Szenen aus dem Holocaust.

Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen (1975)

Imre Kertész erzählt in diesem Roman die Geschichte
Gyurkas, eines fünfzehnjährigen Juden zur Zeit der
Nazi-Diktatur in Ungarn. Sein Vater, der in Budapest einen kleinen
Holzhandel betreibt, wird in ein nicht näher bezeichnetes
Arbeitslager deportiert. Kurz darauf, im Frühsommer 1944, wird
der Junge von einem Polizisten einfach aus dem Autobus geholt und
festgehalten. Das Gleiche widerfährt seinen Freunden. Sie
marschieren geschlossen zur Gendarmerie und werden
schließlich nach Auschwitz verschleppt. Gyurka übersteht
die Selektion und wird nach wenigen Tagen ins Konzentrationslager
Buchenwald überstellt, wo er knapp ein Jahr unter
härtesten Bedingungen durchhält. Gegen Kriegsende liegt
er halb verhungert auf der Krankenstation und erlebt die Befreiung
des Lagers durch die Amerikaner.
Verblüffend unbefangen wird dabei der Leser in die
Ich-Erzählung verstrickt. Er erlebt den Aufenthalt in den
Konzentrationslagern mit den Sinnen, den Emotionen und den Gedanken
des Jungen. Es fehlt auch nicht an der Authentizität
persönlichen Erlebens, die Kertész seiner Romanfigur
verleiht. Von dieser Seite betrachtet hat der Roman zweifellos
alles zu bieten, was man von einer literarischen Darstellung des
Holocaust erwartet: Die rauchenden Schornsteine der Krematorien,
der ewig nagende Hunger, die entfesselte Barbarei allmächtiger
Aufseher, der kalte und präzise Ablauf eines bürokratisch
und militärisch durchorganisierten Massenmords. - Es fehlt
aber auch nicht der Hinweis auf Glücksmomente, auf Witze und
Scherze. Und man begegnet grotesk und ironisch, zuweilen selbst
humoristisch gezeichneten Figuren. Und eben dies, so hört man,
trage dazu bei, Auschwitz zu „entmystifizieren“
(„Der Spiegel“). Eben dies sei eine künstlerische
Verfremdung unserer stereotypen Wahrnehmung des
Konzentrationslagers. Glück in Auschwitz? Das gibt es doch
nicht. Jetzt, da Kertész den Literatur-Nobelpreis erhalten
hat, einigt man sich scheinbar endgültig auf die Formel, dass
gerade die glückhaften Momente das eigentliche Grauen nur
sichtbarer und überzeugender machen.
Doch von welchem Glück ist hier eigentlich die Rede? Nur von
einem höchst subjektiven und relativen. Wie immer. Für
einen Verdurstenden ist Wasser zweifellos ein Glücksfall:

...die Waschanlage steht unter freiem Himmel, genauer, unter
schattigen Bäumen: im wesentlichen die gleiche Konstruktion
wie in Auschwitz, aber mit Becken aus Stein, und – vor allem
– den ganzen Tag fließt, spritzt oder rieselt zumindest
Wasser aus den Rohren, und zum ersten Mal (...) wurde ich hier des
Wunders teilhaftig, dass ich trinken konnte, wenn ich Durst hatte,
ja sogar dann, wenn ich einfach nur Lust dazu bekam. (S. 142)

Diese Äußerung fällt schon in die
Buchenwald-Episode. Als der Junge zum ersten Mal die Essensausgabe
in Auschwitz erlebt, ist das Glücksmoment noch nicht auf die
nackte physische Existenz reduziert. Die Neuankömmlinge haben
bislang „nur“ eine Sammelstelle und einen
mehrtägigen Transport in den berüchtigten Güterwagen
hinter sich. Sie scheinen, so vermutet der Erzähler,
großer Gefühlsregungen immer noch fähig:

„Bald gibt es eine warme Suppe!“ Ohne Frage, auch
ich fand es an der Zeit, aber diese vielen strahlenden Gesichter,
diese Dankbarkeit, diese fast schon irgendwie kindlich wirkende
Freude, mit der die Nachricht aufgenommen wurde, haben mich dann
doch ein bisschen erstaunt: deshalb hatte ich wohl das Gefühl,
sie galten gar nicht so sehr der Suppe, sondern eher irgendwie der
Fürsorge an sich, nach all den vorangegangenen
Überraschungen – wenigstens hatte ich dieses
Gefühl. (S. 116)

Doch geht es tatsächlich nur um die extreme
Relativität des Glücks in diesem Roman? Also nur darum,
dass auch das Leben im Konzentrationslager Momente des Alltags und
einer wenigsten gleichnishaften Zufriedenheit gewährt? Diese
Motive sind hier zweifellos wirksam. Sie gehören zum harten
Bodensatz persönlicher Erfahrung. Kertész ist ein
Eingeweihter, der Bescheid weiß, weil er selbst diese Lager
als Fünfzehnjähriger erlebt hat. Und er ist auch nicht
der erste Insider, der die makaberen Glücksanwandlungen eines
Internierten beschreibt. Alexander Solschenizyn hat sie bereits in
seiner Erzählung Ein Tag des Iwan Denissowitsch (1962)
vorbildlich dargestellt. Ja, es ist so: Man kann den ganzen Tag
unablässig auf der Suche nach Nahrung sein, kann darin
persönliche Triumphe und Niederlagen erleben, kann
vollständig auf animalische Funktionen reduziert sein. Das
müssen wir denen, die es am eigenen Leib erfahren haben,
glauben:

Ich verwandelte mich in ein Loch, in Leere, und mein ganzes
Bemühen, mein ganzes Bestreben ging dahin, diese bodenlose,
diese unablässig fordernde Leere aufzuheben, zu stopfen, zum
Schweigen zu bringen. Nur dafür hatte ich Augen, nur dem
konnte mein ganzer Verstand dienen, nur das all mein Tun bestimmen,
und wenn ich nicht Holz, Eisen oder Stein aß, dann nur, weil
es Dinge sind, die sich nicht zerkauen und verdauen lassen. Aber
mit Sand zum Beispiel habe ich es versucht, und wenn ich
zufällig Gras sah, zögerte ich nie – nur gab es in
der Fabrik und auf dem Lagergelände nicht gerade viel Gras,
leider. (Kertész (1996), S. 180)

Aber noch einmal gefragt: Ist das momentan aufblitzende
Glück, das ausschließlich aus dem physischen
Überlebenstrieb hervorgeht, tatsächlich die einzige Form
des Humors, über die der Roman verfügt?
Ich denke nicht. Dafür gibt es zu unterschiedliche Beispiele.
Etwa den pubertären Scherz, der sich auch bei der Einlieferung
in Auschwitz nicht vollständig unterdrücken lässt.
So erfahren wir beim „Friseur“, dass sich eine Gruppe
von Jugendlichen zunächst nicht wesentlich anders verhält
als sonst wo:

Er packte mich kurzerhand an dem Organ, das am empfindlichsten
ist, und schabte dann mit dem Rasiermesser auch von dort die ganze
Krone weg, jedes einzelne Haar, mein gesamtes bisschen
männlichen Stolz, das doch vor noch gar nicht so langer Zeit
erst gesprossen war. Es mag unverständlich sein, aber dieser
Verlust schmerzte mich irgendwie noch mehr als der meines
Kopfhaars. Ich war überrascht und auch ein wenig aufgebracht
– aber ich habe dann eingesehen, dass es lächerlich
gewesen wäre, sich wegen einer solchen Kleinigkeit
aufzuhalten, im Grunde genommen. Und dann habe ich auch gesehen,
dass es allen anderen, auch den Jungen, ähnlich erging, und
der „Halbseidene“ bekam es dann auch gleich zu
hören: na, wie wird das jetzt sein mit den Mädchen? (S.
109.)

Der „Halbseidene“ ist der Frauenheld in der Gruppe.
Die sexuelle Anspielung ist natürlich naiv. Friseur, Bad,
Desinfektion und Kleidung, der Leser weiß es, sind die ersten
Schritte zur kalkulierten Entindividualisierung im
Vernichtungslager. Sie ist aber auch schlicht realistisch, wenn
Jungs in diesem Alter mit ihrer Nacktheit konfrontiert werden.
Neben der Naivität belegt der Scherz einen offenkundig
intensiven Lebenswillen, eine Fähigkeit auch zur Anpassung
unter schwierigen und verstörenden Bedingungen, vor allem im
Bewusstsein einer starken Gruppendynamik. Diese Haltung setzt sich
auch im „Bad“ fort:

Auch ringsumher allerlei fröhliche Laute, ein Planschen,
Niesen und Prusten: es war ein heiterer, sorgloser Augenblick. Wir
Jungen hänselten einander die ganze Zeit wegen unserer kahlen
Köpfe. (S. 110)

Besonders grell beleuchtet wird dieser Gegensatz zwischen Humor
und Horror bei der Selektion an der Rampe des Bahnhofs, wo
über Leben und Tod bereits bei der Ankunft entschieden
wird:

Die Jungen erwarteten mich schon triumphierend, vor Freude
lachend. Und beim Anblick dieser strahlenden Gesichter war es
vielleicht, dass ich den Unterschied verstand, welcher unsere
Gruppe von denen auf der anderen Seite wirklich trennte: es war der
Erfolg, wenn ich es richtig empfand. (S. 99)

Sie sind tauglich befunden worden. Erst später begreifen
sie, dass sie damit vorläufig dem Tod in der Gaskammer
entkommen sind. Die Witze, die sie über die körperlichen
Unzulänglichkeiten der Untauglichen machen, sind leider ebenso
realistisch wie die Verführbarkeit durch den
identitätsstiftenden Erfolg der Gruppe.
Doch auch das jungenhafte Witzereißen fügt sich nahtlos
in die oben beschriebene, konventionelle Lesart ein: Der Humor ist
vor allem das Kontrastmittel im Dienste des Schreckens. Auschwitz
und Buchenwald können nicht wirklich humorvoll sein. Und was
darin an Humor vorkommt, das ist Ausdruck seines direkten
Gegenteils. Wenn es, rein thematisch betrachtet, eine Grenze
für die künstlerische Freiheit geben würde, dann
wären es die Konzentrationslager, wo einem das Lachen wahrhaft
vergehen kann. Doch gerade die Lektion, die wir von Autoren wie
Solschenizyn oder Kertész lernen können, bleibt bei
dieser Interpretation auf der Strecke: Dass die Menschen keine
anderen als eben menschliche Reaktionen zeigen, auch unter den
perversesten Bedingungen:

Ich kann behaupten es gibt keine noch so große
Erfahrung, keine noch so vollkommene Ergebenheit, keine noch so
tiefe Einsicht, dass man seinem Glück nicht doch noch eine
letzte Chance gäbe – vorausgesetzt, man hat die
Möglichkeit dazu, versteht sich. (S. 203)

Es ist allzu leicht, sich Auschwitz als einen homogen
geschlossenen Raum des Terrors vorzustellen. Einen Raum, worin kein
Atom Menschlichkeit Platz findet. Und eigentlich ist dieser Ort ja
genau das: Ein systematisches Vernichtungslager, dessen Logik zum
restlosen Entschwinden durch die Schornsteine führt. Aber erst
die Erzählungen der Überlebenden haben uns die Augen
dafür geöffnet, wie Menschen dort konkret gelebt haben, -
ja dass dort wirklich und wahrhaftig Menschen gelebt haben. Die
Versuchung ist groß, auch unsererseits die Opfer im
lückenlosen Raum des Terrors aufgehen zu lassen. Sie zum
zweiten Mal statistisch zu nummerieren. Dann muss man sich mit
ihrer menschlichen Realität im unmenschlichen
Konzentrationslager nicht befassen. Das allgemeine Befremden etwa,
das der Humor im Roman eines Schicksallosen auslöst,
lässt sich genau darauf zurückführen: Denn
darüber schockiert zu sein, dass die Menschen im KZ gelacht
haben, setzt voraus, dass man sie nur noch als Teil einer
Vernichtungsmechanik sieht, nicht als (immer noch) lebende
Individuen. Das ist einfach bequemer.
Gerade angesichts der Schornsteine erfahren wir aber, dass der
Mensch ein unbelehrbarer Pragmatiker ist. Er hofft, solange er
lebt. Er kann gar nicht anders:

Im allgemeinen, so kann ich sagen, hörte ich am Nachmittag
schon mehr Neuigkeiten, es wurde um mich herum schon mehr von
unseren Zukunftsaussichten, Möglichkeiten und Hoffnungen
gesprochen als von dem Schornstein hier. Zeitweise nahmen wir ihn
gar nicht zur Kenntnis, so als wäre er gar nicht da, das hing
ganz von der Windrichtung ab, hatten viele herausgefunden.
(S.129.)

Und selbst in Buchenwald ist wenigstens das Lachen nicht ganz
tot zu kriegen. Gyurka trifft dort einen alten Bekannten, der ihm
folgenden Witz erzählt:

Dann aber leuchtete sein Gesicht plötzlich auf, und er
fragte: „Wissen Sie, was das hier“ – er zeigte
auf seine Brust – „bedeutet, dieses U?“ Ich
sagte, ja natürlich: Ungar. „Nein“,
erwiderte er, „Unschuldig“, dann hat er auf eine
bestimmte Art kurz gelacht und danach noch lange mit sinnender
Miene genickt, so als sei dieser Gedanke für ihn besonders
wohltuend, ich weiß auch nicht, warum. Und genau das gleiche
sah ich dann bei den anderen im Lager, von denen ich, und das
anfänglich ziemlich oft, diesen Witz auch noch hörte: als
schöpften sie daraus irgendein wärmendes, kraftspendendes
Gefühl – darauf zumindest verwies das immer gleiche
Lachen, die immer gleiche Gelöstheit in den Gesichtern, dieser
schmerzlich lächelnde und doch auch irgendwie entzückte
Ausdruck, mit dem sie den Witz jedes Mal erzählten oder
anhörten, irgendwie so, wie wenn man eine sehr zu Herzen
gehende Musik oder eine besonders bewegende Geschichte vernimmt.
(S. 158f.)

Verwundert nimmt der Junge zur Kenntnis, dass dieser Lager-Witz
wohltuend und befreiend wirkt. („Ich weiß auch nicht,
warum.“) Er vergleicht seine moralisch stärkende Wirkung
mit Musik und Erzählungen. Doch Moral wie Kunst erscheinen ihm
in dieser Umgebung als unbegreiflicher Fremdkörper, genau wie
der Witz selbst. Er studiert überaus sorgfältig und
ausdauernd alle erkennbaren Anzeichen eines Seelenlebens, dem er
jedoch keine Bedeutung zuordnen kann. („Irgendein
wärmendes, kraftspendendes Gefühl.“) Gerade die
naive Optik des Jungen erzeugt aber andererseits den Eindruck einer
unbezweifelbaren Objektivität irgendwie gearteter seelischer
Regungen. Selbst im KZ. - „Darauf zumindest verwies das immer
gleiche Lachen“. - So gelesen, erscheint Gyurkas
Naivität als ein unablässiges Suchen nach Bedeutungen:
Welche traurigen Reste des Humanen, so ließe sich fragen,
haben im Lager überhaupt noch Sinn und Bestand?. - Gyurkas
Staunen könnte aber auch noch ganz anders gedeutet werden: Zum
Beispiel als rabenschwarze Satire auf einen zum ohnmächtigen
Widerstand verurteilten Geist, der nur noch als Witz in Erscheinung
treten kann. Die kindliche Naivität würde nun auf Seiten
der erwachsenen Opfer liegen, die sich an einem bloßen
Wortspiel festklammern: „So als sei dieser Gedanke besonders
wohltuend“.
Die Perspektive des Ich-Erzählers, durch die wir die Romanwelt
ausschließlich wahrnehmen, ist zwar die eines
Fünfzehnjährigen. Sie ist aber auch vielschichtig und
berührt sehr unterschiedliche Facetten eines dem Abgrund
entsprungenen Humors. Es ist die unsichtbare Hand des Autors, die
hier Regie führt. Natürlich. Kertész hat 13 Jahre
lang an seinem Text gefeilt. Und Ich-Erzählungen sind ohnehin
eine literarisch sehr anspruchsvolle Form: Ein unmittelbar
erlebendes Ich, die fiktive Figur, ist stets mit einem
rückblickenden und erzählenden Ich bis zur
Unkenntlichkeit verwoben. Das heißt in der konkreten Praxis:
Wie gelingt es eigentlich Kertész, die naive Perspektive
Gyurkas so glaubwürdig zu vermitteln? Und wie bringt er es
gleichzeitig fertig, eine Fülle von Lesarten zu erzeugen, die
seiner weit fortgeschrittenen Reflexionshöhe als erwachsener
Autor entsprechen? Meines Erachtens wendet er vor allem zwei
Verfahren an: Ästhetische Distanzierung und
Sprachspiele. Mit diesen kompositorischen Elementen
organisiert er die Perspektive des Erzählers. Und sie erlauben
auch eine genauere Erfassung des Humors in diesem Roman.

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Ästhetische Distanz schafft Kertész durch die innere
Verwandtschaft von Gyurkas Perspektive mit dem klassischen
Grundprinzip ästhetischer Wahrnehmung: dem interesselosen
Betrachten eines Gegenstands um seiner selbst willen. Der naive,
von Wort-Bedeutungen, Ideologien und Theorien noch weitgehend
unbelastete Blick des Jungen kommt diesem Prinzip sehr nahe. Die
Dinge und Menschen rücken damit von Anfang an in eine
ungewöhnlich wertfreie, vor allem sinnlich wirkende Distanz.
Das wird bereits am Tag vor der Deportation des Vaters in ein
Arbeitslager deutlich. Gyurkas Stiefmutter ermahnt den Jungen wie
folgt:

Sie hat gesagt, sie hoffe, an diesem für uns so traurigen
Tag bei mir „mit einem angemessenen Verhalten rechnen zu
können“. Ich wusste nicht, was ich da hätte sagen
sollen, und so habe ich nichts gesagt. Aber vielleicht legte sie
mein Schweigen falsch aus, denn sie hat gleich etwas
hinzugefügt, in dem Sinn, dass sie mir keineswegs zu nahe
treten wollte mit dieser Ermahnung, die – das wisse sie
– sowieso unnötig sei. Denn sie zweifle ja nicht daran,
dass ich als fast fünfzehnjähriger großer Junge
selbst fähig sei, die Schwere des uns ereilenden
Schicksalsschlages zu ermessen, so hat sie sich ausgedrückt.
Ich habe genickt, mehr brauchte es auch nicht, wie ich gemerkt
habe. Sie hat noch eine Bewegung mit den Händen in meine
Richtung gemacht, so dass ich schon Angst hatte, sie wolle mich
vielleicht umarmen. Das hat sie dann doch nicht getan und nur tief
geseufzt, mit einem langen, bebenden Atemzug. Ich habe gesehen,
dass ihr auch die Augen feucht wurden. Es war unangenehm. Dann
durfte ich gehen. (S. 8)

Schweigen und Kopfnicken sind die einzigen Reaktionen auf ein
„angemessenes“ Verhalten. Begriffe wie
„Schicksalsschlag“ werden lediglich als eine fremde
Redeweise wiedergegeben – „so hat sie sich
ausgedrückt“. Gyurka merkt, dass eine Antwort darauf
auch gar nicht notwendig ist. Er registriert nur die Befriedigung,
die ein scheinbares Einverständnis bewirkt. Und er lässt
sich auch nicht durch Lob dazu verleiten, einen Kommentar
abzugeben. Aber eben durch das Ausbleiben einer Bewertung
rücken die sinnlichen Eindrücke stark ins Bewusstsein:
Die Bewegung der Hände in seine Richtung, die pubertäre
Abneigung gegen mütterliche Liebkosungen, das Seufzen, der
lange, bebende Atemzug, die feuchten Augen. Sie bilden einen
scharfen Umriss, der lediglich als „unangenehm“
erfahren wird. Wir haben es mit einer offenkundig rein
ästhetischen Sichtweise zu tun. Gyurkas Wahrnehmung wirkt wie
ein klarer Spiegel, der auf präzise Wiedergabe reduziert ist.
Sie ist frei von konventionellen Moralbegriffen, was hier aber mit
jugendlicher Unwissenheit sehr realistisch motiviert ist.
Am Abend desselben Tages trifft sich schließlich die Familie,
um Gyurkas Vater zu verabschieden. Eine makabre Feier, bei der die
Perspektive des Ich-Erzählers systematisch weiterentwickelt
wird. „Onkel Lajos“, ein orthodox gläubiger Jude,
versucht, die Angehörigen mit seinem religiösen Wissen zu
trösten. Sie seien Teil der jüdischen
Schicksalsgemeinschaft, die Gott ihrer Sünden wegen über
sie verhängt habe; weshalb auch Gott allein sie aus der
neuerlichen Verfolgung erreten könne. Gyurka kann seinen
Worten „nicht ganz folgen“ (S. 27), er fühlt nur
eine unbestimmte Ergriffenheit. Und als sein Onkel mit ihm betet,
bleiben gleichfalls keine Bewertungen in seinem Bewusstsein
zurück, sondern sinnlich distanzierte Eindrücke, die alle
Bemühungen des wohlmeinenden Gastes ironisch
unterminieren:

...ich musste ihm immer so viel Text nachsprechen, wie er mir
jeweils vorsprach. Am Anfang ging es gut, aber bald fand ich diese
Anstrengung ermüdend, und mich störte auch
einigermaßen, dass ich kein Wort von dem verstand, was wir zu
Gott sagten, da wir Ihn ja auf hebräisch anrufen müssen
und ich diese Sprache gar nicht kenne. Daher musste ich, um
trotzdem folgen zu können, unablässig auf die
Mundbewegungen von Onkel Lajos Acht geben, so dass mir von dem
Ganzen eigentlich nur der Anblick der feucht zuckenden, fleischigen
Lippen geblieben ist und das unverständliche Geräusch der
fremden, von uns selbst gemurmelten Sprache. Ja und dann noch der
Anblick, den ich über die Schultern von Onkel Lajos hinweg
durch das Fenster hatte: gegenüber eilte die älteren der
beiden Schwestern über den Gang im Stockwerk über uns zu
ihrer Wohnung. Ich glaube, ich verhedderte mich im Text ein
bisschen. (S. 28)

Der religiöse Trost angesichts der bevorstehenden
Deportation des Vaters schrumpft zusammen auf feucht zuckende,
fleischige Lippen, das Gemurmel einer fremden Sprache und den
Anblick einer schönen Nachbarin, die den Gebets-Text im
sexuellen Unterbewusstsein des Jungen etwas durcheinander bringt.
Dies ist ebenfalls höchst realistisch dem Gefühlsleben
des Heranwachsenden angepasst. Und die Naivität, womit Gyurka
nicht nur seine sinnlichen Eindrücke, sondern auch die ihn
umgebenden Sprachregelungen ins Visier nimmt, führt die
Strenggläubigkeit des Onkels ad absurdum: Ihn störe es
„einigermaßen“, dass er kein Wort verstehe, das
er zu Gott sagen soll, da er ja auf hebräisch angerufen werden
„muss“. Seiner scharfen Beobachtung entgeht auch nicht
der wahre Grund, weshalb Onkel Lajos mit ihm beten will: „...
auf seinem Gesicht war ein Ausdruck, dass auch ich schon beinahe
das Gefühl hatte: tatsächlich, wir haben etwas für
meinen Vater getan.“ (Ebd.) Die religiöse Zufriedenheit
des Onkels erscheint als bloße Selbstbefriedigung, die nichts
verändert. Das zeigt auch die Reaktion des Vaters: „Er
wünschte sogleich, mit meinem Vater unter vier Augen zu
sprechen. Ich konnte sehen, dass dies meinem Vater auf die Nerven
ging und dass er, wenn auch sehr taktvoll, versuchte, es schnell
hinter sich zu bringen.“ (S. 25)
Die ästhetische Distanzierung durch den naiven Blick erzeugt
also sehr unterschiedliche Eindrücke: Im Falle der
stiefmütterlichen Ermahnungen eine gewisse
Unterkühltheit, im Falle des Onkels eine starke Ironisierung
orthodoxer Schicksalsgläubigkeit. In jedem dieser Fälle
aber wird ein erzählerisches Medium eingeführt, das sich
gegen abstrakte Begrifflichkeiten radikal immunisiert. Das zeigt
sich auch in der Darstellung Onkel Vilis, dessen politische
Äußerungen ebenfalls unsanft auf dem Boden der
sinnlichen Realität aufschlagen. Der ehemalige Journalist
versichert, dass die Deutschen das Judentum Budapests nur als ein
Faustpfand gegen die Alliierten benutzen würden. Sie
hätten ihre militärische Niederlage längst erkannt.
Er, Onkel Vili, blicke hinter die Kulissen und alles sei nur Teil
eines großen Spiels. Die Wende zum Besseren werde bald
kommen. Doch Gyurkas Wahrnehmung entlarvt schon im Vorfeld, dass
Onkel Vili selbst von den Deportationsmaßnahmen nicht
betroffen ist:

Mit seinem Gang ist etwas nicht in Ordnung, und deshalb
trägt er an einem Fuß einen Schuh mit dickerer Sohle,
andererseits verdankt er diesem Umstand auch das Privileg, dass er
nicht zum Arbeitsdienst muss. (S. 23)

Gyurkas Vater schließlich lässt, was dem Jungen nicht
entgeht, seine Rhetorik ins Leere laufen. Ob denn die Wende

...noch für morgen zu erwarten sei oder ob er seine
Einberufung auch als bloßen „Bluff“ betrachten
und morgen vielleicht gar nicht erst ins Arbeitslager
einrücken solle. Da ist Onkel Vili ein bisschen verlegen
geworden. (S. 25)

An die Perspektive des Erzählers lässt sich also kein
Anhaltspunkt für religiöse, politische oder moralische
Diskurse knüpfen. Umgekehrt bringt seine Wahrnehmung
Konstruktionen dieser Art zielsicher zum Einsturz.
Dabei inspiriert Gyurkas Beobachtungsgabe, neben der ironischen
Note, auch einen grotesk-humoristischen Ton:

Die Schwester meiner Stiefmutter haben wir allerdings nun gar
nicht gebrauchen können. Sie ist viel älter als meine
Stiefmutter und auch ihrem Äußeren nach ganz anders, so
als wären sie gar keine Geschwister: sie ist klein, dicklich
und hat ein Gesicht wie eine staunende Puppe. Sie schwatzte
furchtbar viel und weinte auch und hat alle umarmt. Auch ich konnte
mich nur mit Mühe von ihrem weich anfühlenden, nach Puder
riechenden Busen befreien. Als sie sich hinsetzte, stürzte das
ganze Fleisch ihres Körpers über die kurzen Oberschenkel.
(S. 22)

Doch gibt es auch starke sinnliche Eindrücke, die an das
Rührende und Erhabene streifen. Etwa als sich Gyurkas
Großvater von seinem Sohn verabschiedet, im Wissen, dass er
ihn vielleicht zum letzten Mal lebend sieht:

Und vielleicht das merkwürdigste Erlebnis dieses ganzen
Abends war für mich die einzige Regung, mit der mein
Großvater sich bemerkbar gemacht hat: er presste seinen
scharfen kleinen Vogelkopf für einen einzigen Augenblick, aber
auf eine ganz wilde, fast schon verrückte Art an die Jacke
meines Vaters, an seine Brust. Sein ganzer Körper zuckte wie
im Krampf. Dann ist er schnell hinausgeeilt, meine Großmutter
am Ellbogen führend. Alle haben ihnen Platz gemacht.
(S.31)

Auch hier wird deutlich, dass Kertész mit präziser
sinnlicher Optik eine sehr nachhaltige Wirkung von Details, Bildern
und Szenen erzeugen kann, gerade weil er auf ihre Deutung und
Wertung verzichtet.
Nachdem auch Gyurka von den Behörden festgenommen wurde,
landet er schließlich auf einem Kasernenhof der Gendarmerie,
wo die zum Abtransport bestimmten Juden angetreten sind. Angesichts
des ungarischen Kommandeurs, der sich als deutscher Herrenmensch
aufspielt, erzielt seine Wahrnehmung auch einen eminent satirischen
Effekt:

Er trug hohe Stiefel und eine enganliegende Uniform mit
goldenen Sternen und einen Lederriemen quer über der Brust. In
einer seiner Hände sah ich ein dünnes Stöckchen, von
der Art, wie man sie beim Reiten benutzt, mit dem er sich
fortwährend gegen den lackglänzenden Stiefelschaft
klopfte. Einen Moment später, als wir schon reglos in Reih und
Glied standen, konnte ich auch sehen, dass er auf seine Art ein
schöner Mann war, mit abgehärteten und gewinnend
männlichen Zügen, alles in allem ein bisschen an die
Helden im Film erinnernd, mit einem modisch geschnittenen, schmalen
braunen Schnurrbart, der sehr gut zu dem sonnengebräunten
Gesicht passte. (S. 66)

Die ästhetische Distanz des Erzählers erfasst sehr
genau die – ebenfalls ästhetische - Selbstinszenierung
dieses Judenhassers („an die Helden im Film
erinnernd“). Aber die Perspektive Gyurkas lässt sich
nicht verblenden. Er nimmt den Widerspruch zwischen Schein und Sein
deutlich wahr. Es ist

...die krächzende, mehr oder weniger an einen
Marktschreier erinnernde Stimme des Gestiefelten, die mich bei
seinem sonst so gepflegten Äußeren dermaßen
verblüfft hat, dass ich mir vielleicht schon deswegen nicht
viel von seinen Worten gemerkt habe. (Ebd.)

Im Bewusstsein des Jungen zeigt sich, dass die heroische
Selbstverklärung des so genannten Übermenschen nur eine
Dekoration des Primitiven ist. Die Inszenierung verpufft in der
Wahrnehmung einer Stimme, verpufft ästhetisch. Das
„jüdische Gesindel“ (ebd.), über das sich die
Stimme dann auslässt, ist nur eine politische Bestätigung
der eigentlichen, d.h. der sinnlichen Erfahrung.
Nicht immer sind die Eindrücke Gyurkas so eindeutig. Oft
erschöpfen sie sich in der neutralen und nüchternen
Beschreibung von Geschehnissen im Lager, wirken aber wie ein
detailgetreues Vergrößerungsglas des Schreckens.
Besonders bei der Ankunft in Auschwitz, wo Gyurka die
Initiationsriten des Konzentrationslagers kennen lernt: zum
Beispiel den geordneten Marsch in Gruppen, der aus einer dem
Einzelnen undurchsichtigen und perfekt durchorganisierten Logistik
hervorgeht:

All diese Bilder, Stimmen und Begebenheiten haben mich
einigermaßen verwirrt und schwindlig gemacht, in diesem sich
am Ende zu einem einzigen Eindruck vermengenden, seltsamen, bunten,
verrückten Wirbel; andere, möglicherweise wichtigere
Dinge konnte ich deshalb weniger aufmerksam verfolgen. So
wüsste ich nicht recht zu sagen: lag es an uns, an den
Soldaten, an den Sträflingen oder war es das Ergebnis unserer
gemeinsamen Anstrengung, dass sich schließlich doch eine
lange Menschenkolonne ergab, jetzt schon aus lauter Männern,
schon aus geordneten Fünferreihen bestehend, die sich um mich
herum und mit mir langsam, aber nun doch gleichmäßig,
Schritt für Schritt vorwärts bewegte. (S.93)

Die Verwirrung der Neuankömmlinge wird durch die
Geschwindigkeit des Ablaufs erzeugt. Sie sind durch die Trennung
von ihren Angehörigen und durch den Strudel neuer
Wahrnehmungen oft wie gelähmt und werden sofort in eine
Ordnung überführt, die sie absolut gleichschaltet. Gyurka
begreift erst bei der Einkleidung, dass er nicht einfach nur zu
einem Arbeitsdienst gelangt ist. Er ist jetzt Sträfling. Und
es ist wieder jene distanzierte Spiegelung einer unkommentierten
sinnlichen Wiedergabe, die den unmenschlichen Mechanismus erst
sichtbar macht:

Dann folgte ein Gang, auf der rechten Seite zwei ausgeleuchtete
Öffnungen, und schließlich ein dritter Raum ohne
Tür: in jeder der Öffnungen stand ein Sträfling und
verteilte Kleidungsstücke. Ich nahm – wie alle anderen
auch – ein Hemd in Empfang, das früher bestimmt einmal
blau-weiß gestreift gewesen war und am Halsausschnitt wie bei
meinem Großvater weder Kragen noch Knöpfe hatte, ebenso
Beinlinge, die höchstens für Greise gedacht sein konnten,
mit einem Schlitz über den Knöcheln und zwei richtigen
Hosenbändern, einen schon abgetragenen Anzug, jedoch genau dem
der Gefangenen entsprechend, aus Drillich und mit blau-weißen
Streifen – einen regelrechten Sträflingsanzug, ich
konnte es drehen und wenden, wie ich wollte; und in dem dritten
Raum durfte ich mir dann selbst aus einem Haufen komischer Schuhe,
mit Holzsohlen und einem Leinenoberteil mit drei Knöpfen an
der Seite statt Schnürsenkeln, die auswählen, die mir in
der Eile so ungefähr an die Füße zu passen
schienen. (...) dann zu guter Letzt noch ein unvermeidliches
Zubehör: eine zerschlissene, weiche, gestreifte, runde
Sträflingsmütze. Ich zögerte ein bisschen –
doch ich konnte ja, während von allen Seiten Stimmen zur Eile
mahnten, während sich alles um mich herum in fieberhafter Eile
anzog, nicht einfach dastehen, wenn ich nicht hinter den anderen
zurückbleiben wollte, natürlich. Die Hose musste ich
– denn sie war zu weit und ein Gurt oder irgendwelche
Träger fehlten – im Laufen verknoten, während sich
bei den Schuhen die unerwartete Eigenschaft herausstellte, dass die
Sohlen sich nicht bogen. Und zwischendurch habe ich mir, um die
Hände frei zu haben, die Mütze auf den Kopf gesetzt. (S.
111f.)

In Szenen wie diesen rückt uns das Konzentrationslager auf
den Leib, nicht weniger als den Häftlingen ihre Kleidung. Mit
einer sinnlichen Aufdringlichkeit, die gerade durch die Abwesenheit
eines moralisch reflektierenden Erzählers das inhumane System
weit besser vermittelt als politische Analysen das jemals
könnten. Und es bedarf noch nicht einmal der
spektakulären Gräuel des Krematoriums, um dem Leser
wissen zu lassen, wie sich die Lagerordnung
„anfühlt“. Sie bewirkt ganz offensichtlich eine
Verwandlung, den Verlust der Identität:

....so haben wir Jungen uns auf dem Hof, auf dem wir nach dem
Bad endlich anlangten, zunächst noch lange gegenseitig
betrachtet, angestaunt und hin und her gedreht. Dabei wurde ich auf
einen anscheinend noch jungen Mann in meiner Nähe aufmerksam,
der seine ganze Kleidung lange versunken und doch auch irgendwie
zaghaft abtastete, als wollte er sich nur von der Qualität des
Stoffes, gewissermaßen von seiner Echtheit überzeugen.
(S. 113)

Der seinen Stoff abtastende Jüngling ist ein beredsames
Bild menschlicher Entfremdung. Er kann sich nicht wiederfinden. Er
ist ein Verliebter, „der ungefähr eine Stunde zuvor
– denn so viel Zeit mochte von unserer Ankunft bis zu unserer
Verwandlung vergangen sein – das schwarzhaarige Mädchen
nur unter solchen Schwierigkeiten losgelassen hatte.“ (S.
113f.)
Diese mit kräftigen Bildern ausgemalten Feinheiten des
Lagerlebens täuschen aber keineswegs über die krassen
Züge des KZs hinweg. Der Leichengeruch aus den Schornsteinen
wird mit ebenbürtiger sinnlicher Evidenz geschildert:

Zu dieser Zeit mussten wir, nun aber ganz ernsthaft, auf den
Geruch aufmerksam werden. Es wäre schwer, ihn genau zu
umschreiben: süßlich und irgendwie klebrig, auch das nun
schon bekannte chemische Mittel darin (Zyklon B, das zur Vergasung
und Desinfektion benutzt wurde, G.B.), aber so, dass ich schon fast
ein bisschen Angst hatte, das ... Brot würde sich wieder in
meiner Kehle zurückmelden. (S. 120)

Zuerst vermuten die Neulinge, es handle sich um eine
Lederfabrik, bringen aber schnell in Erfahrung, dass dort angeblich
die Opfer von Epidemien verbrannt werden:

Da habe ich ihn mir noch etwas genauer angeschaut es war ein
gedrungener, eckiger Schornstein mit einer breiten Öffnung,
oben wirkte er wie plötzlich abgeschlagen. (...) Doch dann
konnten wir zu unserer erneuten Überraschung in der Ferne noch
einen und dann, schon am Rand des leuchtenden Himmels, noch einen
solchen Schornstein ausmachen, wobei aus zweien ähnlicher
Rauch quoll wie aus dem unsrigen, und vielleicht hatten jene Recht,
denen auch die entfernten Rauchschwaden, die hinter einer Art
kümmerlichem Wäldchen aufstiegen, allmählich
verdächtig vorkamen und bei denen, meines Erachtens
berechtigterweise, die Frage auftauchte, ob die Epidemie wohl
solche Ausmaße habe, dass es so viele Tote gab. (S.
121f.)

Auf derartige Szenen blickend, stellt sich mir die Frage, wie
der Roman eines Schicksallosen jemals bekannt werden konnte.
Seine sinnlichen Zumutungen müssten doch alle abschrecken, die
lieber verdrängen als wirklich hinsehen wollen. Und das ist in
der Regel die Mehrheit. Vielleicht aber durchbricht diese
Abwehrhaltung gerade die scheinbar reine ästhetische
Vergegenwärtigung. Wie ließe sich hier auch noch
überzeugend moralisieren oder kommentieren? Wie ließe
sich das Unfassbare überhaupt noch glaubwürdig darstellen
als allein durch die erschreckend naive Schilderung dessen, was
tatsächlich vorhanden war? Im ''Roman eines
Schicksallosen'' erscheint die Welt der Konzentrationslager so
rätselhaft und intensiv wie die Begegnung mit einem niemals
ganz zu begreifenden Kunstwerk. Und die vielleicht
erschütterndste Szene ist die, worin die Häftlinge,
angetreten zur „Bestandskontrolle“, sogar selbst zur
Ästhetisierung neigen:

Und dann sah ich zum ersten Mal – denn noch die
Dunkelheit fand uns in der gleichen Stellung vor – die Farbe
der hiesigen Nacht und eine ihrer Erscheinungen: die bengalischen
Feuer, ein wahres Feuerwerk aus Flammen und Funken über dem
ganzen linken Rand des Himmels. Um mich herum wurde von vielen
geflüstert, gemurmelt und wiederholt: „Die
Krematorien!“, aber doch schon eher, um es so zu sagen,
irgendwie mit dem Staunen, das einer Naturerscheinung gilt. (S.
130f.)

---

Doch nicht minder als ein Kunstwerk fordert die ästhetische
Distanz ständig eine Deutung, ein Verstehen, eine
Interpretation heraus. Auch diesem Verlangen wird Kertész
gerecht, indem er eine weitere natürliche Eigenschaft der
jungenhaften Perspektive nutzt: ihr Suchen nach Sinn und Bedeutung.
Er kombiniert sie mit einer bekannten Methode der
sprachanalytischen Philosophie, dem „Sprachspiel“. Die
Bedeutung von Wörtern wird dabei einzig durch ihre Verwendung
in einer sprachlichen Gemeinschaft bestimmt. Jede dieser
Gemeinschaften spielt ihr eigenes Sprachspiel. Vergebliche
Liebesmüh ist es, hinter Wörtern noch einen Sinn zu
suchen, eine ideale Welt, einen metaphysischen, politischen oder
religiösen Glauben. Wenn wir den Gebrauch eines Worts in der
Normalsprache nicht kennen, werfen wir nur unbeantwortbare, genau
genommen sinnlose Scheinprobleme auf. Diese bekannte These der
Normalsprachphilosophie (Ordinary Language Philosophy) ist
Kertész sehr gut vertraut. Schließlich hat er ihren
prominentesten Vertreter, den österreichischen Philosophen
Ludwig Wittgenstein (1889-1951), in die ungarische Sprache
übersetzt. Der künstlerische Effekt, den er mit dem
Sprachspiel erzielt, ist erneut gnadenlos realistisch. Denn die
Suche nach Bedeutung führt den Jungen immer wieder auf die
reale Praxis des Konzentrationslagers zurück. Eben weil seine
naive Perspektive noch nicht von fixierten Bedeutungen
überlagert ist, kann er dem Terror keinen höheren
„Sinn“ abgewinnen. Er „versteht“ nur die
Sprachregelungen des Lagers. Sie verdeutlichen ihm, welches Spiel
hier eigentlich gespielt wird. Auf diese Weise kann Kertész
seine Erzählerfigur „Gyurka“ in vollkommener
Naivität belassen. Und er kann, mit seiner überlegenen
und rückblickenden Reflexivität, dennoch die
sprachanalytische Wahrheit über das Konzentrationslager
erkunden, das heißt: den herrschenden Sprachgebrauch, der
Sinn und Bedeutung unausweichlich bestimmt.

Auch diese Haltung des Erzählers wird sorgfältig
entwickelt und erzielt sehr unterschiedliche Wirkungen. So betritt
der Junge mit seinem Vater und seiner Stiefmutter ein
jüdisches Geschäft, das sich auf
Ausrüstungsgegenstände für all diejenigen
spezialisiert hat, denen die Deportation bevorsteht. Dabei macht er
folgende Entdeckung:

Neuerdings gibt es bei ihnen auch gelbe Sterne aus eigener
Herstellung zu kaufen, denn an gelbem Stoff herrscht jetzt
natürlich großer Mangel. (...) Wenn ich es richtig sehe,
besteht ihre Erfindung darin, dass der Stoff irgendwie auf ein
Stück Karton gespannt ist, und das ist natürlich
hübscher, ja, und dann sind auch die Zacken der Sterne nicht
so lächerlich verschnitten wie bei mancher Heimanfertigung.
Ich habe bemerkt, dass ihnen das eigene Produkt selbst auf der
Brust prangte. Und das war, als würden sie es nur tragen, um
die Käufer zu animieren. (S. 15.)

Die Ironie liegt darin, dass Gyurka seinen Eindruck konsequent
dem Sprachgebrauch der Ökonomie unterwirft. Sterne aus eigener
Herstellung machen Sinn, weil aufgrund der großen Nachfrage
gelber Stoff „natürlich“ Mangelware ist. Das
Produkt hebt sich durch bessere Ausstattung von der
„Heimanfertigung“ der Sterne ab. Er sieht nicht die
tragische Verstrickung der Geschäftsinhaber, die ebenfalls mit
dem Stern als Juden stigmatisiert sind. Er zieht mit naiver
Konsequenz die einzige Schlussfolgerung, die das kommerzielle
Sprachspiel zulässt: „das war, als würden sie es
nur tragen, um die Käufer zu animieren.“ Durch diese
scheinbar unbedarfte Sicht entsteht ein teils zynischer, teils
satirischer Effekt: Machen hier gierige Leute mit einem Entsetzen
Geschäft, dem sie selbst verfallen sind? Die
Interpretationsarbeit ist jedenfalls ausschließlich vom Leser
zu leisten. Gyurka wendet einfach einen Sprachgebrauch an, den er
im väterlichen Geschäft erlernt hat. Auch dadurch wird
seine Perspektive als unbekümmerter Fünfzehnjähriger
unterstrichen.
Aufschlussreich ist auch folgende Szene, in der er beim
antisemitischen Bäcker eine Lebensmittelmarke vorlegt:

Er hat meinen Gruß gar nicht erwidert; es ist ja in der
Gegend allgemein bekannt, dass er die Juden nicht mag. Deshalb hat
er mir auch um etliche Gramm zu wenig Brot hingeworfen. Ich habe
aber auch schon sagen gehört, dass auf diese Weise pro Ration
etwas für ihn übrigbleibt. Und irgendwie, wegen seines
wütenden Blicks und seiner geschickten Handbewegung, habe ich
auf einmal die Richtigkeit seines Gedankenganges verstanden,
nämlich warum er die Juden in der Tat nicht mögen kann:
sonst müsste er ja das unangenehme Gefühl haben, er
betrüge sie. So hingegen verfährt er seiner
Überzeugung gemäß, und sein Handeln wird von der
Richtigkeit einer Idee gelenkt, was nun aber – das sah ich
ein – etwas ganz anderes sein mag, natürlich. (S.
17)

Der Verstehensprozess beschränkt sich nicht nur auf
Symbole. Gyurka verfügt über einen sensiblen sozialen
Radar, in dem er Verhaltensweisen lokalisiert. Dass sein Gruß
nicht erwidert wird, brüskiert ihn nicht im Geringsten. Klar,
der Bäcker ist Antisemit, also grüßt er ihn nicht.
Dass er zu wenig Brot bekommt, ist einfach die logische Konsequenz
daraus. Kritische Kategorien, die über jene eingespielte
soziale Praxis hinausgehen, fehlen ihm vollständig. Dann
verweist er auf eine weitere Information, die gängiges Wissen
ist: Der materielle Vorteil, der dem Bäcker zufällt. Er
kombiniert dieses Motiv mit den Zeichen, die er sensibel wahrnimmt:
den wütenden Blick und die geschickten Handbewegungen.
Plötzlich „versteht“ Gyurka das Verhalten, das ihm
hier vor Augen geführt wird: Der Bäcker muss sich ja des
Antisemitismus bedienen, um sein Verhalten vor sich selbst zu
rechtfertigen. Es ist einfach ein „unangenehmes
Gefühl“, die Juden ganz umstandslos zu betrügen.
Deshalb greift er nach Ideen und Überzeugungen, die diesen
Gedanken erst gar nicht aufkommen lassen. Der komische Effekt
bleibt dabei erneut auf die Wahrnehmung des Lesers beschränkt.
Er begreift die Heuchelei des geschäftstüchtigen
Antisemiten. Und im harmlos zustimmenden Erzählerkommentar
entpuppt sich abstrakte Prinzipientreue als Legitimation für
konkrete Unmenschlichkeit: „... sein Handeln wird von der
Richtigkeit einer Idee gelenkt, was nun aber – das sah ich
ein – etwas ganz anderes sein mag, natürlich.“ -
Gyurka selbst jedoch verbleibt in der naiven, gleichwohl scharf
beobachtenden Position der Verhaltensanalyse. Sie zielt
ausschließlich auf den Gebrauch und die Funktion von Worten
und Zeichen in einer sozialen Gemeinschaft ab. Bewertungen, die
außerhalb des lebenspraktischen Umfelds liegen, kommen dem
Ich-Erzähler wortwörtlich nicht in den Sinn.
Wie ernst und konsequent die Analyse der Wörter und Zeichen
durchgeführt wird, verdeutlicht ein dramatischer Zwischenfall,
den Gyurka noch zu Hause erlebt. Ein jüdisches Mädchen
aus der Nachbarschaft leidet stark unter dem gelben Stern, den es
tragen muss. Sie fühlt in den Blicken der Menschen eine
Ausgrenzung, einen Hass, eine grundlegende Veränderung. Gyurka
kann das nicht bestätigen. Sie werde nicht als Person gehasst,
man kenne sie ja gar nicht, sondern nur als die Idee
„Jude“. Eben über den „Sinn“ dieser
Idee, so das Mädchen, habe sie sich Gedanken gemacht:
„Schließlich muss man doch wissen, wofür man
gehasst wird.“ (S. 43.) Sie habe

...zum ersten Mal gefühlt, dass – so sagte sie
– sie etwas von den anderen Menschen trenne und dass sie
anderswo hingehöre als sie. Dann habe sie nachzudenken
begonnen, auch durch Bücher und Gespräche versucht,
hinter die Sache zu kommen, und dabei habe sie erkannt: gerade
deswegen werde sie gehasst. Sie ist nämlich der Ansicht, dass
„wir Juden anders sind als die anderen“, dass diese
Verschiedenheit das Wesentliche ist und die Juden deshalb von den
Menschen gehasst würden. (Ebd.)

Gyurka reagiert darauf sehr verhalten:

...ich habe bis jetzt noch keinen Anlass für solche
Gefühle gesehen. Und überhaupt, man kann doch diesen
Unterschied nicht einfach selbst bestimmen: schließlich ist
ja genau dafür der gelbe Stern da, soviel ich weiß. Das
habe ich ihr auch zu bedenken gegeben. Aber sie hat sich darauf
versteift: „Den Unterschied tragen wir in uns.“ Meines
Erachtens ist dagegen das wichtiger, was wir außen tragen.
(...) um die Wahrheit zu sagen, ich sah nicht recht ein, warum die
Frage so wichtig war. Aber es war etwas an ihrem Gedankengang, das
mich irgendwie ärgerte: meiner Meinung nach ist das alles viel
einfacher.“ (S. 44)

Das Mädchen sucht Sinn hinter dem äußeren
Zeichen. Sie entwirft eine jüdische Identität, ein
Anderssein, das durch das Symbol des Sterns bezeichnet wird. Gyurka
dagegen bleibt beim äußerlichen Zeichen stehen. Für
ihn ist einzig die faktisch vollzogene Kennzeichnung als solche der
entscheidende Unterschied. Es gibt keinen anderen Sinn, als den,
der durch diesen Akt selber willkürlich gestiftet wird. Die
Sache ist viel einfacher und hat nichts mit der Wesensschau einer
verborgenen jüdischen Besonderheit zu tun. Zur
Veranschaulichung zitiert er schließlich folgende
Geschichte:

Ich hatte vor kurzem ein Buch gelesen, eine Art Roman ein
Bettler und ein Prinz, die sich, von diesem Unterschied abgesehen,
von Antlitz und Gestalt auffällig, bis zum Verwechseln
ähnlich waren, vertauschten aus reiner Neugier ihr Schicksal,
bis dann schließlich aus dem Bettler ein richtiger Prinz und
aus dem Prinzen ein richtiger Bettler wurde. Ich habe dem
Mädchen gesagt, sie solle versuchen, sich das für ihren
eigenen Fall vorzustellen. Das ist natürlich nicht sehr
wahrscheinlich, aber schließlich ist ja vieles möglich.
Nehmen wir an, es sei ihr als ganz kleinem Kind passiert, wenn man
weder sprechen noch sich erinnern kann, und egal wie, aber –
nehmen wir einmal an – man hat sie eben irgendwie vertauscht,
oder irgendwie hat sich ergeben, dass sie mit dem Kind einer
anderen Familie verwechselt wurde, einer Familie, deren Papiere in
rassischer Hinsicht einwandfrei sind: nun, in diesem angenommenen
Fall würde jetzt das andere Mädchen die Verschiedenheit
spüren und natürlich auch den gelben Stern tragen,
während sie, aufgrund der Angaben, die über sie vorhanden
sind, sich genauso sehen würde – und natürlich auch
von den anderen gesehen würde – wie die übrigen
Menschen und nicht die leiseste Ahnung von dieser ganzen
Verschiedenheit hätte. Das hat ziemlich auf sie gewirkt,
soviel ich sah. (S. 44f.)

Der Stern verweist also nicht auf eine innere seelische
Bedeutung. Er hat die Funktion, eine bestimmte
Bevölkerungsgruppe aus ideologischen Gründen zu
brandmarken. In diesem Gebrauch erschöpft sich sein ganzer
Sinn. Die Menschen, denen er angeheftet wird, sind austauschbar;
das Opfer von Angaben und Papieren. Aber ist Gyurka nicht
gefühllos? Verkennt er nicht das Verlangen nach geistiger
Identität und Überlieferung, das dem Mädchen hilft,
mit dem Gefühl der Diskriminierung fertig zu werden? Ihre
Reaktion auf sein ernüchterndes Beispiel setzt ihn in
Erstaunen:

... sie ist in Tränen ausgebrochen.
(...)
... sie rief bitter und mit immer wieder versagender Stimme so
etwas wie: wenn es nichts mit unserer Eigenart zu tun habe, dann
sei ja das alles nur Zufall, und wenn sie auch eine andere sein
könnte, als die sie sein muss, dann „hat das alles
keinen Sinn“, und das sei ein Gedanke, der ihrer Meinung nach
„unerträglich ist“. Es war mir peinlich, denn
schließlich war ich schuld, aber ich hatte ja nicht wissen
können, dass ihr dieser Gedanke so wichtig war. (S. 45f.)

Sicher ist der Junge nicht gerade sensibel. Aber seine radikale
Verneinung eines tieferen Sinns öffnet eine unerwartet
kritische Dimension: Der soziale Gebrauch des Symbols zeigt
deutlich den blanken Unsinn seines ideologischen Gehalts. Denn der
Zufall und die Austauschbarkeit der Menschen widerlegt ja gerade
die Ansprüche des Rassenwahns. Das Mädchen hingegen
läuft Gefahr, sich von diesen absurden Vorstellungen
unfreiwillig bestimmen zu lassen. Indem sie dem Stern eine geistige
Bedeutung verleiht, fügt sie zur äußerlichen auch
noch die innerliche Stigmatisierung hinzu. Sie verfällt der
Deformation der Opfer durch die Ideologie der Täter. Und
nichts verdeutlicht den Irrsinn der Nazis vielleicht besser als die
Einsicht, die sie so fürchtet:

...dass man sie verachte, „einfach nur, weil ich
Jüdin bin“. (S.43.)

Die Suche nach Sinn wird also scheinbar gefühl- und
kritiklos auf die Verwendung der Wörter und Zeichen reduziert.
Andererseits offenbart ihr faktischer Gebrauch den grenzenlosen
Zynismus des vorherrschenden Sprachspiels, an dem ideelle
„Bedeutungen“ wirkungslos abprallen.

Diese Erzählperspektive bleibt nicht ohne Wirkung auf die
Erlebnisse des Jungen in den Lagern. So erinnert er sich in
Auschwitz an seinen feierlichen Eintritt ins Gymnasium. Der
Direktor zitierte humanistisches Bildungsgut: Nicht für die
Schule, sondern für das Leben lernen wir. Der Gebrauch dieser
Maxime ist aber unter den Bedingungen des Lagers unmöglich.
Die antike Weisheit zerplatzt mit lautem satirischem Knall:

Dann hätte ich jedoch, das war meine Ansicht, die ganze
Zeit ausschließlich für Auschwitz lernen müssen. Es
wäre alles erklärt worden, offen, ehrlich,
vernünftig. Bloß hatte ich während der ganzen vier
Jahre in der Schule kein einziges Wort davon gehört. Aber ich
sah natürlich ein, dass die Sache peinlich gewesen wäre,
ja und dann gehört es auch nicht zur Allgemeinbildung, ich
musste es zugeben. (S. 127f.)

Die Bildungsanstalten haben politisch versagt, gerade dann, wenn
man sie an ihren eigenen Traditionen misst. Während der ganzen
Schulzeit hat der Junge „kein einziges Wort“ von der
Realität des Terrors gehört, auf die er hätte
vorbereitet werden müssen. Es wäre ja auch
„peinlich gewesen“; und schließlich gehöre
Auschwitz nicht zur Allgemeinbildung. Mit anderen Worten: Das
Vernichtungslager verstößt gegen die Etikette. Im
klassischen Kanon ist dieses Phänomen schlicht nicht
enthalten. Es steht außerhalb des damals eingespielten
Sprachspiels der Bildung. - „Ich musste es zugeben“,
„aber ich sah es natürlich ein“ – diese
ironisch-naiven Formeln verweisen die mit Auschwitz konfrontierten
Schulweisheiten kurzerhand ins Wolkenkuckucksheim. Wie ein
Erstklässler muss Gyurka also erst einmal über die
sprachanalytische Wahrheit des Lagers aufgeklärt werden:

...zum Beispiel darüber, dass wir uns in einem
„Konzentrationslager“ befanden. Aber auch die
seien nicht alle gleich, so wurde erklärt. Das hier zum
Beispiel sei ein „Vernichtungslager“, erfuhr
ich. Etwas ganz anderes sei dagegen – so wurde gleich
hinzugefügt – das „Arbeitslager“:
dort sei das Leben leicht, die Verhältnisse und die
Lebensmittelversorgung, hieß es, unvergleichlich besser, was
nur natürlich ist, denn auch das Ziel war ja schließlich
ein anderes. (S. 128)

Das Erlernen der Lagersprache konzentriert sich auf die
Erkenntnis der Zielsetzungen. Sie bestimmen die jeweils geltenden
Regeln. Der Tod durch das Gas im Vernichtungslager bedingt eine
andere Logik als der Tod auf Raten, der im Arbeitslager herrscht:
„Ich habe natürlich bald gemerkt, dass die vorteilhafte
Meinung, die noch in Auschwitz über die Einrichtung von
Arbeitslagern geäußert worden war, auf
einigermaßen übertriebenen Äußerungen beruhen
musste.“ (S. 151)
Die unheimliche und bedrückende Naivität des
„Verstehens“, die Gyurka praktiziert, findet in der
„Natürlichkeit“ seiner Einsicht stets ihren
Höhepunkt. Sie bringt das Ungeheuerliche des technischen
Ablaufs ungefiltert zum Bewusstsein. Die aufgefundenen Bedeutungen
moralisch zu deuten – genau das würde dem Eindruck seine
Schärfe nehmen. So aber kommentiert der wissbegierige Junge
die Logik von Auschwitz immer wieder anhand konkreter Erlebnisse,
deren Realität auch sprachlich nicht zu überschreiten
ist. Hier ein weiterer Lernprozess:

Die Gefahr lauere vor allem im Wasser, in nicht abgekochtem
Wasser, wie ich selbst es zum Beispiel auf dem Weg vom Bahnhof zum
Bad getrunken hatte – aber das hatte ich ja schließlich
nicht wissen können. Nun gut, da war die Tafel gewesen
(„Kein Trinkwasser“, G.B.), unbestreitbar, aber
immerhin, der Soldat hätte ja auch etwas sagen können,
fand ich. Doch halt – fiel mir ein -, ich musste ja das Ziel
in Betracht ziehen. (S. 128)

Nach mehrtägigem Aufenthalt in den Güterwagen –
natürlich ohne Wasser - stillen die Neulinge bei erster
Gelegenheit ihren Durst. Der Zynismus der Aufschrift „Kein
Trinkwasser“ besteht darin, dass sie sogar die Wahrheit sagt,
aber niemanden vom Trinken abhalten kann. Auch das Personal greift
nicht ein. Aber man müsse ja das Ziel der systematischen
Vernichtung bedenken, weswegen moralische Vorwürfe ins Leere
laufen.
Eine entsprechend modifizierte Sprachregelung dagegen findet sich
im KZ Buchenwald:

Auch in Buchenwald gibt es ein Krematorium, versteht sich, aber
insgesamt nur eines, denn das ist hier nicht der Zweck, nicht das
Wesen der Sache, nicht Seele und Sinn des ganzen – wenn ich
so sagen darf -, sondern es werden nur solche verbrannt, die im
Lager verscheiden, unter den gewöhnlichen Umständen des
Lagerlebens sozusagen. (S. 142)

Dieser Kommentar ist zweifellos eine versteckte Parodie auf
hermeneutische und humanistische Sinnsucher, die im Gegensatz zum
sprachanalytischen Ansatz hinter den Zeichen ein
„Wesen“ oder eine „Seele“ vermuten. Die
Reflexion des Jungen aber bleibt vordergründig immer auf die
gegenwärtigen Zeichen und ihre Anwendung bezogen. Eben dadurch
wird „Seele und Sinn des Ganzen“, das Verstehen von
Bedeutungen, zielsicher in den Spielregeln des Lagers
identifiziert.
An einer Stelle, während des Aufenthalts in einem
Außenlager von Buchenwald, thematisiert der Erzähler
seine sprachanalytische Haltung selbst:

Ich möchte behaupten, dass wir bestimmte Begriffe erst in
einem Konzentrationslager wirklich verstehen. In den dummen
Märchen meiner Kindheit kam zum Beispiel häufig jener
„Wandergesell“ oder „arme Bursche“ vor, der
sich um der Königstochter Hand willen beim König
verdingt, und das um so lieber, als es nur für sieben Tage
ist. „Aber sieben Tage sind bei mir sieben Jahre!“ sagt
ihm der König; nun, also, genau das gleiche könnte ich
auch vom Konzentrationslager sagen. Ich hätte zum Beispiel nie
gedacht, dass aus mir so schnell ein verschrumpelter Greis werden
könnte. Zu Hause braucht das Zeit, mindestens fünfzig bis
sechzig Jahre: hier hatten schon drei Monate genügt, bis mich
mein eigener Körper im Stich ließ. (S. 182f.)

Ein anderes offenkundiges Beispiel findet sich auch auf dem
Transport zur Krankenstation:

Zum Beispiel ließ sich ein früher oft gehörter
Ausdruck wie „sterbliche Überreste“ nach meinem
vormaligen Wissen ausschließlich auf einen Verstorbenen
beziehen. Ich jedoch, daran war kein Zweifel, lebte noch (...). (S.
203)

Der „Schicksallose“ zerstört die
Sinnkonstruktionen unserer Sprache. Vertraute Redewendungen, die
„dummen Märchen“ der Kindheit, jeder
Sprachhorizont, dem außerhalb des Lagers eine Bedeutung
zukommt, greifen hier nicht. Die Sprache des Romans kann und will
sich der eisernen Umklammerung durch das barbarische „Ziel
des Ganzen“ nicht entziehen.
Besonders dort, wo der Erzähler versichert, dass etwas
nachvollziehbar und verständlich sei, lauert auf den Leser
regelmäßig das nackte Entsetzen: „Ich jedoch,
daran war kein Zweifel, lebte noch.“ Zahlreiche
Einschübe und Adverbien wie „gewissermaßen“,
„sicher“, „natürlich“, „das
musste ich zugeben“ usw. erzeugen eine Signatur des Grauens.
Sie ziehen sich formelhaft durch den gesamten, sehr bewusst
komponierten Text. Diese Eigenart der Sprache Gyurkas bemerkt auch
ein neugieriger Journalist, dem er nach seiner Befreiung in
Budapest begegnet:

Bestimmt, sagte er da, mit einem etwas unbehaglichen Ausdruck
im Gesicht, hätte ich viel entbehren, hungern müssen, und
wahrscheinlich sei auch ich geschlagen worden, und ich sagte:
„Natürlich“. „Lieber Junge“, rief er
da, wobei er, wie mir schien, doch langsam die Geduld verlor,
„warum sagst du bei allem, es sei natürlich, und immer
bei Dingen, die es überhaupt nicht sind!“ Ich sagte, im
Konzentrationslager sei so etwas natürlich. „Ja,
ja“, sagte er, „dort schon, aber ...“, und hier
stockte, zögerte er ein bisschen, „aber ... ich meine,
das Konzentrationslager an sich ist nicht natürlich!“,
endlich hatte er gewissermaßen das richtige Wort erwischt,
und ich erwiderte dann auch nichts darauf, denn ich begann
allmählich einzusehen: über bestimmte Dinge kann man mit
Fremden, Ahnungslosen, in gewissem Sinn Kindern, nicht diskutieren,
um es so zu sagen. (S.270f.)

An diesem Punkt offenbart sich die Funktion des Sprachspiels: Es
gibt keinen Standpunkt außerhalb des Konzentrationslagers,
der uns ein Verständnis für dessen Realität erlaubt.
Kein Schlupfloch für Bedeutungen, die außerhalb der
konkreten Erfahrung irgendwelche Gültigkeit hätten. Wer
das Lager nicht selbst erlebt hat, bleibt fremd und ahnungslos, ein
Kind, das die richtigen Worte „erwischen“ und sein
„Unbehagen“ loswerden will. Das
„Konzentrationslager an sich“ bleibt unerkennbar im
Dunkeln. Vergleichbar dem Kantischen „Ding an sich“,
ist es nur ein virtueller Fluchtpunkt für unendliche
Spekulationen und Scheinprobleme, die letztlich nichts beweisen und
praktisch nicht verwertbar sind.
Dabei ist Gyurka durchaus nicht unempfänglich für
höhere Ideen. Er zollt zum Beispiel den gläubigen Juden
in Buchenwald Respekt für ihre geistige Stärke, ja er
beneidet sie darum. Als drei Häftlinge nach einem
gescheiterten Fluchtversuch auf dem Appellplatz stranguliert
werden, erklingt das jüdische Totengebet gleich einer fremden
und unwiderstehlichen Macht. Gyurka jedoch stellt trotzdem
fest:

„...im übrigen veränderte sich ja da vorn
überhaupt nichts, regte sich, abgesehen von den letzten
Zuckungen der Gehenkten, überhaupt nichts, geschah auf die
Worte hin gar nichts.“ (S. 179)

Der Roman eines Schicksallosen zieht eine
unüberwindbare Grenze zwischen innen und außen: Es ist
nicht möglich, mit Wörtern und Deutungen eine Verbindung
herzustellen: Sei es, im Stil des Journalisten, von außen
nach innen, sei es, in Form des Glaubens, von innen nach
außen. Auch zwischen den geistigen Welten, so scheint es,
verläuft ein elektrischer Stacheldraht, der jede lebendige
Berührung hoffnungslos ausschließt.

---

Beide Erzähltechniken, die ästhetische Distanz wie das
Sprachspiel, die sinnlichen Eindrücke so gut wie die
Reflexionen erzeugen eine erdrückende Faktizität, ein
nicht hinterfragbares So-Sein. Die Konsequenz: Es gibt keine
Entlastung durch ein historisches Bewusstsein, überhaupt kein
Anzeichen für den historischen Abstand, aus dem Kertész
das Buch ja geschrieben hat. Im Gegenteil scheint der
Vergangenheitscharakter des erzählten Geschehens
vollständig aufgehoben. Deshalb könnte man den Roman auch
schlicht als eine Konsequenz des sprachanalytischen Verfahrens
lesen: Kertész hat auf weiterführende
„Bedeutungen“ verzichtet, eben weil er das Vergangene
als unaufhebbar gegenwärtig schildern wollte. Gewiss:
Tendenziell führt das Sprachspiel zur unbedachten Einebnung
jeder Kritik auf die bestehenden Verhältnisse. Im fiktionalen
Kontext des Romans allerdings ließe sich entgegnen, dass die
positivistische Darstellung des Konzentrationslagers vor allem im
Leser gezielt Bewertungen provoziert. – Während
Kertész sich vordergründig damit bescheidet, bloß
den Eindruck einer reinen, gleichsam unhistorischen, dafür
aber direkt erlebten Tatsächlichkeit zu vermitteln.
Doch gibt es wirklich keine Äußerungen des
Erzählers, in denen er seine Erfahrung kritisch auf den
Begriff bringt? Keine expliziten Lehren oder Einsichten, die er
daraus zieht? Keine Denkansätze, die über das Erlebte
hinausgehen? Nicht ganz, nicht absolut. - Der Moment der
Erkenntnis, d.h. die Einsicht in die wahre Zielsetzung von
Auschwitz, dämmert Gyurka schon am Abend des ersten Tages. Er
ist gerade auf dem Rückweg vom Gang zur Latrine:

Da, gegenüber, verbrannten in diesem Augenblick unsere
Reisegefährten aus der Eisenbahn, alle, die im Auto hatten
mitfahren wollen, und all die, die sich vor dem Arzt aus Alters-
oder anderen Gründen als untauglich erwiesen hatten, genauso
die Kleinen und mit ihnen die Mütter und die, die es in der
Zukunft geworden wären, denen man es bereits hatte ansehen
können, so hieß es. Auch sie seien vom Bahnhof zum Bad
gegangen. Auch sie seien über die Kleiderhaken, die Nummern,
den Ablauf im Bad unterrichtet worden, genauso wie wir. Auch
Friseure seien dort gewesen – so wurde behauptet -, und auch
die Seife habe man ihnen ausgehändigt. Und dann seien auch sie
in den Baderaum geführt worden, wo, so hörte ich, auch
solche Rohre und Duschen vorhanden waren: nur, dass man aus ihnen
nicht Wasser, sondern Gas auf sie herunterließ. (...) In der
Zwischenzeit – hörte ich – sei man sehr freundlich
zu ihnen, sie würden liebevoll umsorgt, die Kinder sängen
und spielten Ball, und der Ort, wo sie vergast wurden, sei sehr
hübsch gelegen, zwischen Rasenplätzen, Wäldchen und
Blumenbeeten: deshalb hatte ich schließlich den Eindruck, es
sei eine Art Schabernack, irgend etwas wie ein Studentenstreich.
(S. 124f.)

Dieser Bericht deckt sich exakt mit den uns vorliegenden
historischen Dokumenten. Hier gibt es nichts, was wir
hinzufügen oder weglassen könnten. Die Vergasung aller
Juden unter 16 Jahren – Gyurka ist nur am Leben, weil er ein
falsches Alter angibt - die Vergasung aller schwangeren
Jüdinnen und aller Arbeitsunfähigen ist Fakt. Doch die
Vermutung des Jungen, es handle sich um einen
„Studentenstreich“, reflektiert phantasievoll den
„tieferen Sinn“ und Ursprung des Ganzen, der sich in
raffinierten Tricks und Tarnungsmanövern offenbart:

...im Grunde genommen – so stellte ich es mir wenigstens
vor – konnte es auch gar nicht sehr viel anders vor sich
gegangen sein. Schließlich setzte man sich wahrscheinlich
auch hier gemeinsam an einen Tisch, steckte sozusagen die
Köpfe zusammen, auch wenn es nicht gerade Studenten waren,
versteht sich, sondern gestandene erwachsene Männer,
vielleicht auch, ja höchstwahrscheinlich, wenn ich es recht
überlegte, Herren, in würdigem Anzug, Zigarren im Mund,
Orden auf der Brust, alles sicher Befehlshaber, die nicht
gestört sein wollen – so stellte ich es mir vor. Einer
kommt dann auf die Idee mit dem Gas: ein anderer dann gleich auf
die Idee mit dem Bad, ein dritter auf die mit der Seife, ein
vierter wiederum fügt die Blumen hinzu, und so weiter. Ein
paar Ideen hatten sie vielleicht etwas länger diskutiert,
länger daran herumgefeilt, andere dagegen gleich freudig
aufgenommen, waren von ihren Sitzen hochgeschnellt (ich weiß
nicht, warum mir das wichtig war, aber sie schnellten hoch) und
hatten sich an den Händen gefasst – all das ließ
sich lebhaft vorstellen, zumindest was mich angeht. Die Ideen der
Befehlshaber werden dann mittels vieler emsiger Hände,
eifriger Betriebsamkeit verwirklicht, und am Erfolg der Darbietung,
das sah ich wohl, konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. (S.
125f.)

So ehern die Gesetze des Lagers auch sind, so erbarmungslos ihre
Macht auch immer sein mag: Hinter ihnen verbirgt sich ein zynisches
Spiel der Befehlshaber, das durch zahlreiche Helfershelfer in eine
perfekt kalkulierte Wirklichkeit überführt wird. Die
Vorstellung, Auschwitz als eine Ausgeburt von exklusiven
Herrengesellschaften zu schildern, liegt der historischen Wahrheit
übrigens gleichfalls ziemlich nahe. Sie ist dennoch eine
Schlussfolgerung, die sich eindeutig über die Grenzen des
Lagers kritisch hinwegsetzt. Die sinnliche Lebhaftigkeit, womit
sich der Junge die Sitzungen der Machthaber ausmalt, wirkt wie eine
hellsichtige Inspiration mit detailgenauer erzählerischer
Dynamik: Die „weltgeschichtliche Aufgabe“ der
Judenvernichtung (so der ehemalige Hühnerzüchter Heinrich
Himmler) reduziert sich in der Phantasie des Jungen auf
luxuriös ausgestattete Konferenzräume, schweren
Zigarrenrauch und spätpubertäre Herrenmenschen-Witze. Ein
barbarischer Schabernack - das ist hier das einzige Resultat einer
Wesensbeschreibung von Auschwitz.
Der Sinn der Konzentrationslager lässt sich trotz dieses
Versuchs nicht auf Begriffe bringen. Denn dieser Sinn resultiert ja
aus einem Maximum von zügelloser Macht und sofortiger
Durchführung auch der undenkbarsten Einfälle. Auf der
Krankenstation in Buchenwald stellt Gyurka einige Hypothesen auf,
die diesen Umstand sehr deutlich machen:

Vielleicht – so magst du grübeln, wie etwa ich es
tat – ist das auch so ein Ort, von dem wir noch in Auschwitz
gehört haben, wo die Pfleglinge bei Milch und Butter gehalten
werden, bis man ihnen – zum Beispiel – Stück
für Stück sämtliche Eingeweide herausnimmt, zwecks
Weiterbildung, zum Wohle der Wissenschaft. (...) So kam mir dann
ein Gedanke, möglicherweise ein etwas zweifelhafter –
aber wer könnte schon beurteilen, was möglich und was
glaubhaft ist, wer könnte das ermessen, wer könnte all
den unzähligen, verschiedenerlei Einfällen, Erfindungen,
Spielen, Scherzen und ernsthaften Überlegungen nachgehen, die
in einem Konzentrationslager allesamt ausführbar, machbar
sind, sich spielend aus dem Reich der Phantasie in die Wirklichkeit
überführen lassen – wer könnte das, selbst
wenn er sein ganzes Wissen zusammennähme. Man wird also
– grübelte ich – zum Beispiel genau in ein Zimmer
wie dieses gebracht. Man wird, sagen wir, genau in ein solches Bett
mit Steppdecke gelegt. Gehegt, gepflegt, mit allem versorgt –
nur nicht mit Essen, nehmen wir einmal an. Wenn man will, dann
lässt sich zum Beispiel vielleicht sogar das beobachten, auf
welche Art jemand verhungert – schließlich mag auch das
auf seine Art interessant, in höherem Sinne nützlich
sein, warum denn nicht, das musste ich zugeben. (S. 223f.)

Um in einem derartigen System zu überleben, bleibt nichts
anderes übrig, als jeden Moment einfach abzuwarten und
durchzuhalten. Spekulationen und Hoffnungen sind gefährlich.
Denn kein Mensch kann wissen, was der nächste Augenblick schon
bringen mag. Gyurka beschreibt diese existenzielle Situation als
wesentliches Merkmal seiner Lager-Erlebnisse:

So habe ich dann gemerkt selbst in Auschwitz kann man sich
offenbar langweilen – vorausgesetzt, man gehört zu den
Privilegierten. Wir warteten und warteten – und wenn ich es
recht bedenke, so warteten wir eigentlich darauf, dass nichts
geschähe. Die Langeweile, zusammen mit diesem
merkwürdigen Warten: das, ungefähr dieser Eindruck,
glaube ich, ja, mag in Wirklichkeit Auschwitz bedeuten –
zumindest in meinen Augen. (S: 134)

Das Warten darauf, dass nichts passiert, hat der Junge
reflexartig verinnerlicht. Selbst bei der Befreiung ist dieser
Mechanismus noch intakt. Bei allen ist

...nur von Freiheit die Rede und keine Andeutung, kein Wort von
der noch ausstehenden Suppe. Auch ich war, natürlich,
äußerst erfreut, dass wir frei waren, aber ich konnte
halt nichts dafür, ich musste andererseits einfach denken:
gestern hätte so etwas zum Beispiel noch nicht vorkommen
können. (S.258)

Erst nach Ankündigung einer kräftigen Gulaschsuppe
denkt auch er - „wohl zum erstenmal ernstlicher – an
die Freiheit.“ (Ebd.)
Die Erfahrung einer Schritt für Schritt gelebten Zeit, so
berichtet Gyurka dem Journalisten in Budapest, sei auch das
Einzige, was die Menschen im KZ ausharren lasse. Es sei ein
Ort,

...wo einem erst alles langsam, in der Abfolge der Zeit, Stufe
um Stufe, klar wird. Wenn man die eine Stufe hinter sich gebracht
hat, sie hinter sich weiß, kommt bereits die nächste.
Wenn man dann alles weiß, hat man auch alles bereits
begriffen. Und indes man alles begreift, bleibt man ja nicht
untätig: schon erledigt man die neuen Dinge, man lebt, man
handelt, man bewegt sich, erfüllt die immer neuen Forderungen
einer jeden neuen Stufe. Gäbe es jedoch diese Abfolge in der
Zeit nicht und würde sich das ganze Wissen gleich dort auf der
Stelle über uns ergießen, so hielte es unser Kopf
vielleicht gar nicht aus, und auch unser Herz nicht – so
versuchte ich, es für ihn ein wenig zu beleuchten (...).
Andererseits, fuhr ich fort, sei da gerade der Fehler, ich
könnte sagen der Nachteil, dass man die Zeit auch irgendwie
verbringen muss. (S. 272f.)

Gyurkas Durchleben der Zeit, sein Aushalten des KZ, das Moment
um Moment erfolgt, ist zugleich eine Absage an die großen
Erzählungen der Menschheitsgeschichte. Erzählungen, die
im Begriff des Schicksals, der Vorsehung, der Dialektik, der Welt,
der Völker usw. eine scheinbare Geschlossenheit erhalten, die
aber gerade das konkrete Erlebnis unterschlägt. In einer
erregten Diskussion mit seinen ehemaligen Nachbarn stellt Gyurka
das nach seiner Rückkehr richtig:

Es war mehr die häufige, fast schon ermüdende
Wiederholung eines Wortes, was mir an ihrer Litanei auffiel, ein
Wort, mit dem sie jede neue Wende, jede Veränderung, jede
Bewegung bezeichneten: so „kamen“ zum Beispiel die
Judensternhäuser, „kam“ der fünfzehnte
Oktober, „kamen“ die Pfeilkreuzler, „kam“
das Ghetto, „kam“ die Sache am Donau-Ufer,
„kam“ die Befreiung, Nun und dann war da der
übliche Fehler: als hätte dieses ganze verwischte, in
Wirklichkeit unvorstellbar erscheinende und auch in den
Einzelheiten – so wie ich sah – für sie nicht mehr
vollständig nachvollziehbare Geschehen nicht in der gewohnten
Abfolge von Minuten, Stunden, Tagen, Wochen und Monaten
stattgefunden, sondern gewissermaßen auf einmal, irgendwie in
einem einzigen Wirbel, Taumel (...). (S. 279f.)

Die KZ-Erfahrung lässt kein Erzählen zu, das in den
klassischen Bahnen verläuft. Für diese Barbarei gibt es
keine mythischen Schablonen, keine intakten Überlieferungen,
die noch Bestand hätten. Es gibt nur die Schritte, nur das
Überleben, das jede kulturelle Idee des Ganzheitlichen und
Harmonischen zerstört. Wie könne man, so fragte einst
Adorno, nach Auschwitz noch dichten? Kertész fragt weiter:
Wie kann man noch erzählen, wenn die Sinnfiguren für die
Idee einer abgeschlossenen Geschichte nicht mehr existieren? Wenn
angesichts des willkürlichen Mordens selbst die griechische
Tragödie zu einem harmlosen Schauermärchen verblasst? In
der Vergangenheit gab es wenigstens zürnende Götter,
übergeordnete und verlässliche Instanzen, die selbst dem
größten Opfer noch die Weihe des höheren Sinns
verliehen. Das austauschbare, zufällige und sinnlose Leiden in
Auschwitz lässt diesen Ausweg nicht zu:

Nur jetzt wirkt alles so fertig, so abgeschlossen,
unveränderlich, endgültig, so ungeheuer schnell und so
fürchterlich verschwommen, so, als sei es
„gekommen“: nur jetzt, wenn wir es im nachhinein, von
hinten her sehen. Und, freilich, auch wenn wir das Schicksal schon
im voraus kennen. Dann bleibt uns, in der Tat, nur noch die
einleuchtende Erkenntnis, wie die Zeit vergeht. Dann ist zum
Beispiel ein dummer Kuss vom gleichen Grad der Notwendigkeit wie
(...) die Gaskammern. (S.282)

Deshalb wird der Häftling durch die anmaßende
Sinnkonstruktion eines Schicksalsbegriffs auch noch um seine letzte
und entscheidende Erfahrung gebracht - das Überleben des immer
nur nächsten Augenblicks:

Ich und kein anderer hat meine Schritte gemacht, und ich
behaupte, mit Anstand. (...) Ob sie denn wollten, dass diese ganze
Anständigkeit und alle meine vorangegangenen Schritte nun
ihren ganzen Sinn verlören? (S. 284)
...ich könne – sie sollten doch versuchen, das
einzusehen, so flehte ich beinahe schon: ich könne die dumme
Bitternis nicht herunterschlucken, einfach nur unschuldig sein zu
sollen. (S. 285)

Gyurka versteht das Lagerleben als gelebtes Leben, nicht nur
einfach als erdultetes und erlittenes Leben. - Doch welche
Qualitäten sind es eigentlich, die man den Opfern nimmt, wenn
man sie nur schicksalhaft als Opfer betrachtet? Was genau meint der
Ich-Erzähler, wenn er vom „Anstand“ spricht, mit
dem er seine Schritte im Lager, einen nach dem anderen, gemacht
hat? Es mag wunderlich klingen, wenn man die Umstände bedenkt
– aber es ist eine Höchstleistung an Tugend, die
für das Überleben erforderlich ist:

Ich hätte es nämlich nie geglaubt, und doch ist es
eine Tatsache: nirgends ist eine gewisse Ordnung in der
Lebensführung, eine gewisse Mustergültigkeit, ja Tugend
offensichtlich so wichtig wie in der Gefangenschaft. (S. 153)

Das fängt an mit der äußerst disziplinierten
Einteilung der kargen Nahrungsration. Das setzt sich fort mit der
energischen Einhaltung der Hygiene, die den völlig
entkräfteten Häftling vor Infektionen schützt. Und
das gilt selbst noch für den guten Willen, mit dem, wenigstens
anfangs, die Arbeit angegangen wird – denn nur diese
Willensanstrengung bewahrt die Gruppe vor drakonischen
Strafmaßnahmen:

Die Hauptsache ist, sich nicht gehenzulassen irgendwie wird es
schon werden, denn es ist noch nie vorgekommen, dass es nicht
irgendwie doch geworden wäre. (S. 152)

Diese Lager-Weisheit ist entscheidend. Und sie bleibt
unmenschlich gültig selbst dann, wenn der Häftling
einsehen muss, dass der Wille allein nicht genügt:

Nein, unter gewissen Umständen ist auch der beste Wille
nicht genug. Ich hatte zu Hause gelesen, mit der Zeit, freilich mit
der erforderlichen Anstrengung, könne man sich sogar an die
Gefangenschaft gewöhnen. Und das mag sogar stimmen,
zweifellos, zu Hause etwa, in einem regelrechten, einem
anständigen, so einem zivilen Gefängnis, oder wie ich es
nennen soll. Nur bietet sich dafür eben, nach meiner
Erfahrung, in einem Konzentrationslager nicht recht Gelegenheit.
(S. 172)

Für Gyurka kommt die Befreiung gerade noch rechtzeitig.
Nach einer üblen Misshandlung durch einen Aufseher fängt
er an, sich gehen zu lassen – unter den Gesetzen des Lagers
der sichere Tod. Doch selbst in dieser gefährlichen Phase, wo
er bald schon ausgemustert wird, stellt er den ewigen Rhythmus
eines nur momentanen, nur aufgeschobenen Lebens fest:

...von da an dachte ich jeden Morgen, es sei der letzte, an dem
ich noch aufstehen würde, bei jedem Schritt, dass ich den
nächsten nicht mehr tun, bei jeder Bewegung, dass ich die
nächste nicht mehr schaffen würde; aber ja nun,
vorläufig schaffte ich sie noch jedes Mal. (S. 188)

Das einzige, was die Häftlinge diesem Leben auf Abruf
entgegensetzen können, sind verschiedene Formen des
„Eigensinns“: etwa ein unerschütterlicher Glaube,
die Flucht in die Phantasie, die fast unmögliche Flucht aus
dem Lager selbst – oder der Selbstmord, der erstaunlich
selten vorkommt. Gyurka wählt die Phantasie. Er versetzt sich
in seinen früheren Alltag zurück, beschwört
Situationen, wo er liegen gelassene Speisen im Geist verzehrt. Bis
ihm die Kraft ausgeht, die auch die Phantasie abverlangt. Und er
hat großes Glück, dass sein Transport zur Krankenstation
bereits in die ersten Auflösungserscheinungen der Lagerordnung
fällt. – Der Krieg der Deutschen gegen den Rest der Welt
ist offenkundig verloren.
Noch während dieses Transports rechnet Gyurka mit der
Vergasung, wie immer in Übereinstimmung mit dem Lagergebrauch.
Doch selbst in dieser größtmöglichen Unsicherheit
stellt er, mitten im Gestank verbrannter Leichen, einen schwachen
Duft von Suppe fest:

Und alles Abwägen, alle Vernunft, alle Einsicht, alle
Verstandesnüchternheit half da nichts – in mir war die
verstohlene, sich ihrer Unsinnigkeit gewissermaßen
schämende und doch immer hartnäckiger werdende Stimme
einer leisen Sehnsucht nicht zu überhören: ein bisschen
möchte ich noch leben in diesem schönen
Konzentrationslager. (S. 209)

Erst jetzt, nach dem „schrittweise“ erfolgenden
Absterben im Arbeitslager, wird diese Äußerung zu mehr
als bloß zu einem Zeichen für den physischen
Überlebenstrieb: Sie wird zu einem Widerstand gegen das so
genannte Schicksal, das uns unter keinen Umständen daran
hindern kann, am Leben festzuhalten. - Und es ist auch nicht
zufällig mitten unter den Todgeweihten, dass der Erzähler
zum ersten Mal von Liebe spricht:

...die Körper, die an mich gepresst waren, störten
mich nicht mehr, irgendwie freute es mich eher, dass sie bei mir
waren, mir so vertraut und dem meinen so ähnlich, und jetzt
zum erstenmal erfasste mich ihnen gegenüber ein ungewohntes,
regelwidriges, irgendwie linkisches, um nicht zu sagen
ungeschicktes Gefühl – möglicherweise vielleicht
Liebe, glaube ich. Und gleiches wurde mir von ihnen zuteil (..).
... hier ein tröstendes Wort, da ein beruhigender Zuspruch.
Aber ich kann sagen, auch mit Taten geizte nicht, wer dazu noch
irgend fähig war, und auch zu mir reichten Hände in
barmherziger Fürsorge aus wer weiß welcher Entfernung
die Konservendose weiter, nachdem ich gemeldet hatte, dass ich
urinieren musste. (S. 205)

Zugegeben: Diese Szenen aus dem Holocaust bewegen sich an der
Grenze des Vorstellbaren. Doch ihre Botschaft knüpft an das
an, was dieser Essay eingangs behauptete: Ja doch! In Auschwitz und
Buchenwald haben tatsächlich Menschen gelebt. Wirklich und
wahrhaftig. Wenn wir den Häftlingen dieses Mensch-Sein mit der
handelsüblichen Betroffenheitsrhetorik absprechen, dann nehmen
wir ihnen das Letzte, was sie gehabt haben. Und wer das Schicksal
beschwört, um das KZ in eine erzählbare Form zu bringen,
der unterschlägt die Realität jedes einzelnen Schrittes,
den die Menschen dort gemacht und gelebt haben. Schlimmer noch: Mit
der Schicksalsgegebenheit der Opfer etabliert man auch die
Schicksalsgegebenheit der Täter. Es liegt aber
ausschließlich an uns selbst, die vielen kleinen Schritte zu
tun, die Auschwitz in Zukunft verhindern. Viele Deutsche sind
Hitler nicht nur einfach ohnmächtig gefolgt. Sie sind aktiv
mit ihm gegangen. Schritt für Schritt. Und solange wir keine
Sensibilität für diese Schritte entwickeln, bleibt
Auschwitz eine aufdringliche Gegenwart. Kertész hat mit dem
ungeheuerlichen Versuch, vom „Glück der
Konzentrationslager“ (S. 287) zu erzählen, dieser
Erkenntnis die Bahn gebrochen.

Quelle: Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen. Aus dem
Ungarischen übersetzt von Christina Viragh, Hamburg 1998.

Der Essay ist ein Kapitel aus dem entstehenden Buch-Projekt
„Szenen aus dem Holocaust“. Anfragen von interessierten
Verlagen sind willkommen.