seine Verstöße gegen die geltenden Regeln und
Normen reichen zurück bis ins vierte Lebensjahr. Und nahezu im
Alleingang hat er sich als Jugendlicher von der mächtigen
Tradition des protestantischen Pfarrhauses emanzipiert. Dieser
Essay hat sich jedoch nicht zum Ziel gesetzt, sofort die
große geistesgeschichtliche Summe zu ziehen. Vielmehr soll
der Aufenthalt Hermann Hesses in Bad Cannstatt möglichst
detailliert aufgearbeitet werden. Die von Ninon Hesse publizierten
Briefe bieten eine beachtliche Menge konkretes Material –
nicht nur die Perspektive Hesses, sondern auch die seiner Familie
kommt zu Wort. Und erst vor diesem anschaulichen Hintergrund werden
mögliche Schlussfolgerungen gezogen, die das bekannte Urteil
über Hesses Jugend ergänzen, zuweilen auch
einschränken und differenzieren.
Die in Hesses Biographie etwas stiefmütterlich behandelte
Schulzeit in Cannstatt eignet sich ohnehin vorzüglich für
eine Fallstudie. Äußerlich ist sie in der Tat wenig
auffällig. Es gibt kein spektakuläres Weglaufen, ja der
schwierige Schüler besteht sogar die angestrebte
Zwischenprüfung. Doch rückblickend sieht Hermann Hesse
diesen Aufenthalt immerhin als einen Teil seiner Identität als
Schriftsteller. Im Mai 1895 schreibt er an seinen ehemaligen
Cannstatter Lehrer Dr. Kapff: "Ich bin seit Cannstatt ein
Anderer geworden, ruhiger und klarer im Urteil, selbständiger;
auch das tolle Kneipenleben ist mein Geschmack nicht mehr. (...)
Jetzt ist diese Zeit vorbei. Immerhin hat sie mein dichterisches
Ich ausgebildet; die tollste Sturm- und Drangzeit ist
glücklich überstanden." (Ninon Hesse, S. 464, 468.)
Das lohnt, bei aller Skepsis gegenüber den Selbstzeugnissen
von Dichtern, eine eingehendere Untersuchung.

"Ein mächtiger Wille"

Am 7. November 1892 kam Hermann Hesse nach Bad
Cannstatt. Die Vorgeschichte zu diesem Datum ist turbulent: Seine
berühmte Flucht aus dem theologischen Seminar in Maulbronn lag
genau 8 Monate zurück. Unmittelbar darauf hatte er zwei
Aufenthalte in einer Nervenheilanstalt, eine unglückliche
Liebschaft und einen Selbstmordversuch hinter sich gebracht. Nur
wenige Wochen vor seiner Ankunft in Cannstatt hatte die Anstalt in
Stetten ihre Diagnose noch einmal brieflich bestätigt: Sie
schwankte zwischen "Primärer Verrücktheit"
und "Moral Insanity". Letztere, "die moralische
Verrücktheit", könne sich geben. Doch die
"Primäre Verrücktheit" sei schlechterdings
unheilbar. (Ninon Hesse, S. 283f.) Hermann Hesse war erst
fünfzehn Jahre alt. Aber unter diesen Umständen schien es
sehr fraglich, ob er jemals einen ordentlichen Beruf lernen
würde. Seine Eltern zogen in Erwägung, ihn weiterhin in
ärztliche Behandlung zu geben.
Inzwischen hatte er in Basel bei einem befreundeten Pfarrer namens
Pfisterer Aufnahme gefunden. Und dort reifte sein Plan, auf das
Cannstatter Gymnasium zu gehen. - Pfarrer Pfisterer schrieb an
seinen Vater: "Er kam dann auf das Gymnasium zu
Cannstatt zu sprechen, mit dessen Rektor Du bekannt seiest
und in dem die Schülerzahl nicht zu groß sei
(...)." (Ninon Hesse, S. 295.) Auch der Pfarrer selbst
unterstützte dieses Anliegen: "Ich würde in Gottes
Namen es wagen und die Doktoren bei Seite lassen." (Ninon
Hesse, S. 296.) Der Schulbesuch in Cannstatt wurde
schließlich genehmigt und als eine Art Test betrachtet.
Hesses Mutter schreibt: "Uns ist’s so: Kann Hermann
weiterstudieren, dann sei Gott Lob und Dank! – Kann
er’s nicht, so ist’s gut, wenn er selber es einsieht
und merkt, dass wir ihm nicht im Wege sind." (Ninon
Hesse, S. 298.) Noch während seines Aufenthalts in Stetten
hatte der Vater signalisiert: "Im übrigen wiederhole ich
meine frühere Versicherung, daß es mir voller Ernst
damit ist, Dich in ein Gymnasium gehen zu lassen, sobald dein
Zustand so ist, daß man irgendwelchen Erfolg davon erwarten
darf." (Ninon Hesse, S. 267.) Er fügt jedoch hinzu:
"In Deinen Briefen spricht sich ein solcher Freiheitsdrang
und ein solcher Zorn über die Welt, wie sie nun einmal ist,
aus, daß ich nicht begreifen kann, wie Du in solcher Stimmung
es unter dem Zwang einer Schulordnung sollst aushalten und mit
Nutzen studieren können." (Ninon Hesse, ebd.) Wie
berechtigt dieser Zweifel war, hat Hermann Hesse später selbst
bestätigt: "Mehr als vier Jahre lang ging alles
unweigerlich schief, was man mit mir unternehmen wollte, keine
Schule wollte mich behalten, in keiner Lehre hielt ich lange aus.
Jeder Versuch, einen brauchbaren Menschen aus mir zu machen, endete
mit Mißerfolg, mehrmals mit Schande und Skandal, mit Flucht
oder mit Ausweisung." (Zeller, S. 28.)
Besonders die drohende Abschiebung in eine Nervenheilanstalt ist
ein immer wiederkehrendes Motiv in Hesses Kindheit und Jugend. Er
war gerade mal 6 Jahre alt, als sein Vater notierte:
"Hermann, der im Knabenhaus fast für ein Tugendmuster
gilt, ist zuweilen kaum zu haben. So demütigend es für
uns wäre, ich besinne mich doch ernstlich, ob wir ihn nicht in
eine Anstalt oder in ein fremdes Haus geben sollten." (Ninon
Hesse, S. 13.) Neun Jahre später, als Hesse in Cannstatt mit
zweifelhafter Gesellschaft in Kneipen herumzieht, kehrt die Drohung
prompt wieder: "... wenn Du so weiter machst, kann man Dich
nicht auf freiem Fuß lassen." (Ninon Hesse, 358.)
Daraufhin korrigierte Hesse sein Verhalten. Er wollte in Cannstatt
das so genannte "Einjährig-Freiwilligen-Examen"
machen, die Obersekundarstufe. Diese Qualifikation schützte
vor dem drohenden Militärdienst. Sie ließ außerdem
die Möglichkeit offen, eventuell weiterzustudieren oder einen
nichtakademischen Beruf zu ergreifen. Die Rückkehr in eine
Anstalt hätte alle Perspektiven zunichte gemacht. Und es ist
sehr charakteristisch für Hermann Hesse, dass er unter
großem Druck eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit
zeigte.
In diesem Zusammenhang ist vor einer allzu vorschnellen Beurteilung
seiner Eltern nachdrücklich zu warnen. Hermann Hesse war ein
außerordentlich schwieriges und frühreifes Kind. Seine
Mutter, Marie Hesse, die in zwei Ehen insgesamt 9 Kinder gebar
– Hermann war das fünfte – fühlt sich bereits
dem Vierjährigen nicht mehr gewachsen: "... der Bursche
hat ein Leben, eine Riesenstärke, einen mächtigen Willen
und wirklich auch eine Art ganz erstaunlichen Verstand für
seine vier Jahre. Wo will’s hinaus? Es zehrt mir ordentlich
am Leben dieses innere Kämpfen gegen seinen hohen
Tyrannengeist, sein leidenschaftliches Stürmen und
Drängen." (Zeller, S. 15f.) Schon als
Fünfjähriger schwänzt Hesse die Knabenschule,
komponiert aber auch eigene Melodien und Dichtungen. Und selbst der
Vater, der über eine Anstalt für den Sechsjährigen
nachdenkt, muss anerkennen: "Gaben hat er scheint’s zu
allem: er beobachtet den Mond und die Wolken, phantasiert lang auf
dem Harmonium, malt mit Bleistift oder Feder ganz wunderbare
Zeichnungen, singt wenn er will ganz ordentlich, und an Reimen
fehlt es ihm nie." (Ninon Hesse, S. 13.) Hochbegabt und
sensibel, aber eben auch extrem willensstark – dieses
komplexe Charakterbild zeichnet sich deutlich in den vorliegenden
Dokumenten ab. Vor allem seit seiner Flucht aus Maulbronn hatte
Hesse sehr wirkungsvolle Strategien entwickelt, mit denen er sich
gegen die Autorität der Eltern hartnäckig behauptete. Und
in Cannstatt wurden diese Selbstschutztechniken immer bewusster
eingesetzt. Sehen wir also ganz genau hin, was er dort getrieben
hat.

"Ein eigenes Zimmerle"

Der Großvater mütterlicherseits, Dr. Hermann Gundert,
hat die Abreise seines Enkels nach Bad Cannstatt festgehalten:
"Heute nun ist Marie mit ihm nach der Neckarstadt abgefahren,
wo er einen neuen Anlauf mit Studieren nehmen wird. Er wohnt bei
einem Präzeptor Geiger und wird mit einem andern seine eigene
Stube teilen." (Ninon Hesse, 307.) Der alte Herr hatte sich
in der Anzahl der Zimmergenossen ein wenig getäuscht. Denn
wenige Tage zuvor hatte der Vater seinem schwierigen Sohn
eröffnet: "... Du müsstest mit drei anderen ein
Zimmer zum Schlafen und Studieren teilen. Das Zimmer ist aber
luftig und ziemlich groß. Alles macht dort einen netten,
behaglichen, fast eleganten Eindruck." (Ninon Hesse, S. 300.)
Hesses Reaktion ist nicht eben enthusiastisch: "Ich freue
mich zwar nicht sehr, da ich das Pensionsleben mit drei anderen auf
einem, wenn auch noch so großen und schönen
Zimmer, kenne. Besonders da ich als "Neuer" sehr viel
Arbeit haben werde, ist mir die Gesellschaft, vollends von
Älteren, höchst unerfreulich. Doch was kann man
schließlich machen." (Ninon Hesse, S. 302.) Scheinbar
schickt er sich ins Unvermeidliche. Es wäre auch nicht klug
gewesen, den Vater, der sich in Cannstatt nach mehreren Pensionen
erkundigt hatte, noch weiter zu reizen. Dennoch macht er,
allerdings vorsichtig, seinem Unmut Luft, kein eigenes Zimmer zu
bekommen: "Ihr selbst wißt ja, daß mir vier kahle
Wände, auch Tisch und Stuhl, über die ich verfügen
kann, lieber sind als ein schönes elegantes Zimmer, in dem man
eigentlich doch nur geduldet ist, besonders wenn die anderen
älter sind." (Ninon Hesse, S. 302.) Hesse kleidet seine
Abneigung geschickt in asketische Selbstgenügsamkeit. Auch
sein Einblick in die Psyche von Jugendlichen, wo oft geringe
Altersunterschiede eine große Rolle spielen, entbehrt nicht
jeder Grundlage.
Zu bemerken ist hier aber auch die Fähigkeit Hesses, sehr
schnell Bundesgenossen für seine Absichten zu gewinnen. Er
mobilisiert das Pfarrhaus in Basel. Pfarrer Pfisterer schreibt an
den Vater: "Hermann hat mir Deinen Brief mitgeteilt. Ich
würde mich der Lösung der Frage noch mehr freuen, wenn es
sich hätte machen lassen, daß er allein ein Zimmer
bekommen hätte. Ich glaube, das sollte irgendwie erstrebt
werden, daß er außer der Schule allein sein
kann." (Ninon Hesse, S. 302.) Nur einen Tag später
schreibt dessen Gattin an die Mutter: "... vielleicht
lässt es sich auch noch machen, daß er ein eigenes
Zimmerle bekommt, ich möchte ihm das auch sehr
gönnen." (Ninon Hesse, S. 305.) Kaum in Cannstatt mit
seiner Mutter angekommen, setzt er seinen Wunsch auch prompt in die
Tat um. Der Großvater berichtet: "Der liebe Hermann
wurde also (...) bei Präzeptor Geiger in Cannstatt
einheimisch, wohnt aber gerade gegenüber bei einer Frau von
Montigel, die ein Dachstübchen abzugeben hatte." (Ninon
Hesse, S. 308.) Damals war das zweifellos ein Privileg. So schrieb
ihm der über seine Kneipenbesuche verärgerte Vater nach
Cannstatt: "Es tut mir sehr leid zu hören, daß du
deine Freiheit so mißbrauchst und Dich bei Frau Montigel
unmöglich machst. Wenn Du abends nicht zur rechten Zeit
heimkommst, ja ganze Nächte fortbleibst, so kann sie Dich
natürlich nicht behalten. Es bleibt dann nichts übrig,
als daß du zu Herrn Präzeptor ins Haus ziehst und so
gestellt wirst wie die anderen Pensionäre auch; (...)."
(Ninon Hesse, S. 358.) - Vorerst jedoch gibt Hesse erleichtert
seine neue Adresse bekannt: "Bitte künftig an Fr.
Montigel, Wilhelmstraße, zu adressieren." (Ninon Hesse,
310.) Er hatte einen Rückzugsort gefunden, wo er seine immer
noch enorm nachwirkende Vergangenheit verarbeiten konnte, wo er
Briefe und Gedichte schrieb oder Bücher las. Wieder einmal
erscheint die stille kleine Dachstube als geradezu idealtypischer
Wohnort für angehende Poeten. Denn vergessen wir nicht, was
Herman Hesse später, in seinem "Kurzgefassten
Lebenslauf", geschrieben hat: "Von meinem dreizehnten
Jahr an war mir das eine klar, daß ich entweder ein Dichter
oder gar nichts werden wollte." (Zeller, S. 18.) Er suchte
die Einsamkeit, weil er in seiner Umgebung kein Verständnis
für dieses Ziel erwarten konnte. Vergessen wir aber auch
nicht, dass er durchaus nicht willensschwach war und in der Regel
von seinen Eltern bekam, was er wollte. So besuchte er also fast
ein Jahr lang das heutige Johannes-Kepler-Gymnasium in der
Daimlerstraße und bezog sein Einzelzimmer, alles
ausdrücklich auf eigenen Wunsch.

Ihr lebt das nicht und glaubt mir's nicht"

Der erste Brief, den Hermann Hesse in Cannstatt verfasst,
schlägt moderate Töne an. Er teilt seiner Mutter mit, er
schreibe vor allem ihr zuliebe. Scheinbar abgeklärt fügt
er hinzu: "Wozu auch andern sagen, daß Leben und Ringen
schwer ist; sie selber wissen es und tragen am Eigenen
genug." (Ninon Hesse, S. 309.) Sein Liebeskummer, sein
Selbstmordversuch und seine angeschlagenen Nerven tauchen in diesem
Gemeinplatz völlig unter. Sie erscheinen als Teil eines
allgemeinen Loses, über das kein Aufhebens zu machen sei. Und
Hesse wusste, dass dieses Bekenntnis zum allgemeinen Schicksal
seinen Eltern entgegenkam. Eine extreme Betonung des Ichs bedeutete
für sie schon an sich eine Abwendung von Gott, der ja gerade
Selbstaufgabe und Aufgehen in der Gemeinschaft lehre. Hesse
bestätigt sogar, dass die Eltern es gut mit ihm meinen:
"Deshalb möcht ich am liebsten schreiben, ich sei froh
und mutig und sehe einen Erfolg, aber so habe ich’s in
Maulbronn gemacht, und hatte die Kraft nicht, die Täuschung
durchzuführen." (ebd.) Das Signal ist deutlich: Ich habe
aus meinen schlimmen Erfahrungen gelernt. Jetzt bin ich vorsichtig.
- Inzwischen hat er eine weitere abstrakte Reflexion eingeflochten,
diesmal aber nicht über das allgemeine Menschenlos, sondern
über den romantischen Begriff des Herzens: "Es ist um
das Herz etwas eigenes: Da ringt und weint und leidet es und ist
doch stolz darauf oder wenigstens zu stolz, viel davon zu
reden." (ebd.) Er gibt mittels rhetorischer Steigerung zu
erkennen, dass er ringt, weint, leidet. Doch das eigensinnige
Gesetz des Herzens - nicht etwa sein bloßes Ich - macht ihn
stolz und schweigsam. - Ziehen wir eine vorläufige Summe:
Hesse sagt, er wolle nicht über seinen Zustand sprechen, gibt
aber trotzdem zu verstehen, wie es um ihn bestellt ist. Er geht auf
seine Eltern zu, bewahrt aber gleichzeitig seinen Abstand. Er
beherrscht das Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe perfekt
und passt es seinen Bedürfnissen an.
So gilt es zunächst, die Rückkehr in eine Anstalt unter
allen Umständen zu verhindern: "Gleich jetzt will ich
sagen: Haltet mich nicht für einen momentan Kranken, sondern
glaubt mir endlich, ich bin eben geschwächt, lerne viel
schwerer als früher etc. Das kann durch einen Aufenthalt in
Irrenhäusern etc. höchstens verschlimmert werden."
(ebd., S. 310.) Hesse will gezielt für eine andere
Sprachregelung sorgen. Er leide nicht an einer Krankheit, sondern
an einer natürlichen und nachvollziehbaren Schwäche:
"... beunruhigt Euch nicht, ich bin nicht, was man krank
heißt, nicht einmal unwohl, habe auch nicht im Sinn, irgend
etwas anzustellen." (ebd.) Dennoch gibt er keine
vollständige Entwarnung. Er sei überlastet, schreibt er.
Er habe kaum Aussicht darauf, den Schulstoff zu bewältigen:
"Also kurz gesagt: Ich habe wenig Hoffnung, je recht
mitkommen zu können, ich arbeite viel und lang, aber es
fällt mir schwer und geht langsam und macht so müde
(...)." (ebd., S. 309f.) Die Botschaft ist wohl die, dass er
heroische Anstrengungen unternimmt, um der Aufgabe gerecht zu
werden. Bei aller Beruhigung – ich bin nicht krank, nur
schwach - hält er die Sorge und das Mitgefühl der Eltern
wach. Er schließt mit dem Hinweis: "Bitte,
nehmt’s nicht übel, wenn ich nicht oft schreibe."
(ebd., S. 310.) Offenbar genießt der junge Hesse seine neu
gewonnene Unabhängigkeit in Cannstatt. Und erst in einem
Postskriptum, scheinbar getrennt von allem Übrigen, wagt er
einen sehr energischen Hinweis: "Wenn meine Briefe, etwa die
von Stetten, dem Arzt gezeigt werden, der mich dann für
verrückt erklärt, so werde ich das Schreiben
aufgeben." (ebd.) Ein Arzt in Stetten hatte davon abgeraten,
ihn jetzt schon auf das Gymnasium gehen zu lassen und verfasste ein
dementsprechendes Gutachten. Hesse hatte trotzdem seinen Willen
bekommen. Und er macht noch einmal entschieden darauf aufmerksam,
dass er vor radikalen Konsequenzen nicht zurückschreckt, wenn
man seine Absichten durchkreuzt. Er droht ohne Umschweife mit dem
Abbruch der Kommunikation. - Seine Eltern haben jedenfalls keine
Briefe an Ärzte weitergeleitet.
Vielleicht wird man einwenden, hier werde zuviel in Hesses
Verhalten hineininterpretiert. Was als Strategie erscheint, sei
durchaus nicht bewusst, sei die Reaktion eines hochgefährdeten
jungen Mannes, der viel durchgemacht habe, der zwischen
Irrenhäusern, schwieriger Pubertät, verständnislosem
Elternhaus und unklarer Zukunftsperspektive hin- und hergerissen
sei. Das alles mag zutreffen. Das Unbewusste kann sehr flexible
Instinkte entwickeln, die der Rationalität zum Verwechseln
ähnlich sehen. Es geht auch nicht darum, Hesse unfair zu
dämonisieren. Es geht ausschließlich um eine
möglichst offene, keineswegs absolute Lesart seiner Briefe.
Denn diese allein liegen uns sicher vor. Zweifellos hat er viel
gelitten, aber ebenso unzweifelhaft konnte er sich erstaunlich gut
behaupten. Zudem ist sein frühreifer Verstand vielfach
dokumentiert, vor allem seine große sprachliche Bewusstheit,
die bereits im Alter von 13 Jahren zur festen Absicht führt,
Dichter oder gar nichts zu werden.
Sein zweiter Brief aus Cannstatt bestätigt das eben Gesagte.
Mit feinem Verstand, ja mit ironischer Entlarvung reagiert er auf
die christlichen Ratschläge der Eltern, die ihm inzwischen
geantwortet haben: "Dank auch für all die guten
Ermahnungen, sie müssen Euch wohl das Schreiben erleichtern,
das mir schwer fällt." (Ninon Hesse, S. 310.) Mit
anderen Worten: Euer dogmatischer Glaube rührt nicht an das
Wesentliche, mit dem ich mich auseinandersetze. Der Weg vom Denken
zum Schreiben ist sehr kurz für euch, da ihr die
Beschränktheit eurer eigenen Position nicht ausreichend
wahrnehmt. "Was soll ich auch schreiben", fährt er
fort. "Was mich interessiert, ist Euch unwichtig, und
über Dinge zu schreiben, die mir einerlei sind, fällt mir
schwer." (ebd.) Derlei geheimnisvolle Anspielungen finden
sich in den Cannstatter Briefen häufig. Und sie sind nicht
einfach zu deuten. Sie könnten zu diesem Zeitpunkt für
seinen Liebeskummer stehen, für seinen romantischen
Lebensüberdruss, aber auch für den unausgesprochenen
Wunsch, die Literatur zum Beruf zu machen. Dieses Verlangen hat er
übrigens kaum jemals direkt geäußert, solange er
von seinen Eltern abhängig war. Auch in seinen Cannstatter
Briefen bewahrt er sehr umsichtig Stillschweigen darüber. Er
war sich der Ablehnung der Eltern viel zu sicher. Doch gerade das
Unausgesprochene - der Traum, als Dichter zu leben - schwingt
häufig in den sprachlich sehr reflektierten Anspielungen
mit.
So macht Hesse von Anfang an keinen Hehl aus seiner weiten Distanz
zum Schulalltag: "... das triste Gymnasialleben mit seinen
albernen Kleinlichkeiten und Förmlichkeiten, all dem
schlechten Witz und dem vielen Ärger, all den Eigenheiten der
Professoren und Kameraden ist mir gleichgültig und
zuwider." (ebd., S. 310f.) Ästhetisch leicht angewidert
bezieht er mit seinem scharfen Urteil eine Position außerhalb
des normierten Lebens. Später, in seiner literarischen Arbeit,
sollte dieser Widerspruch zwischen Geist und Leben ständig
wiederkehren – natürlich gereifter, ausgewogener und vor
allem gerechter gegen die bürgerliche Lebensform. In dieser
Lebensphase geht es aber vor allem um die Selbstbehauptung der
eigenen Position. Hesse lenkt auch sofort von diesem Thema wieder
ab, indem er seine Unruhe nicht etwa poetisch, sondern scheinbar
völlig rational motiviert: "... wie kann ich ruhig sein
im Gedanken, daß ich trotz Fleiß und Arbeit nur
notdürftig mitkann und wenig Hoffnungen habe." (ebd., S.
311.) Dies soll erneut das Mitgefühl der Eltern wecken und sie
gleichzeitig beruhigen. Anschließend verweist er auf die
Zukunft, wo er hoffe, auf die hinter ihm liegende böse Zeit
heiter zurückblicken zu können. In der nächsten
Zeile jedoch stellt er mit einer weiteren Anspielung alles wieder
in Frage: "Doch – ich verfalle auf ein Thema, das euch
unlieb ist, d.h. ich sage, was ich denke und was mich bewegt, und
das ist nicht ratsam!" (ebd.) Obschon er gar nichts
Verfängliches gesagt hat, signalisiert er den Eltern: Es gibt
noch mehr als meine Schulprobleme, aber ihr habt das Vertrauen
zerstört. Nach äußerster Distanz jedoch
schließt Hesse diesmal seinen Brief mit scheinbarer Nähe
und Zerknirschung: "Also denkt nicht zu viel an mich, und
wenn Ihr’s tut, so verzeiht und habt Mitleid mit mir und den
dummen Nerven!" (ebd.) Doch der Verdacht bleibt bestehen,
dass die Anspielung auf die böse Vergangenheit und die
Nervenschwäche geschickte Argumentationstechniken sind, die
vor allem seinen poetischen Widerstand gegen die Ansprüche der
Eltern verschleiern.
Dafür spricht ein Brief des Präzeptors Ludwig Geiger, in
dessen Schüler-Pension Hesse untergekommen war. Hier sollte er
sein Essen einnehmen, soziale Kontakte pflegen und bezüglich
seines Verhaltens kontrolliert werden. Der Präzeptor (lat. =
"Lehrer" oder "Erzieher") gibt den Eltern
folgenden Bericht über Hesses Schulleistungen: "Hermann
ist wohl und hat sich ins Schulleben wieder ganz gut
hineingefunden. Privatunterricht braucht und erhält er nur in
der Geometrie (..). In der Schule geht es ihm ganz gut, er
erhält in seinen Arbeiten recht gute Noten. Soweit ich es
beobachten kann, arbeitet er auch fleißig. (...) Sein
tägliches Schulpensum bewältigt er jedenfalls
leicht." (Ninon Hesse, S. 311f.) - Diese Aussagen weichen
allesamt gravierend von der Selbstdarstellung Hesses ab. Er scheint
viel belastbarer und anpassungsfähiger, als er den Eltern zu
offenbaren geneigt ist. Offenkundig will er sie in einer gemischten
Gefühlslage aus Sorge und Mitleid halten, während er
durchaus zielstrebig seinen Schulabschluss im Auge behält. Er
leidet zwar immer noch unter der panischen Angst, in eine Anstalt
geschickt zu werden. Und zwei Tage nach Geigers Bericht schreibt er
seiner Mutter: "Du sprachst von der Last, die meine Nerven
mir auflegen, es ist ja wahr, aber es sind nicht die aufgeregten
Nerven, sondern vielmehr die merkwürdige Schwäche, auch
die geistige. Daran ist Stetten schuld; ein Zustand wie mein
damaliger muß den stärksten Riesen schwächen,
sicher viel mehr als strengste Arbeit." (Ninon Hesse, S.
313.) Warum, so könnte man jedoch fragen, sagt er dann nicht,
dass er gut zurecht kommt? Offensichtlich gibt es etwas in ihm, was
sich gegen die Schlussfolgerung sträubt, er sei gänzlich
auf dem Kurs einer normalen, planbaren und schulgerechten
Entwicklung angelangt. Die auffällige Überbetonung seiner
Schwäche schützt effektiv vor dem Einblick in seine
poetisch gesteigerte Sensibilität, die grundsätzlich
unvereinbar mit gängigen Berufszielen ist. Die gespannte, aber
auch mitfühlende Unruhe der Eltern, die scheinbar so rationale
Begründung seines Zustands verschaffen ihm Rücksicht,
Schonung und größtmögliche Freiheit. Es ist gerade
so, als wolle er für seine Außenseiterposition von
vornherein um Verständnis werben, als wolle er einen
psychologischen Vorrat anlegen, von dem er in noch unbestimmter
Zukunft zehren kann. Das ist, meines Erachtens, die vielleicht noch
instinktive Bewahrung der Absicht, Dichter zu werden – und
sonst nichts. Dergestalt ist sein Verhalten außerordentlich
lebensklug: Ruhe bis zum Examen, aber das letzte Wort über
meinen Werdegang ist jedenfalls noch nicht gesprochen.
Nachdem er der Mutter seine Schwäche geklagt hat, macht Hesse
eine interessante Bemerkung, die diese Interpretation
unterstützt: "Doch genug davon, Ihr lebt das nicht und
glaubt mir’s nicht." (ebd.) Das konkrete Erleben ist
demnach die einzig wahre Legitimation des Denkens. Siebenundzwanzig
Jahre später, im Demian (1919), kehrt diese Idee in
einer fiktiven, aber parallelen Situation auffällig wieder:
"Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert."
(Demian, S. 64.) Diese Worte richtet Demian an den
Ich-Erzähler Emil Sinclair, der diese Lektion vergessen hat
und Gefahr läuft, in der Frömmigkeit des Elternhauses
wieder Schutz zu suchen. "Es wird dir nicht
glücken!" fügt Demian hinzu. "Es glückt
keinem, wenn er einmal das Denken angefangen hat."
(Demian, ebd.) Der Roman berichtet sehr eingehend über
die schmerzhafte Lösung von den Eltern, den ersten
"Schnitt in die Pfeiler, auf denen mein Kinderleben geruht
hatte, und die jeder Mensch, ehe er er selbst werden kann,
zerstört haben muss." (Demian, S. 21.) Selbstbestimmung
und Selbstwerdung ist für Hesse also untrennbar mit der Abkehr
von der elterlichen Autorität verbunden. Demnach könnte
man, auf seine Cannstatter Zeit zurückblickend, die enorme
Selbstbehauptung gegen die Eltern schon als erste Stufe aller
Stufen deuten, die zum späteren Dichter führen. Doch
selbst dann, wenn sich Hesse in Cannstatt seiner Berufung
längst nicht so sicher war, wie es im Nachhinein leicht zu
konstruieren wäre – Bewusstsein und Absicht waren in
Ansätzen eindeutig vorhanden. Er schrieb zahlreiche Gedichte,
seit Jahren schon. In Maulbronn gründete er literarische
Zirkel, war außerordentlich produktiv und galt bald als ein
Liebhaber brotloser Schreibereien und umfangreicher Nebenstudien.
Selbst in seiner schwierigen Zeit in Stetten verfasste er ein
kleines Gedichtbändchen, das er später einer Bekannten
schenkte. Kein enthusiastischer Teenager macht das ganz ohne das
Gefühl einer inneren Berufung zum Dichter. Ich sehe keinen
Grund, an Hesses Selbstaussage, dass ihm schon mit 13 sein
eigentlicher Berufswunsch klar war, ernsthaft zu zweifeln.

Und noch nicht einmal dieses Bewusstsein ist eine absolute
Voraussetzung für unsere Lesart der Cannstatter Briefe. So
schreibt Hesse, erneut im Demian: "Der Erwachsene, der
gelernt hat, einen Teil seiner Gefühle in Gedanken zu
verwandeln, vermisst diese Gedanken beim Kinde und meint nun, auch
die Erlebnisse seien nicht da. Ich aber habe nur selten in meinem
Leben so tief erlebt und gelitten wie damals."
(Demian, S. 37.)

"Und ich, ich weiß nicht, welcher Welt ich angehöre"

Bis zum Ende des Jahres 1892 verhält sich Hesse in
Cannstatt äußerlich sehr ruhig. Er beschwört jedoch
weiterhin das Bild des überarbeiteten Schülers, der mit
seiner Schwäche zu kämpfen hat: "Alle Verfassungen,
mathematische Formeln, elektrische Leitungen und Schwingungen,
französische Vokabeln etc etc bestürmen mich mit
Macht." (Ninon Hesse, S. 314.) Seiner Mutter teilt er mit:
"Ich freue mich auf Weihnachten, auf Euch und die Freizeit,
auf Schlittschuhlaufen und Kerzenduft und Musik und
‚Gudle’, denn es ist eine andere Welt, in die ich
vielleicht nicht passe, aber es ist Abwechslung und Erleichterung
für kurze Zeit." (ebd.) Hesse skizziert mit wenigen
Strichen den idyllischen Höhepunkt eines gutbürgerlichen
Daseins. Aber er stellt in Frage, dass er in diese "andere
Welt" hineinpasst. Er lebt demnach in einer zweiten, ihm
eigenen Welt, die sich mit der des Elternhauses nicht vereinbaren
lässt. Und diese eigene Welt ist von einer verzehrenden
Intensität, die nur vorübergehende Ablenkung
zulässt. Einige Zeilen später taucht das Bild von den
zwei Welten noch einmal auf: "Inspektor Feldwegs
grüßen, auch Pfarrer Oehlers, die ich heute besucht
habe. Nette Leute! Sie gehen in ihrer Sache und Familie auf –
und ich, ich weiß nicht, welcher Welt ich angehöre und
wäre nur gern ein anderer und hätt’ es gern anders
und weiß doch nicht wie? wie." (ebd.)
Diese Befindlichkeit, die der fünfzehnjährige Hesse
beschreibt, ist typisch für die literarische Romantik:
Repräsentative Figuren der bürgerlichen Welt –
"Inspektor Feldwegs", "Pfarrer Oehlers"
– werden aus der ironischen Perspektive einer isolierten,
gefährdeten, meist künstlerischen Existenz wahrgenommen:
"Nette Leute! Sie gehen in ihrer Sache und Familie
auf." – Dann folgt der abrupte Rückzug in die
Innerlichkeit: " – und ich, ich weiß nicht,
welcher Welt ich angehöre." Dieser plötzliche
Stimmungsumschwung ist ebenfalls bezeichnend für die
romantische Gefühlslage. Die intensive Erfahrung der eigenen
Welt bleibt auf das isolierte Ich beschränkt und kann sich mit
der modernen bürgerlichen Arbeitswelt nicht vermitteln. Hesse
konnte diese Problematik zum Beispiel Eichendorffs
"Taugenichts" entnehmen, den er nicht zufällig in
seiner Cannstatter Dachstube zu studieren beginnt: "Alles ist
so fröhlich", heißt es da, "um dich
kümmert sich kein Mensch. – Und so geht es mir
überall und immer. Jeder hat sein Plätzchen auf der Erde
ausgesteckt, hat seinen warmen Ofen, seine Tasse Kaffee, seine
Frau, sein Glas Wein zu Abend und ist so recht zufrieden; (...) Mir
ist’s nirgends recht. Es ist, als wäre ich überall
eben zu spät gekommen, als hätte die ganze Welt gar nicht
auf mich gerechnet." (Eichendorff, S. 21.) Einzig die
künstlerische Produktivität könnte diese gesteigerte
isolierte Innerlichkeit objektivieren und zur bestehenden
Gesellschaft in Beziehung setzen. Hesse jedoch weiß, dass er
diesen Berufswunsch nicht äußern kann, ohne unfehlbar in
einer Anstalt zu landen. So sehnt er sich aus seiner Identität
hinaus, wäre gern ein anderer und fragt nach dem Wie.
Bereits im nächsten Satz wechselt Hesse umsichtig das
gefährliche Thema. Er fährt fort: "Doch gottlob
entreißt mich die Prosa jetzt diesen Träumereien: Es ist
Nachtessenszeit, ich muss zu Geigers." (ebd.) Er verharmlost
seine romantische Sensibilität als
"Träumereien", d.h. er wählt die Sprache des
Bürgertums, das die dichterischen Anwandlungen gerne als
weltfremd und überspannt interpretiert. Aber es findet sich
trotzdem ein versteckter Hinweis in dieser so harmlos scheinenden
Nebenbemerkung – das Wort "Prosa". Hesse wusste,
auf welchen romantischen Gegensatz er mit diesem Begriff anspielte
– die "Poesie", die er freilich mit keinem Wort
erwähnen darf. Und er schließt sein Schreiben erneut mit
einer leisen Ironisierung der bürgerlichen Welt: "Ade
Ihr Lieben, seid fröhlich und glücklich und gesund und
sorgt ja für recht schöne Lebkuchen zum
Christfest!" (ebd.) Aber ich, so könnte man
hinzufügen, ich weiß nicht, welcher Welt ich
angehöre. - In dem Kapitel "Zwei Welten", womit
Hesse seinen Roman Demian eröffnet, gibt er einen
tiefen Einblick in seine damalige Gefühlslage: "Mein
Zustand zu jener Zeit war eine Art von Irrsinn. Mitten im
geordneten Frieden unseres Hauses lebte ich scheu und gepeinigt wie
ein Gespenst, hatte nicht teil am Leben der anderen, vergaß
mich selten für eine Stunde." (Demian, 28.) Und
an anderer Stelle bemerkt er: "Ich führte das
Doppelleben des Kindes, das doch kein Kind mehr ist." (ebd.,
49.)

"Wozu all diesen Wahn des Herzens?"

Ist Hesse in Cannstatt also ein waschechter Romantiker? Seine
Doppelexistenz als werdender Dichter und Sohn aus bürgerlichem
Hause, seine frühe Wahrnehmung des schmerzhaften Widerspruchs
zwischen poetischer und prosaischer Gemütsverfassung legen das
nahe. Hesse muss diesen Konflikt noch unvermittelt leben und
austragen. Solange er, vorläufig ohne berufliche Perspektive,
über den Gegensatz nicht hinausgelangt, lebt er
tatsächlich in zwei Welten. Und noch als reifer Autor, im
Steppenwolf (1927), dramatisiert er den scharfen Konflikt
zwischen künstlerischer und bürgerlicher Lebensform:
"Denn dies haßte, verabscheute und verfluchte ich von
allem doch am innigsten: diese Zufriedenheit, diese Gesundheit,
Behaglichkeit, diesen gepflegten Optimismus des Bürgers, diese
fette gedeihliche Zucht des Mittelmäßigen, Normalen,
Durchschnittlichen." (Steppenwolf, 31.) In seiner
Cannstatter Zeit freilich ist Hesse noch weit von dieser radikalen,
besonders von Nietzsche inspirierten Angriffslust entfernt.
"Man muss sich in sich selber völlig verkriechen
können wie eine Schildkröte", schreibt er über
seine Jugend im Demian (S. 66). Und exakt so hat er sich
gegen die Eltern verhalten: Kein Wort fällt über seine
eigentlichen Absichten, seine Berufung. Er gibt nichts schriftlich.
Er panzert sich ein und bewahrt sich. Und in dieser hochgradig
abgeschotteten, isolierten und dichterischen Subjektivität
trägt Hesses Leben in Cannstatt durchaus noch romantische
Züge. In dieser Stimmung, geschützt in seinem
Dachstübchen, beginnt er neben Eichendorffs
"Taugenichts" auch Heinrich Heine zu lesen, den
spätesten, reflektiertesten und ironischsten Dichter, den die
Tradition der Romantik hervorgebracht hat. Und noch ein weiteres,
sehr wichtiges Attribut der Romantik hat Hesse bereits nach
Cannstatt mitgebracht: das Motiv der verschmähten Liebe und
die daraus resultierende Todessehnsucht.
Über Weihnachten und Neujahr (1892/93) besuchte Hesse seine
Eltern in Calw. Die Mutter notiert in ihrem Tagebuch:
"Hermann war ganz erstaunlich lieb, ruhig,
verträglich" (Ninon Hesse, S. 316.) Er scheint also
wieder Anschluss an die andere Welt gefunden zu haben. Mit gutem
Sinn für dramatische Effekte, beim Abschied, zerstört er
aber wie üblich die Nähe und zieht sich in seine
intensive Innenwelt zurück. Die Mutter fährt fort:
"Doch sagte er mir vor der Abreise: ‚Täusche dich
nicht über mich; ich bin noch ganz ebenso krank und
unglücklich wie damals in Boll und stürbe am liebsten
gleich!’" (ebd.) Hesse lässt die Schlussfolgerung
nicht zu, dass er jetzt, im bürgerlichen Sinn, geheilt sei.
Aber er ist diesmal nicht vorsichtig. Er rückt von seiner
rationalen Verschleierungstaktik ab. Er betont seine Krankheit,
nicht etwa seine Schwäche. Und er spielt auf die Ereignisse in
Bad Boll an: Dort war Hesse nach seiner Entfernung aus dem
Maulbronner Seminar in einer christlichen Heilanstalt untergebracht
worden. Der Leiter, Christoph Blumhardt, genoss einen sehr guten
Ruf als Exorzist und Gebetsheiler. Hesse hatte viele Freiheiten,
verliebte sich aber ebenso rasend wie aussichtslos in eine
zweiundzwanzigjährige Frau, der er sich kaum zu nähern
wagte. Seine erhitzte Phantasie idealisierte sie zur großen
Liebe, die herb enttäuscht wurde. Hesse besorgte sich
daraufhin eine Pistole, unternahm einen Selbstmordversuch und wurde
in die reguläre Nervenheilanstalt in Stetten eingewiesen.
Darauf anzuspielen war also äußerst unklug, aber nicht
nur unklug. Seine erwachende Sexualität, angereichert durch
literarische Romantik, verdrängt hier mächtig das sonst
so sorgfältig gehütete Ziel, Dichter zu werden. Und
kurzfristig verliert der erst Fünfzehnjährige seine so
frühreife Selbstkontrolle. Das Motiv der Liebessehnsucht ist
zu stark. Auch für ihn. Es überwiegt sogar die Angst vor
der Rückkehr in eine Anstalt.
Dabei hatte er doch schon ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg zum
Dichter erreicht. Einen Tag vor seiner erneuten Abreise nach
Cannstatt hatte die Stuttgarter Kultministerialabteilung die
kostenfreie Entlassung Hesses aus dem Seminarverband schriftlich
bestätigt. Hesse könne, so heißt es dort,
"mit Rücksicht auf seine Gesundheit die theologische
Laufbahn nicht weiter verfolgen" (Ninon Hesse, S. 320). Diese
Laufbahn hätte professionelles Dichten unmöglich gemacht.
Hesse wäre unfehlbar in die Fußtapfen seines Vaters und
Großvaters getreten, die mit unermüdlicher Gelehrsamkeit
für den renommierten Calwer Verlagsverein tätig waren und
beide als Missionare in Indien gewirkt hatten. Sein Vater selbst
hatte mit sicherem Instinkt die poetischen Bestrebungen des Sohnes
nach der Flucht aus dem Seminar festgestellt: "Du hast so
viel privatim gelesen, seit Du in Maulbronn bist, soviel mit
deutscher Literatur und auch mit eigenem Dichten dich
beschäftigt, daß wir nicht glauben können, es sei
Dir genug Zeit und innere Kraft übrig geblieben für die
eigentliche Arbeit." (Ninon Hesse, S. 185.) Und er mahnt im
gleichen Zusammenhang, dass der schriftstellernde Sohn sich nicht
vorschnell gegen die theologische Laufbahn aussprechen solle:
"Ferner hat uns wehe getan, daß Du voreilig schon
meinst, Du werdest ja doch nicht Theologie studieren. Nimm’s
doch damit nicht leicht. Warte doch ab." (ebd.) Wieder einmal
hatte sich der Sohn am Ende durchgesetzt. Hesses Entlassung aus dem
Seminarverband zerstörte die Hoffnungen des Vaters
endgültig. Und gerade die "uneigentliche Arbeit"
des Dichtens war ihm natürlich längst schon zur
eigentlichen Tätigkeit geworden. Nur der Weg über das
Gymnasium allerdings konnte ihn weiter von den Eltern emanzipieren
– doch ausgerechnet jetzt versagt seine Klugheit,
ausgerechnet jetzt begibt er sich in Gefahr, als Nervenkranker von
der Gesellschaft entfernt und entmündigt zu werden.
Die nächsten Briefe aus Cannstatt zeigen auch deutlich, dass
die Verarbeitung seines Liebesabenteuers in Bad Boll nicht
abgeschlossen ist. Hesse schreibt seiner Mutter: "Turgenjeff
sagt, es gewähre einen angenehmen Schmerz, vernarbte Wunden
wieder aufzureißen. So geht mir’s auch." (Ninon
Hesse, S. 321.) Er legitimiert sich also mit einer literarischen
Autorität. Dann erzählt er, Bad Boll sei der letzte Ort
gewesen, wo er sich eine Zeit lang wohl gefühlt habe. Und er
entwirft ein ausführliches psychologisches Porträt seiner
selbst: "Ich bin fast noch ein Knabe und komme mir seit dem
letzten Frühjahr so gealtert vor, ich habe seitdem so viel
erlebt, wovon Du ja zum Teil weißt. Es war zu viel in zu
kurzer Zeit; auf die schreckliche Aufregung, die bis Stetten und
Basel dauerte, folgte die Abspannung; monatelang waren alle meine
Nerven unausgesetzt in fieberhafter Aufregung; jetzt ist der
ärgste Sturm vorüber, aber er hat die Blüten vom
Baum mitgenommen und jetzt hängen die Zweige müde
herab." (ebd.) Das alles klingt wie die überlegte und
überlegene Analyse eines Erwachsenen, der in Erinnerungen
schwelgt. Die Metapher vom Baum, der seine Blüten verloren hat
und dessen Zweige jetzt müde herabhängen, scheint
ebenfalls ein bewusstes poetisches Manöver. Hesse versucht mit
diesem rhetorischen Mittel seine Mutter an sich zu binden und
gleichzeitig den Vater als Repräsentanten der prosaischen Welt
auszuschließen: "Du verstehst mich wohl ein wenig. Papa
als Mann und Gelehrter etc etc wird wohl all das, was ich schreibe,
für unnützes, erdichtetes Gerede halten."
(ebd.)
Nachdem er also mit seiner Mutter eine poetische Koalition gegen
die prosaische Männerwelt des Vaters geschlossen hat, setzt er
zu einer zweiten, diesmal heftigeren Analyse seines Zustands an:
"... es gab eine Zeit, wo mich die Schule, der Lehrer
fesselte, wo ich Freunde suchte und mich an Altersgenossen
anschloß und eine andere Zeit, wo ich in Irrealem schwebte.
Wo ich alles in schönerem Licht sah; all das erreichte den
Höhepunkt in dem schmerzlich-süßen Gefühl der
Liebe, in Singen und Werben – dann ein jäher
Abschluß, Verzweiflung, Wahnsinn, und dann tiefe, dunkle,
schwüle Nacht." (ebd., S. 322.) Hier schildert Hesse
wieder den romantischen Konflikt zwischen den beiden Welten,
zwischen der bürgerlichen Normalität und seiner
schönen Innenwelt. Und echt romantisch findet das intensive
Innenleben seinen Höhepunkt im Singen und Werben um eine
geliebte Frau – Hesse wird vielleicht auch hier Eichendorffs
"Taugenichts" vorgeschwebt haben. Das
schmerzlich-süße Gefühl der Liebe, die Liebe als
paradoxe Empfindung von Vereinigung und Getrenntheit gehört
ohnehin ins Standardarsenal romantischer Liebeslyrik. Die
sprachlichen Äußerungen Hesses bleiben also stets
literarisch, bleiben reflektiert, auch dort, wo er die Kontrolle
über sein Gefühlsleben verliert. Im zweiten Teil seines
Bekenntnisses spricht er direkt von "jähem
Abschluß, Verzweiflung, Wahnsinn" und endet in
"tiefer, dunkler, schwüler Nacht." In seiner
Situation ist das ein Empfehlungsschreiben an Stetten, aber sein
Stil wirkt sehr intensiv, indem er die Konjunktionen weglässt
und die Nomen bzw. Adjektive dicht aneinander reiht.
Noch einmal allerdings gelingt ihm eine Kehrtwende. Man könnte
seinen Brief als Reminiszenz lesen, die vom ästhetischen Reiz
des distanzierten Zurücksehens lebt; als stilisierte
Erinnerung, wofür er Turgenjeff als Gewährsmann zitiert
hat: "Ja, es ist wirklich angenehm für mich",
schreibt er weiter, "dies alles wie in einem Guckkasten Bild
für Bild zu sehen." (ebd.) Plötzlich folgt auch
eine langatmige Versicherung, dass er über all diese
Gefühle, die ihn damals bewegten, lachen möchte. Alles
sei nur Einbildung: Freundschaft, Liebe, Wissenschaft, Ideale. Doch
die Konsequenzen sind hart: Wenn das Poetische in der Welt
substanzlos ist, dann muss man sich von allem trennen:
"Einige Blumen, Gedichte etc, die mich an solche Zeit
erinnerten, hab ich ins Feuer geworfen – wozu den Schund,
wozu all diesen Wahn des Herzens, wozu überhaupt das dumme
elende Herz! Und auch was ich jetzt sage, schmeckt so dumm nach
‚Romantik’, gegen meinen Willen. Drum bin ich lieber
still!" (ebd.) Hesse hat Recht. Er steht in der Tradition
romantischen Lebensgefühls: Selbst die radikale Vernichtung
des Poetischen führt über den Konflikt mit der Prosa
keineswegs hinaus. Solange das so genannte "Herz"
keine Perspektive jenseits der Gegensätze findet, bleibt es in
der romantischen Gefühlswelt unentrinnbar befangen. Keiner hat
das übrigens besser dargestellt als der Ironiker Heine, der ja
vor allem die Romantik ironisierte und sich gleichzeitig weigerte,
über sie hinauszugehen. Hesse mag das in seiner Cannstatter
Mansarde bei ihm gelernt haben.
Das Antwortschreiben der Mutter liegt leider nicht vor. Es
enthält wohl die üblichen christlichen Ratschläge,
also Geduld und Gottvertrauen. Hesse erwidert, dass sie ihn
offenkundig nicht verstehe. Und er fällt in einen Ton
zurück, den er bei seinem Aufenthalt in Stetten schon einmal
angeschlagen hatte: den des ungläubigen Nihilisten:
"Wenn ich all den ‚heiligen Geist’ hätte,
den Ihr mir wünscht, so wär ich längst ein
großer Apostel." (Ninon Hesse, S. 323.) Nach dieser
Sentenz geht er zum Frontalangriff über: "Und auch Dein
‚Gott’! Er kann ja existieren, kann sogar ganz so sein,
wie Du ihn Dir denkst; aber mich interessiert er nicht. Glaube
nicht, mich auf diese Weise irgendwie zu beeinflussen."
(ebd.) Noch scheint Hesse jedoch bemüht, den Konflikt mit den
Eltern nicht eskalieren zu lassen. "Übrigens bemitleide
ich Dich; denn Du denkst mit Sorge und Mitleid an mich (...). Ich
sitze da in Cannstatt und lebe und lerne, was ist da zu sorgen und
zu bemitleiden. Wenn Du glaubst, ich sei traurig über das
letzte Jahr, über Enttäuschungen, Liebesschmerz; mich
quäle die Reue wegen des Selbstmords, irrst Du Dich. Daß
meine Ideale von Welt und Liebe und Kunst und Leben und Wissen etc
verknallt sind, darüber gräme ich mich wenig. Denn alle
diese Träume, der Wunsch, geliebt zu sein, etc, waren ja
unnötig und unsinnig." (ebd.) Die Sprache zwar ist
diesmal gemäßigter ("unnötig und
unsinnig"), aber das Eingeständnis der totalen
poetischen Niederlage schmeckt immer noch nach Romantik:
"– wozu den Schund, wozu all diesen Wahn des Herzens,
wozu überhaupt das dumme elende Herz!"
Unfreiwillig gesteht das Hesse in den folgenden Zeilen selbst ein.
Denn zurück bleibt offenkundig eine große innere Leere:
"Aber ich interessiere mich für nichts", schreibt
er weiter. Darauf knüpft er sich den Schulstoff vor:
"... alles, alles ist mir einerlei: Ob diese lateinische
Satzperiode klassisch ist oder nicht, ob dieser Funke negativ oder
positiv ist, ob dieser Kirchenvater ein Römer oder ein andrer
Esel gewesen, ist mir so ganz einerlei." (ebd.) Über
seinen künftigen Beruf nachdenkend, ergreift ihn seine
zutiefst romantische Stimmung aufs Neue. Denn er malt ein
konventionelles satirisches Bild des Philisters, wie er bei Heine,
Eichendorff oder E.T.A. Hoffmann im Buche steht: "Und damit
soll ich mich beschäftigen, daran weiterarbeiten, solches
später studieren! Ich könnte Dr. phil., Professor,
vielleicht sogar irgendein Studienrat oder so was werden, der das
Privilegium hat, dumm zu sein und einen großen Bauch und
seidne Weste mit goldener Uhrkette zu tragen, oder sich
hypochondrisch in Papieren und Karten und Büchern zu
begraben." (ebd., S. 323f.) Damit bricht er den ersten Teil
des Briefes unvermittelt ab. Die Flucht aus der Romantik ist
gescheitert.

"Ich fürchte nichts – höchstens mich selber!"

Wenige Stunden später setzt Hesse den Brief fort. Jetzt
sieht er selbst ein, dass er einer Täuschung erlegen ist:
"Es war mir eine angenehme Einbildung, ich hätte
gelernt, alles zu verachten und jetzt – ist es nichts damit.
(...) Ich glaubte, ‚das Herz’ ganz überwunden zu
haben, glaubte, über alles ‚Romantische’ weg zu
sein; und heute Nachmittag hatt’ ich wieder so einen
häßlichen Anfall, wie seit Basel nimmer." (ebd.,
324.) Er habe "im Eichendorff" gelesen und alles sei
wieder über ihn gekommen: "das trübe Herzweh, der
grüttelnde Liebesschmerz, die Erinnerung an alles, was ich in
Boll erlebt." (ebd.) Daraufhin lässt Hesse
endgültig alle Vorsicht außer Acht und schreibt seiner
Mutter über einen neuen Selbstmordversuch: "Ich nahm
rasch einige Bücher, ohne Auswahl, und kaufte in Stuttgart
dafür – einen Revolver. Und jetzt sitz ich wieder da und
vor mir liegt das rostige Ding." (ebd.) Wenig beruhigend
fügt er hinzu: "Ich habe mich diesmal überwunden,
oder war ich feige!" Was folgt, ist ein ergreifender
Hilferuf:

"... mein Kopf ist voll Wust und Lärm, und ich
möchte jemand wissen, zu dem ich sagen könnte: Hilf
mir!
Jetzt wirst Du wohl gleich Jesus und Gott bringen, aber ich kenne
sie nicht; doch möchte ich zu jemand sagen: Hilf, hilf
mir!
Aber das müßte einer sein, der mich versteht, und der
die Macht hätte, mich in eine andre Welt zu versetzen."
(ebd.)

Hier blitzt, unter großem emotionalem Druck, noch einmal
das Bild von einer anderen Welt auf. Diesmal aber, so analysiert
Hesse selber, hat er jeden Halt verloren. Denn sein Interesse
für die Poesie scheint erloschen: "Wenn es etwas
gäbe, das mir gefiele oder lieb wäre, so hätte ich
einen Halt, einen Trost. Früher konnte ich mich z.B. in
Schiller vergessen, aber ich liebe ihn nimmer, überhaupt ist
mir die Poesie nimmer ein Trost (...)." (ebd.) – Was
ist das? Ein pubertärer, hochsensibler Jüngling, der am
Liebeskummer leidet? Dessen sinnliche und geistige Intensität
alle Poesie auf eine Herzensaffäre konzentriert hat und der
sich nun das Leben nehmen will? Vielleicht. Er wäre der Erste
sicher nicht. Sein Wunsch, Dichter zu werden, geht in der
enttäuschten Leidenschaft jedenfalls unter, und das ist ein
Alarmsignal, denn dieser Wunsch hat ihn immer wieder handlungs- und
anpassungsfähig gemacht. Sehr glaubhaft ist sein Ruf nach
Hilfe, nach jemandem, dem er sich anvertrauen kann und der die
Macht hat, ihn in eine andere Welt zu versetzen. Dieses Motiv einer
alles Leben verwandelnden Freundschaft hat er später, in
Narziß und Goldmund" (1930) und vor allem im
Demian, immer wieder sprachlich gestaltet. Wahrscheinlich
ist es ein Nachklang jener Verzweiflung, wo dem jungen Hesse die
Poesie abhanden kam, wo die Selbstzweifel zu stark waren, wo er
einen Demian in der Realität dringend gebraucht hätte.
– Oder ist der fünfzehnjährige Hesse ein Meister
der Gefühlsmanipulation, ist seine Strategie weit tiefer noch,
weit unberechenbarer noch, als dieser Essay behauptet? Konstruiert
er eine Stimmung, die für seinen künftigen Berufswunsch
förderlich ist? "Wenn ich so gar nichts
weiß", schreibt er weiter, "was mir Freude macht,
mir lieb ist, so hat es für mich keinen Zweck zu sein."
(ebd.) Wenn ich also nicht Dichter sein darf, so könnte man
schließen, bringe ich mich um. Dafür spricht weiter das
Beharren auf seiner Identität, versetzt mit einer klaren
Selbstmorddrohung: "Ob Ihr schelten oder Euch betrüben
werdet, ob Ihr über mich lacht, schimpft oder weint; ich
bleibe derselbe unglückselige Narr und am Ende – wer
weiß? Zwar augenblicklich hab ich die Hand
zurückgehalten mit der Waffe – wozu?" (ebd., S.
325.)
Doch scheint das, vor allem wenn man die drohende Heilanstalt und
das Alter Hesses berücksichtigt, nicht glaubhaft. Interessant
aber bleibt, dass diese Lesart immerhin möglich ist, dass sie
vielleicht unbewusst von Hesse inszeniert wurde. Aus dem Brief geht
außerdem hervor, dass sein Hilfeschrei letztlich seiner
Mutter gilt. In einem Postskriptum versucht er noch einmal, sich
mit ihr zu verbünden – eine poetische Allianz gegen den
Vater zu schmieden: "Ich schreibe eigentlich nur Dir, Mutter.
Ich könnte das alles Papa nicht sagen;" und er deutet im
gleichen Atemzug seine Entschlossenheit zum Suizid an: "nicht
daß ich mich vor ihm fürchtete – o nein! Ich
fürchte nichts – höchstens mich selber!"
Seine abschließende Äußerung klingt aber wieder
erheblich vorsichtiger: "Aber bitte, laß Geigers nicht
zu viel wissen – sie sind ja gute Leute, aber – so
gewöhnlich und brav und normal und – so praktisch! Du
wirst mich verstehen." (ebd.) Die Absicht ist jedoch die
gleiche: Du bist doch auf meiner Seite, du kennst die Mängel
der prosaischen Welt, du sympathisierst mit mir. Nur einen Tag
später, am 21. Januar 1893, ist die Mutter bei ihrem Sohn in
Cannstatt. Allein.

"Der Hermann ist wieder krank, seht doch!"

Hermann Hesse bewies immerhin guten Instinkt, sich mit seinen
gefährlichen Offenbarungen an die Mutter zu wenden. Marie
Hesse wurde 1842 in Talatscheri (Indien) geboren. Sie war die
Tochter des Missionars Dr. Hermann Gundert, eines angesehenen
Theologen und Sprachgelehrten. Sie wuchs in der Schweiz auf und kam
1854 in das "Töchterinstitut Kornthal".
Ähnlich wie ihr berühmter Sohn hatte auch sie die
bürgerlichen Spielregeln wenig beachtet. Sie fiel wegen
ungebührlichen Betragens und schlechten Umgangs auf. Sie las
heimlich Schillers Gedichte, sammelte eifrig Liebeslyrik und war
literarisch produktiv. Daraufhin veranlassten die Eltern in Indien
ihre Entfernung aus dem Institut. Sie lernte mühelos Englisch
und Französisch und trat als Fünfzehnjährige
schließlich die Überfahrt nach Indien an. Während
der Schiffsreise verliebte sie sich in einen wesentlich
älteren Engländer namens John Barns - einen
"impulsiven Weltmann" (Ninon Hesse, S. 555.), wie die
Eltern meinten. Er hielt sofort um ihre Hand an, wurde aber
zurückgewiesen. Marie verfällt in tiefe Depressionen,
bekennt sich aber nach einem Jahr rückhaltlos zur
missionarischen Arbeit. 1860 kehrte sie mit ihrem erkrankten Vater
nach Europa zurück und lernte kurz darauf den jungen Missionar
Charles Isenberg bei Bekannten in Cannstatt kennen. 1865 heiraten
sie – und sie erfährt, dass der Weltmann Barns sich nach
ihr verzehrt und die ganze Zeit auf sie gewartet habe. 1870
schließlich verliert sie ihren ersten Mann und zieht zu ihrem
Vater ins Calwer Verlagshaus, wo sie Johannes Hesse kennen lernt
und ehelicht. - Sie hatte also ein bewegtes Leben hinter sich, das
von romantischen Zügen nicht frei war.
Aus der literarischen Sicht des Sohnes geriet sie später zur
bewahrenden Urmutter schlechthin. Hesse verehrte in ihr das
"glühend dunkeläugige, in Hingabe und Liebe
unerschöpfliche, in Herzlichkeit und Werbung strahlende Wesen
der Mutter" (Ninon Hesse, S. 559). Freudianer mögen hier
nicht zu Unrecht einen starken Ödipuskomplex vermuten. Doch
weit produktiver als dieser Aspekt wurde vor allem die vorbildliche
Lebensstufenmentalität der Mutter, die für Hesse so
wichtige Fähigkeit, sich tapfer in neue Bindungen eines stets
wechselhaften Geschicks zu ergeben. Nach ihrer Verehelichung mit
Hesses Vater z. B. schreibt sie charakteristisch unsentimental:
"So bin ich denn wieder eine glückliche Gattin, an der
Seite eines treuen Mannes, der mir helfen will auf dem Weg zur
oberen Heimat, und mir besonders eine große Stütze ist
in der Erziehung meiner Knaben." (Ninon Hesse, S. 557) Und
noch in ihrem letzten Brief, kurz vor ihrem Tod (1902), behält
sie ihre Ergebenheit in das Schicksal bei: "Die Liebe und die
Arbeit sind doch das Beste im Leben." – "... man
ist dankbar für alles, was Gott an Frucht geschenkt, man
grämt sich auch nimmer über abgefallene Knospen."
(Ninon Hesse, S. 558f.) Wenn Hesse also auf Verständnis
für seine Lage hoffen durfte, dann sicher bei der Mutter, bei
der fleißigen Brief- und Tagebuchschreiberin, die um das
Poetische aus eigener Erfahrung wusste.
Der Sohn ruft, die Mutter kommt: "21. Januar reiste ich nach
Cannstatt, da Hermann geschrieben, er habe von seinen
Schulbüchern verkauft und ein Pistol gekauft, da ihm das Leben
zu schwere Last. Finde ihn sehr krank, zornig,
unglücklich." (Ninon Hesse, S. 326.) Offenkundig greift
Hesse, neben seiner extremen Impulsivität und melancholischen
Innerlichkeit ("zornig" und
"unglücklich"), auf eine bewährte Taktik
zurück: die Krankheit. Schon in seinem letzten verzweifelten
Schreiben an die Mutter findet sich die völlig
zusammenhangslose, übrigens "prosaische"
Bemerkung, dass sein böses Kopfweh wiederkehre. Dies ist,
besonders seit seiner heimlichen Dichterexistenz in Maulbronn,
stets ein bewährter Schutz der Innenwelt gegen die
wesensfremden Ansprüche der Außenwelt. Doch vorerst
überwiegt der mächtige Willensdrang, den die Mutter seit
seiner frühesten Kindheit kennt. Hesse möchte das
Gymnasium verlassen, drängt auf den Examenstermin an Ostern,
will um jeden Preis seinen Aufenthalt in Cannstatt verkürzen.
Er schickt die Mutter zu "Rektor Kapff und Professor
Osiander". Und sie berichtet verwundert, dass diese Hermann
"lobten". Daraufhin schrie er seine Mutter an und bekam
einen Tobsuchtsanfall. Er will nicht hören, dass er sich gut
entwickle. Er sieht seine alte Taktik, wonach er überfordert
sei, durchkreuzt, ein Umstand, den die Eltern dem bereits zitierten
Schreiben des Präzeptors längst hätten entnehmen
können. Erst auf dem Weg zum Bahnhof scheint sich der Sohn
seiner prekären Lage wieder bewusst zu werden, denn dort sei
er wieder "freundlich und zugänglich" geworden.
(Ninon Hesse, S. 326.) Bei der Abfahrt der Mutter besann er sich
wohl, dass jetzt unausweichlich die Nervenheilanstalt drohte.
Fortan sorgt er jedenfalls für positive Signale, um den
Schaden zu begrenzen. Frau Geiger schreibt wenige Tage später
an die Mutter, "dass Ihr Kommen von großem Wert war,
denn seitdem ist Hermann wieder der alte." (Ninon Hesse, S.
327.) Und für Hesse ist wichtig, dass diese positive Stimmung
mit seinem Anliegen verknüpft wird, das Gymnasium
möglichst früh zu verlassen: "Gewiß hat Ihr
Eingehen auf Hermanns Wunsch, das Examen betreffend, ihm wieder
neuen Mut gemacht, und mein Mann glaubt gewiß, dass der Mut
bis Ostern vorhalten werde." (ebd., 328.) Der junge
Sprachkünstler hatte die Präzeptor-Familie also ganz in
seinem Sinne bearbeitet, denn er wusste natürlich, dass ein
reger Briefverkehr nach Calw bestand. Und wohlweislich hatte er
darauf gedrängt, dass Geigers nichts von seiner Krise
erfuhren. Auch ein Onkel aus Stuttgart, David Gundert, vermutlich
von der Mutter alarmiert, besucht Hermann und äußert
sich positiv. Frau Montigel schließlich, die Besitzerin von
Hesses Dachstüblein, meldet: "Lieb Hermann befindet sich
ganz wohl." (Ninon Hesse, S. 328.) Hesse scheint wieder zur
Besinnung gekommen zu sein. Und das war bitter nötig. Denn
noch am 1. Februar 1893, nach Eingang all der beruhigenden
Botschaften, erkundigt sich die Mutter bei einer Bekannten nach
einer Nervenheilanstalt in Heilbronn: "Unser armer Hermann
ist seit November in Cannstatt im Gymnasium, wo er im März die
Prüfung fürs Einjährige noch zu machen hofft.
Längeres Studieren ginge nicht. Leider hat er auch Abneigung
gegen jeden anderen Beruf und Handarbeit, die doch so
zuträglich für ihn wäre. Wir wissen noch nicht,
wohin mit ihm." (Ninon Hesse, S. 329f.) Der Berufsweg von
Hesse, seine hartnäckige Weigerung, sich zu irgend etwas zu
bekennen, ist auch hier das zentrale Anliegen der Eltern. Er hat
große Mühe, die Dinge wieder ins Lot zu bringen, um so
mehr, da sein Liebeskummer den Traum vom Dichterleben stark in den
Hintergrund seines Bewusstseins gedrängt hat.
Seine Zielorientiertheit jedoch bleibt. Rektor Kapff schreibt
bereits zwei Tage nach dem Besuch der Mutter "in durchaus
empfehlenden Sinn" (Ninon Hesse, S. 327.) an die
Kultministerialabteilung in Stuttgart. Hesse soll schon im
Frühjahr das Examen ermöglicht werden. Den Briefverkehr
mit seinen Eltern setzt er vorläufig aus. Er leitet aber,
über Präzeptor Geiger, Informationen nach Calw, die ihn
als Kranken präsentieren. Fehlzeiten in der Schule, enorme
Stimmungsschwankungen, heftige Kopfschmerzen, standhafte
Weigerungen zu essen oder zu sprechen werden den Eltern gemeldet.
Er vermeidet jedoch verfängliche Anspielungen auf seinen
Liebeskummer und den Hang zum Suizid. Auf einem Spaziergang
präpariert er den Präzeptor mit einer rationalen
Erklärung, die ebenfalls postwendend nach Calw gelangt:
"Ich unterhielt mich cca dreiviertel Stunden sehr lebhaft mit
ihm und erfuhr unter anderem, daß ihm eben die jungen Leute
seines Alters durchaus nicht genügen, da er sich von denselben
durchaus nicht verstanden weiß (...)." (Ninon Hesse, S.
331.) Das Signal ist: Beunruhigt euch nicht, ich bin eben extrem
frühreif und habe ganz natürliche Probleme damit. Selbst
den abschlägigen Bescheid von der Schulbehörde, die das
Examen erst im Sommer erlaubt und ihn drei weitere Monate an das
Gymnasium bindet, nimmt er sehr kontrolliert entgegen. Er zieht
sich auf sein Zimmer zurück und erklärt, "er wisse
wohl, daß er außer Latein und Griechisch das Pensum der
7. Klasse nicht absolviert habe." (Ninon Hesse, S. 333.) Auch
den Eltern schickt er ein paar kurze Zeilen: "Den Stuttgarter
Wisch hab ich an meine Wand genagelt, wo er sich gut
ausnimmt." (Ninon Hesse, S. 334.) Der Onkel aus Stuttgart
macht ebenfalls noch einmal seine Aufwartung und meldet:
"Frau Präzeptor Geiger war heute da, Hermann esse so
wenig etc., lese Turgenjew und Heine, etc. Ich traf ihn aber besser
als ich erwartete; er hat ernstlich im Sinn, im Juli das
Einjährigen-Examen zu machen, ärgert sich, daß man
über Schlafen und Nichtessen so viel Wesens mache, war dann
aber doch wieder lieb und soweit zutraulich." (Ninon Hesse,
S. 334.) – Dies alles spricht insgesamt für sein wieder
erwachtes Bewusstsein, dass er seine Position in Cannstatt
unbedingt halten will.
Interessant ist, dass Hesse es nicht bei seinen Hinweisen auf
Krankheitssymptome bewenden lässt. Im Unterschied zu seiner
Maulbronner Zeit verfeinert er seine Rhetorik beträchtlich. Er
kombiniert insbesondere seine Kopfschmerzen mit einer morbiden
Todes- und Grabesmetaphorik, die mehr als unpersönlicher
Weltschmerz denn als Liebeskummer zu interpretieren ist:
"Manchmal mein ich", so schreibt er vier Wochen nach
seiner Cannstatter Suizid-Epistel nach Calw, "ich sei schon
lange gestorben und mein Leben und Tun sei nur ein wüster
Totentraum." Daran knüpft er einen pathologischen
Befund: "... mein Kopf ist so heiß und bös und
mein Herz so bang und trüb und mein Auge so schwach!"
Und es folgt wieder der Schwenk zur Todessehnsucht, die aber nicht
länger aktiv, nicht mit der Pistole in der Hand geschildert
wird. Sie wird verinnerlicht und verselbständigt zu einer
fremden Macht, die ihn, den jungen Hesse, mehr in die Position
eines schwachen und bemitleidenswerten Opfers, denn als
lebensmüden Täter rücken lässt: "Ich
möchte schlafen können, immerfort, bis ich erwachte und
ein Engel mir sagte, daß jetzt alles verträumt
sei." Dann bittet er ergreifend seine Eltern um Verzeihung
und malt sein passives Bild von der tödlichen Schwäche
weiter: "Ich glaube es geht zu Ende mit mir, ich
erlösche so allmählich, ich bin so dumm und dumpf und
krank und angstvoll und lieblos." Es folgt ein kurzer
Rückblick auf seine verliebte Zeit in Bad Boll und
abschließend eine Reflexion über das Leben, das erneut
als fremde und übergeordnete Macht gezeichnet wird, der er
nichts entgegenzuhalten habe: "Und das Leben ist ein Unsinn
und ein Gewirr von Not und Elend und Arbeit und man muß stark
sein, es zu tragen und ich bin so schwach und so – so –
ach was!" (Ninon Hesse, S. 335.) Nach seinen schweren
taktischen Fehlern im Januar hat er einen neuen Stil entwickelt,
der Krankheit und Todesmotiv zu einem passiven
Stimmungsgemälde verschmilzt, das seine individuelle,
höchst persönliche Gefährdung nicht länger
thematisieren soll.
Auch im nächsten Brief hält er an diesem Stil fest:
"... in meinem Schädel geht es immer bum – bum
– bum – bum – so wie Trommeltakte bei einer
Beerdigung, oder wie totes, farbloses Glockenläuten einer
Kirche." Wieder mischen sich sehr expressiv nervöse
Reizbarkeit und das Todesmotiv. Hesse setzt sein Schreiben mit
einer kurzen Erzählung über ein jüdisches
Mädchen aus der Nachbarschaft fort, das gestorben sei. Und ihn
verlässt seine rhetorische Selbstkontrolle, indem er den Tod
des Mädchens als wahres Glück beschreibt, da sie
unscheinbar und hässlich gewesen sei und ohnehin keine
erfüllte Liebe gefunden hätte. Damit verrät er den
Eltern, dass seine eigene Grabeslyrik immer noch sehr
persönlich, d.h. durch seinen Liebeskummer geprägt ist:
"Ich wußte, das Mädchen war weder sehr schön,
noch sehr witzig noch sehr liebenswürdig und ich glaube,
daß sich nie Einer in sie hätte verlieben können.
Es ist am besten, daß sie tot ist. (Ein Kamerad von mir
sagte, der beste Witz, den sie je gemacht, sei der, daß sie
wenigstens früh gestorben sei.)." Im letzten Abschnitt
schließlich entwirft er eine kleine Szene, die den von
Kopfschmerzen geplagten kranken Schüler Hesse im Klassenzimmer
zeigt: "Gestern glaubte ich, es gehe zu Ende, mitten in der
Lektion kam ein Schwindel und Grabhauch über mich und ich
senkte den heißen Kopf und fühlte, wie er kühler
wurde und meinte, jetzt komme das Ende, ich saß wohl eine
Stunde so und konnte nicht lesen und hören und sprechen. Nach
der Lektion war ich todmüde und mein Kopf wollte springen. Und
als ich dann weggegangen bin, sagten die anderen spottend:
‚Der H. ist wieder krank, seht doch.’" (Ninon
Hesse, S. 340 – 341.) Ob dieses rhetorische Gemisch aus
Neurologie und Todesmetaphern für die ohnehin alarmierten
Eltern tatsächlich eine Beruhigung darstellt, muss durchaus
bezweifelt werden. Der Zusammenhang zwischen künstlerischer
Sensibilität und Krankheit war kaum erforscht. Die
Erkenntnisse etwa eines Nietzsche hatte das Pfarrhaus gewiss nicht
rezipiert. Die psychologischen Einsichten von Freud, Thomas Mann
und nicht zuletzt von Hesse selbst waren ebenfalls erst im
Entstehen. Der Weg in die Nervenheilanstalt schien unter diesen
Voraussetzungen vorprogrammiert.

Aber Hesse hatte, an diesem entscheidenden Punkt, einfach
Glück. Der Großvater aus Calw berichtet, dass er
"so tolle Briefe geschrieben (hatte, G.B.), daß man
schon meinte, ihn einer Privatanstalt übergeben zu
müssen." Mit Hilfe des Onkels aus Stuttgart suchte man
schließlich einen Arzt auf, der einen Herzfehler
diagnostizierte, "welcher das Blut in den Kopf sendet."
(Ninon Hesse, S. 338f.) Der Doktor rät von dem Plan, seine
gegenwärtige Situation zu ändern, entschieden ab. Hesse
hat gewonnen. Er bleibt vorerst unbehelligt in Cannstatt,
bemüht sich um eine gemäßigte Rhetorik und macht
das Examen im Sommer. Was ohne die – wohl anfechtbare –
Diagnose des Arztes aus ihm geworden wäre, ist eine
interessante, aber letztlich unbeantwortbare Frage.

"Die lustige, fidele Cannstätter Zeit."

Nachdem seine Situation vorläufig geklärt ist, nimmt
sich Hesse in Cannstatt eine Auszeit. Besonders während der
Osterferien wird deutlich, dass er sich in der Rolle des
amoralischen Dandy gefällt und entgegen der Schulordnung
regelmäßig im Wirtshaus sitzt, trinkt, raucht und
Schulden macht. So berichtet er nach Calw, dass er neue
Bekanntschaften geschlossen habe: "Heute habe ich fidele
nette Leute kennen gelernt, einen Deutschitaliener, namens Ottilio
Pedotti und einen reichen Russen, Fürst Fritz von
Cantacuszène." (Ninon Hesse, S. 347.) Die Reichen und
Vornehmen also, die außerbürgerliche Welt, faszinieren
ihn. Im gleichen Brief schlägt er auch einen neuen Ton an. Die
Grabes- und Todesmetaphern werden jetzt durch das Bild moralischer
Verkommenheit und Verelendung abgelöst: "Ich bin
inzwischen gänzlich verkommen an Leib und Seele, mein Herz ist
schwarz geworden wie mein Leben. (...) Ihr dauert mich! So fromme,
ehrbare, rechtliche Leute – und der Filius ein Lump, der
Moral und alles ‚Heilige’ und ‚Ehrbare’
verachtet! Fast schade! Aus mir hätte schon was werden
können, wenn ich dümmer gewesen wäre und mich von
vornherein mit Religion etc hätte belügen lassen."
(ebd., S. 346.) Es ist auffällig, dass Hesse just in dieser
Stimmung das einzige Mal aus Cannstatt schreibt, was bei all seinen
Eskapaden tatsächlich den Grund und Hintergrund bildet –
seine Berufung zum Dichter: "Übrigens hab ich neulich
ein Lied geschrieben, voll elender, verkommener Resignation, das
auf mich paßt und mir also gefällt. – Doch da
fällt mir ein, daß Ihr die Poesie in mir (obgleich Ihr
ja keine Ahnung habt, welcher Art sie ist) nicht leiden möget
und für schädlich haltet, obschon sie mein einziger
Trieb, meine einzige Neigung, meine einzige bittersüße
Freude ist." (Ninon Hesse, S. 363.) Hier drängt sich
demnach die Interpretation auf, dass Hesse die moralische
Verkommenheit als Resultat, als Konsequenz der Versagung seines
Berufswunsches versteht oder auch verstanden wissen will. Ihr nehmt
mir das Einzige, woran mir liegt, dann kommt auch mit den Folgen
zurecht!
Hesse will sich offensichtlich radikal der bürgerlichen Welt
entziehen. Er kündigt seiner Familie an: "Ich kann keine
Liebe ertragen, am wenigsten christliche Liebe." (Ninon
Hesse, S. 346.) Er sehe sich außerstande, zum Osterfest nach
Hause zu gehen. Er habe Angst davor. Zusammen mit einem reichen
jungen Amerikaner, einem ominösen Herrn "Gl.",
veranstaltet er ein Intrigenspiel und kommt erst einige Tage
später als erwartet nach Calw. Dort wird er erneut von
"Gl." aufgesucht und fährt mit ihm nach Wildbad.
Hesses Eltern geben unwillig ihr Einverständnis. Der
Großvater notiert: "Heute hat sich H. H. (Hermann
Hesse, G.B.) von einer amerikanischen Familie Gl. nach Wildbad
nehmen lassen, es ist ihm augenscheinlich wohl, mit vornehmen
Leuten in Berührung zu kommen." (Ninon Hesse, S. 348f.)
Vornehmheit und Reichtum haben allerdings auch die Eltern in ihrem
bürgerlichen Urteil bestochen. Denn kurze Zeit später
erfahren sie von Präzeptor Geiger, dass ihr Sohn mit einem
"Subjekt" verkehre, "das sich’s zur Aufgabe
gemacht zu haben scheint, junge Leute, besonders Gymnasiasten in
seine Netze zu ziehen und zu einem liederlichen Leben zu
verführen." Mit Gl. also zieht Hesse in Cannstatt und
Stuttgart in Kneipen umher, lässt sich von ihm aushalten und
macht Schulden. Geiger berichtet weiter, dass Hesse "... in
Auflehnung gegen alle Ordnung und mit Ignorierung aller Verbote und
aller Rücksicht auf andere (zumal seine Hausgenossen) ganz
nach eigenem Sinn und Gelüste leben will und daher schon
wiederholt bis tief in die Nacht bzw. bis nach Mitternacht im
Wirtshaus gesessen und unter Störung der Nachtruhe seiner
Hausgenossen mehr oder weniger betrunken nach Hause gekommen
ist." (Ninon Hesse, S. 349f.) Vom Präzeptor zur Rede
gestellt, offenbart Hesse, dass er am moralisch ungebundenen Dandy-
und Ästhetentum Gefallen gefunden hat. Bürgerliche
Wertvorstellungen seien schlicht überlebt und von gestern:
"Hermann erklärte alles, was man sonst von einem Kinde
erwartet, die Gefühle der Dankbarkeit gegen die Eltern, die
Rücksicht auf Ehre und Schande, auf den Schmerz der Eltern
u.s.w. als hergebrachte und veraltete Ideen, die keinen Wert haben,
so daß ich ihm endlich erklärte, daß für ihn
eine tüchtige Tracht Prügel das Richtigste wäre, um
ihm zum Bewußtsein zu bringen, daß er, wenn auch reich
begabt und sehr frühreif die Rechte und Freiheiten des Mannes
in Anspruch zu nehmen noch nicht befugt und reif genug, vielmehr
nur ein undankbarer 15-16jähriger Bube sei." (Ninon
Hesse, S. 351.)
Zweifellos sind Hesses Kneipenbesuche und der Umgang mit
auffällig unbürgerlichen Kumpanen ein Schritt aus der
traditionellen Enge des Elternhauses. Großvater Gundert in
Calw ist der einzige, der sein Verlangen, aber auch seine Taktik
durchschaut: "Nach dem verletzenden Trotz kann er wieder ganz
freundlich und bon enfant auftreten, macht aber je und je eine
unliebsame Bekanntschaft, läßt sich frei halten und
kommt wie ein Stutzer daher." (Ninon Hesse, S. 354.) Dies ist
das bekannte Wechselspiel von Distanz und Nähe. Und auch das
Motiv der Krankheit, die großen Schwierigkeiten in der Schule
will er seinem Enkel nicht unbesehen glauben: "Was mich
wunder nimmt ist sein locus (Rang in der Schule, G.B.), er ist etwa
3 und 4." (ebd.) Und im Gegensatz zu den Eltern versteht er
auch die literarische Motivierung Hesses: "Entschieden sagt
er sich von allem Glauben los, verachtet alle unsere Bücher
und trachtet denen nach, die in Heines Art spotten." (ebd.)
Bis Pfingsten jedenfalls setzt Hesse sein buntes Treiben fort. Und
mit bemerkenswerter Offenheit stellt er sich als heidnischen
Hedonisten dar, der auf alle Moral pfeift. Die Mutter zitiert ihn
im Tagebuch: "Ihr könnt euch ja auf den Himmel
vertrösten, aber ich will jetzt hier mein Teil und mirs wohl
sein lassen, trotz Gewissen und Gotteswort und Verbot."
(Ninon Hesse, S. 355.)
Dennoch ist das Stutzer- und Kneipendasein nur eine künstliche
Freiheit, da Trinken und Rauchen keinen Inhalt und kein Ziel geben.
In den Wirtshausschilderungen im Demian hat Hesse selbst
sein ambivalentes Verhältnis zu dieser Art von Scheinfreiheit
geschildert: "Ich lebte in einem selbstzerstörerischen
Orgiasmus dahin (...). ... während ich, zwischen Bierlachen an
schmutzigen Tischen geringer Wirtshäuser, meine Freunde durch
unerhörte Zynismen belustigte und oft erschreckte, hatte ich
im verborgenen Herzen Ehrfurcht vor allem, was ich verhöhnte,
und lag innerlich weinend auf den Knien vor meiner Seele, vor
meiner Vergangenheit, vor meiner Mutter, vor Gott."
(Demian, S. 75.) Hesses Bruch mit der geistigen Tradition
des Elternhauses verlief offensichtlich weniger glatt als allgemein
angenommen wird. Doch zweifellos verschafften ihm die
Wirtshausatmosphäre und der Umgang mit wohlhabenden adligen
Trinkgenossen eine Atempause: "Es war, als sei ein Fenster in
mir aufgestoßen, die Welt schien herein" und:
"... gegen das, was seit Monaten und Monaten mein Leben
gewesen war, war dies köstlich, war dies paradiesisch."
(Demian, S. 71, 73.)
Evidenter noch als die psychologischen Probleme des Pfarrhaussohnes
beleuchtet Hesses chronischer Geldmangel die Scheinfreiheit des
Wirtshauslebens. Im Unterschied zu seinen vornehmen Trinkgenossen,
die bürgerlichen Zwängen kraft ihres Wohlstands
überhoben waren, fehlte dem erwerbs- und berufslosen
Schüler die materielle Basis. Er wusste sich auch hierin
geschickt zu helfen, stockte mit Hilfe des Präzeptors seinen
Etat auf, weil er sonst keine sozialen Kontakte mit Kameraden
pflegen könne, die alle etwas Geld in den Taschen hätten.
Er verfiel auch prompt in Depressionen und allerlei Krankheiten,
wenn man hierin zögerte. Auf dem Höhepunkt seines
Schuldenmachens bittet er den Vater um ein Darlehen – indem
er ihn gekonnt unter Zugzwang setzt: "Wenn Du keinen Kredit
gibst, gibt es Krach hier oder muß ich irgendwo sonst pumpen,
etwa bei Herrn Gl., was mir höchst peinlich wäre."
(Ninon Hesse, S. 374.) Er wusste genau, an welchen Fäden er
ziehen musste, um eine günstige Wirkung zu erzielen. Er wusste
aber auch, dass sein Kredit, der moralische wie der materielle,
ausgereizt war. Er konsolidiert sich während des
Frühsommers und lernt einigermaßen diszipliniert auf das
Examen.
Aber seine Rhetorik hält er diesmal konsequent durch. Er
lässt indirekt durchblicken, dass sein Außenseiterdasein
und seine Verachtung von Christentum und bürgerlicher Welt
durch die Ablehnung seiner Berufung zum Dichter begründet ist:
"Ich schwärmte für Literatur, Poesie, für
Pantheismus und Schönheit. Es war doch viel besser, andere
Ideale als Ihr zu haben, als gar keine. (...) Jetzt bin ich selber
mein Gott, ich bin fertiger, vollendeter Egoist. So geht es."
Und er schließt mit einem selbstverfassten Gedicht:

Zu Großem glaubt ich mich oft geboren,
Ich glaubt’ einen Helden an mir verloren
Und habe oft darüber nachgedacht,
Wie ich nach Hohem und Edlem wollt’ streben –
Doch schließlich hab ich es aufgegeben
Und habe am Ende darüber gelacht.
(Ninon Hesse, S. 377.)

Die Tatsache, dass Hesse literarisch, mit dem Schreiben eines
Gedichts, seinen Abgesang auf die Poesie anstimmt, ist freilich ein
innerer Widerspruch. Erst nach seiner Cannstatter Zeit wird ihm
seine eigentliche Berufung wieder klarer. Bis dahin wertet er seine
kurze verliebte Episode in Bad Boll und das tolle Kneipenleben in
Cannstatt als vorläufige Höhepunkte seines Daseins:
"Zweimal war ich sorglos lustig, in Boll und in der lustigen
fidelen Cannstätter Zeit." (Ninon Hesse, S. 375.)

"Wir sind Dir auf alle Art entgegengekommen"

Wie ging es weiter mit Hesse in Cannstatt? Am 8. Juli 1893
absolvierte er mit mäßigem Erfolg das Examen. Daraufhin
gab er zu erkennen, dass er den Besuch des Gymnasiums fortsetzen,
eventuell studieren wolle. Auch von einem praktischen Beruf, einer
Kaufmanns- oder Buchhändlerlehre war mehrfach die Rede. Nach
den Sommerferien kehrt er jedenfalls nach Cannstatt zurück.
Doch bereits Anfang Oktober schreibt er den Eltern, dass er nicht
länger auf dem Gymnasium bleiben könne. Permanentes
Kopfweh hindere ihn am Lernen. Und nach knapp einem Jahr, am 18.
Oktober 1893, bricht er seine Zelte in Cannstatt endgültig ab.
Die Obersekundarstufe ist somit der höchste Schulabschluss,
den Hermann Hesse in seinem Leben erreicht hat.
Es lohnt sich, abschließend die Perspektive stärker auf
sein Elternhaus zu konzentrieren. Sofort fällt auf, dass
Hesses Familie alles andere als erzkonservativ oder gar
spießbürgerlich war. Hermann Gundert, der
Großvater in Calw, reagierte zum Beispiel auf die Nachricht
des Pistolenkaufs wie folgt: "Gestern kehrte Marie (Hesses
Mutter, G.B.) von einem Besuch in Cannstatt zurück. Dort hatte
der arme Hermann wieder solch einen Sterbensdrang verspürt,
dass er geschwind seinen Livius zum Antiquar nach Stuttgart trug,
um dafür einen Revolver zu erhandeln. Sie hat nun wenig
ausgerichtet dort. Er hat eben einen Ekel an jeder ernsten
Beschäftigung und weiß nicht, warum er am Leben bleiben
sollte, um Gott einen Gefallen zu tun, jedenfalls nicht. Da sind
wir ganz auf den lieben himmlischen Vater gewiesen, der auch den
Widerwilligen unter seiner Geduld festhalten kann." (Ninon
Hesse, S. 326.) Man hatte sich also an die Eskapaden des
"armen" Jünglings – wieder mal ein
Sterbensdrang – fast schon gewöhnt. Und man begegnete
seinem Gebaren mit einem auffällig liberalen Christentum
– er hat eben einen Ekel und man müsse auf Gott
vertrauen. Viele auch der elterlichen Mahnungen zielen in diese
Richtung. Die Mutter zum Beispiel schreibt: "Ich möchte
Dir so gerne Mut und Hoffnung einsprechen, teures Kind. Geben
kann’s Dir nur Gott und ihn bitten wir drum für Dich.
Gewiß gibt es auch für Dich einen befriedigenden Beruf
und ein Lebensglück, aber es gilt einstweilen Geduld haben,
das lernen, was jetzt gerade Du lernen kannst. Deine Gesundheit
kann sich ja auch bessern." (Ninon Hesse, S. 345.) Hier
verbindet sich das liberale Gottvertrauen mit der für die
Mutter so charakteristischen, pragmatisch-klugen
Schicksalsergebenheit. Und auch der Vater reagiert durchaus nicht
mit stupider Rohrstockpädagogik auf die depressiven Briefe des
Sohnes aus Cannstatt:: "Dein letzter Brief an die liebe Mama
und mich hat uns aufs neue mit inniger Teilnahme erfüllt. Es
gehört zum schwersten, wenn man so des Lebens Last und Leere
empfindet und immer wieder das Gefühl hat, dass es besser
wäre, nicht geboren zu sein." (Ninon Hesse, S.
337.) Etwas gelehrter, etwas didaktischer empfiehlt auch er das
notwendige Gottvertrauen. Denn derlei Stimmungen gehörten zum
Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, an dem man durchaus
verzweifeln könne: "... auf etwas Ganzes und
Großes angelegt und doch in die Vielheit versunken und von
tausend Kleinigkeiten in Anspruch genommen, nach dem Höchsten
uns sehnend und doch ans Niedrige gebunden, zur Freiheit bestimmt
und doch abhängig von allen möglichen Menschen und Dingen
usf. All diese und noch viele andere Widersprüche kann man
tragen, ja überwinden – nur wenn man glaubt,
daß sie als ein notwendiges Stück zu unserer ganzen
Erziehung gehören, und daß, wenn wir nur nicht aus der
Schule laufen, alles sich zuletzt in Harmonie auflösen
wird." (ebd.)
Die Cannstatter Briefe zeigen außerdem, dass der Sohn
durchaus nach seiner Meinung gefragt wird, wenn über seine
Zukunft entschieden werden soll. So zögert Hesse, ob er weiter
studieren könne; kein Problem: Er solle sagen, was er wolle.
Er möchte doch wieder weiter aufs Gymnasium gehen. Es wird
bewilligt. Er bricht den Schulbesuch überraschend ab und man
besorgt ihm, wieder nach Rücksprache, in Esslingen eine
Lehrstelle bei einem Buchhändler. Auch materiell gehen die
Eltern übrigens bis an die Grenze ihrer Belastbarkeit. Man
gibt z. B. Taschengeld fürs Rauchen, obwohl es nicht gern
gesehen wird. Und die Mutter klagt, in einem Brief an Hesses
Schwester Adele, keineswegs in direkter Aussprache: "Mit
Hermann ging’s diese acht Tage gut, aber man hat ihn auch
voll und frei gewähren lassen und sich gehütet, seinen
Willen zu kreuzen. (...) Aber die Rechnungen sind enorm, er hat
sich Goethe, Lenau, Heine und einen Haufen Belletristisches
angeschafft, ohne je zu fragen. Da kann nur Herzensänderung
– wahre Bekehrung – Wandel schaffen. Selbst ist
sein Gott und für den sollen Andre jedes Opfer bringen."
(Ninon Hesse, S. 384.) Es gibt zweifellos konservative
Elternhäuser, die unter all diesen Bedingungen gewiss nicht
auf Bekehrung gehofft, gewiss viel strenger und repressiver
gehandelt hätten. Geradeheraus gesagt: Dass Hesse in Kindheit
und Jugend einen exemplarischen Kampf gegen das Bürgertum
ausgefochten habe, ist eine Legende, die den tatsächlich
vorliegenden Dokumenten keineswegs standhält. Zuweilen stellt
sich sogar die Frage, wer mehr unter dem Konflikt gelitten hat,
Hesse oder die Eltern. Seine Schwester Adele schreibt: "Von
Hermann kamen wieder die schlimmsten Nachrichten, er komme ganze
Nächte nicht heim, hat vom Gymnasium Karzer bekommen, Mama
meint, man müsse ihn forttun, er verkomme vollends, wenn er
sich selbst überlassen bleibe. Papa meint, er müsse jetzt
vor allem sein Examen machen. Wenn nur Mama die vielerlei Sorgen
glücklich übersteht, sie ist oft schrecklich
mutlos." (Ninon Hesse, S. 358f.)
Der eigentliche und tiefgreifende Konflikt mit dem Elternhaus
verläuft also nicht in jenen herkömmlichen Kategorien,
die man gewöhnlich so schnell bei der Hand hat: Hier der um
seine Freiheit ringende Dichterjüngling, dort das bornierte
Bürgertum, das ihn zerbrechen will. Im Verhältnis Hesses
vor allem zu seinem Vater wird sichtbar, dass ganz im Gegenteil
sublime geistige Prinzipien und Weltanschauungen zur Diskussion
stehen. Johannes Hesse, geboren 1847 in Weißenstein
(Estland), entschloss sich schon als Sechzehnjähriger zum
Studium der Theologie, rückte aber nach kurzer Zeit wieder
davon ab: "Mein Sehnen ging nach einer korporativen
Gemeinschaft, in welcher mein Ich verschwinden würde –
denn es war mir längst zu stark geworden. Ich sehnte mich nach
einer Erziehung, die mich wieder mit mir selbst und dem Leben ins
rechte Verhältnis setzen könnte. Ich sehnte mich nach
einem großen, heiligen Zweck, in dessen Dienst mein
Einzelleben untergehen würde; denn bis jetzt war ich mir
Selbstzweck gewesen" (Ninon Hesse, S. 549) Seinem Sohn nicht
unähnlich, machte er also eine heftige Periode von inneren
Zweifeln und Glaubenskämpfen durch, die ihn dazu führten,
seine Ausbildung abzubrechen. Der Grund dafür ist aber das
Gegenteil von dem, was Hermann Hesse im gleichen Alter bewegte: Das
tiefe Misstrauen gerade gegen das Ich, gerade gegen jene moderne
romantische Subjektivität, die sich der Vermittlung mit der
Gemeinschaft und übergeordneten Wertsystemen entziehen will.
Während der Sohn um die Bewahrung seines dichterischen Ich
kämpfte, ging es dem Vater also darum, just dieses Ich
loszuwerden. Er trat der Basler Missionsanstalt bei und
betätigte sich von 1869-73 als Missionar in Indien. Aus
gesundheitlichen Gründen jedoch kam er wieder nach Europa und
assistierte Dr. Gundert im Calwer Verlagshaus, dessen Nachfolge er
später antrat. Er führte das aufreibende Leben eines mit
Arbeit überhäuften Gelehrten, der in seinem Tun eisern
aufging. Bis zu seinem Tod 1916 war er ein Musterbeispiel für
protestantische Arbeitsmoral. Und er musste schmerzhaft
feststellen, dass sein Sohn Hermann exakt jene geistigen Prinzipien
repräsentierte, gegen die er lebenslänglich
angekämpft hatte.
Doch Johannes Hesse war keineswegs besinnungslos konventionell,
indem er dem protestantischen Ideal der Berufsarbeit und der
Eingliederung in eine Gemeinschaft folgte. Er hatte die
Traditionslosigkeit, Glaubensunfähigkeit und Gefährdung
des modernen Individualismus am eigenen Leib erfahren, hatte sie
bewusst reflektiert. So schreibt er seinem Sohn nach Cannstatt,
"daß man, um etwas zu haben und zu genießen, auch
etwas dafür geben muß, sei’s auch daß man
nur Geduld und Nachsicht übt. Sonst geht bei der allgemeinen
Geneigtheit zur Selbstsucht alles in die Brüche. Die Atome
zerfliegen. Nur durch Selbstverleugnung und Liebe können sie
zusammengehalten werden. Darauf beruht alle Sittlichkeit und auch
alle Religion: Keine Seligkeit ohne Opfer, kein Leben ohne Sterben.
Wer das aufhebt, hebt die Weltordnung auf." (Ninon Hesse, S.
373.) Das ist eine differenzierte und immer noch aktuelle
Reflexion, die exakt an der Bruchstelle zwischen Tradition und
Moderne verläuft. Viel später, in seinem utopischen Roman
Das Glasperlenspiel (1943), hat Hermann Hesse exakt jene
Analyse selbst präsentiert: "So geschahen denn auch jene
Kämpfe um die ‚Freiheit’ des Geistes und haben
(...) dazu geführt, daß in der Tat der Geist eine
unerhörte und ihm selbst nicht mehr erträgliche Freiheit
genoß, indem er die kirchliche Bevormundung vollkommen, die
staatliche teilweise überwunden, ein echtes, von ihm selbst
formuliertes und respektiertes Gesetz, eine echte neue
Autorität und Legitimität aber noch immer nicht gefunden
hatte." (Das Glasperlenspiel, S. 17.) Fast scheint es
so, als habe Hesse mit seinem literarischen Schaffen eine Synthese
zwischen jenen kontrapunktischen Lebensläufen von Vater und
Sohn herzustellen versucht: Die Bewahrung moderner
Subjektivität bei gleichzeitiger utopischer Konstruktion eines
übergeordneten Gemeinschaftslebens mit verbindlichen Werten.
Das Festhalten am einmaligen Individuum und gleichzeitig sein
Aufgehen in der geistigen Provinz Kastaliens.
Jedenfalls ist Johannes Hesse nicht mit jenem exemplarischen
Spießer Joseph Giebenrath gleichzusetzen, der die
geistfeindliche, rein materiell orientierte bürgerliche Welt
repräsentiert, an der sein Sohn zerbricht. In seiner
Erzählung Unterm Rad (1906) benötigte Hesse die
Spießbürger vor allem als Kontrast und Folie für
seine scharfe Bildungskritik. Mit seiner Biographie ist das aber
keineswegs identisch. Sein Vater war ein hochsensibler Gelehrter,
ständig an nervösen Kopfschmerzen leidend wie er selbst,
sehr zart und zerbrechlich – und von großer Disziplin
und Willenskraft. Ihm selbst war die Wesensverwandtschaft zum Sohn
übrigens durchaus bewusst. Er schrieb nach Cannstatt:
"Jetzt sind es gerade dreißig Jahre, daß ich auch
solche Stimmungen durchzumachen hatte wie Du jetzt." (Ninon
Hesse, S. 342.) Und er ermahnt ihn immer wieder, sein extremes Ich
zu disziplinieren.
Hesse erscheint in Cannstatt jedoch als egozentrisch, weil er
seinen abstrakten Willen, Dichter oder gar nichts zu werden, erst
kurze Zeit später in die Tat umsetzt. Auch die
Buchhändlerlehre in Esslingen bricht er nach wenigen Tagen ab
und läuft, wieder einmal, weg. Die Eltern nehmen ihn aber in
Calw wieder auf. Und dort beginnt er, sich den Realitäten zu
stellen. Er arbeitet sich mit immensem Aufwand durch die
väterliche Bibliothek, beginnt planmäßig an seinem
literarischen Stil zu arbeiten und schließt den
vernünftigen Kompromiss, vorerst als Handwerker in einer
Turmuhrenfabrik, später als Buchhändler in Tübingen
eine Ausbildung zu machen. Die Dichtung aber betreibt er mit
wahrhaft protestantisch-schwäbischem Fleiß in seinen
raren Nebenstunden und schon 1896 publiziert er seine ersten
Gedichte. In Cannstatt hingegen bietet er noch das faszinierend
romantische Bild eines gesellschaftlich vollkommen isolierten
Talents. Wenn wir seine Biographie nicht rückwärts lesen,
den späteren berühmten Schriftsteller nicht unbesehen
dieser gefährdeten Zeit heimlich unterschieben, erhalten wir
einen tiefen Einblick in eine Art negativen Instinkt: Hesse wusste
zu diesem Zeitpunkt wenigstens ganz genau, was er nicht
wollte – nämlich ein brauchbarer Mensch in
bürgerlichem Sinn zu werden. Und er hat sich, bis hin zum
möglichen Suizid, dagegen gewehrt. Sein Weglaufen, sein
Abbrechen und sein virtuoses Ausweichen halten am noch
substanzlosen Traum des Dichterlebens fest.
So häufte der junge Hesse schließlich Krankheit auf
Krankheit, um dem weiteren Schulbesuch zu entgehen. Hier ein
kleiner Auszug aus der Zeit nach seinem Examen: "Ich bin
stark erkältet, ein wenig heißer, Zahnweh, Rheumatismus
etc. Ich kann nicht schreiben so. Adieu." (Ninon Hesse, S.
379.) "Das Examen ist, wenn auch nicht glänzend,
bestanden! Mein Kopfweh ist seit drei Wochen in
flore." (Ninon Hesse, S. 381.) "Hermann hat Zahnweh und
klagt über seine Augen." (Ninon Hesse, S. 385.)
"Ich war viel elend, hatte mit Kopf, Augen und Zähnen zu
schaffen." (Ninon Hesse, S. 386.) "... meine Laune ist
verdorben seit mit dem naßkalten Wetter Kopfweh und
Rheumatismus wieder gekommen." (Ninon Hesse, S. 389.) Mag
sein, dass Hesse all das subjektiv tatsächlich gelebt und
gefühlt hat. Bezeichnend aber ist, wie er seine
Krankenberichte einsetzt, welchen Effekt sie schließlich
haben - den heiß ersehnten Abbruch seiner Gymnasialzeit:
"Ich kann nicht wohl länger fortmachen, ich habe den
ganzen Tag zwar nicht richtige Kopfschmerzen, aber immer einen
dumpfen, gleichmäßigen, schrecklichen Druck im Kopf, der
bei angestrengter Arbeit zu Kopfweh wird." (Ninon Hesse, S.
394.) Und: "Liebe Mutter! Wenn du selber nicht kommen kannst,
so schickt wenigstens, bitte, schriftliche Erlaubnis zum
Austritt! (...) Mir geht es gleich – dumpfer Kopf und wenig
Kraft!" (Ninon Hesse, S. 396.) Er bekommt natürlich die
Genehmigung und fährt nach Calw zurück.
Alles wohl erwogen, hat Hesses Vater Recht gehabt, als er seinem
Sohn nach Cannstatt schrieb: "Wir sind Dir auf alle Art
entgegengekommen und haben es Dir so leicht als möglich zu
machen gesucht." (Ninon Hesse, S. 358.) Das Drama von Hesses
Kindheit und Jugend liegt weniger im Kampf gegen das konservative
Bürgertum als vielmehr in einer potenziell
verhängnisvollen, extremen Frühreife. Die Intensität
des dichterischen Lebensgefühls bestimmte seinen erstaunlich
starken, vor allem risikobereiten Willen. Und sie inspirierte ihn
zu einem klugen strategischen Verhalten, das den Weg zum
späteren Schriftsteller mit zielsicherem Instinkt offen
hält. So gesehen, ist Hesses Zeit in Cannstatt ein
Musterbeispiel für die innere Bereitschaft, sich zum eigenen
Schicksal rückhaltlos zu bekennen: "Alle Menschen, die
auf den Gang der Menschheit gewirkt haben, alle ohne Unterschied
waren nur darum fähig und wirksam, weil sie schicksalbereit
waren." (Demian, S. 145.)

Zitierte Literatur:

Ninon Hesse (Hg.), ''Kindheit und Jugend vor
Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen
1877-1895'', Frankfurt a.M. 1966.
Bernhard Zeller, Hermann Hesse, Frankfurt a.M.
1963
Hermann Hesse, Demian, Frankfurt a.M. 1974.
Hermann Hesse, Der Steppenwolf, Frankfurt a.M.
1980.
Hermann Hesse, Das Glasperlenspiel, Frankfurt a.M.
1972.
Joseph von Eichendorff, ''Aus dem Leben eines
Taugenichts'', Stuttgart 1970.