Armin Paul Frank: Die Sehnsucht nach den unteilbaren Sein
München 1973 (Wilhelm Fink Verlag)

Buchbesprechung anlässlich des Kolloquiums "T.S. Eliot", WS 1988/89, Universität Stuttgart. Leitung: Prof. Dr. H.U. Seeber

1. Die Biographie einer Kritik

Der Untertitel: "Motive und Motivation in der Literaturkritik T. S. Eliots" gibt Aufschluß über Ansatz und Methode der Arbeit Franks. Das "Motiv" ist der Schlüsselbegriff seiner Interpretation. Es ist definiert als "eine kennzeichnende lokale Konstellation bedeutungsvoller Details in einem Werk (…)". (S.15) "Motiv" als Begriff der Literaturwissenschaft ist ein menschlich typisches, ein repräsentatives Moment in einem Handlungsgefüge. Es hat vor allem dynamischen Charakter (movere = bewegen). Denn so sehr ein Motiv die Handlung auf einen Punkt bringt und sie konzentriert, so sehr treibt es sie auch voran. Das Motiv ist eine sorgfältig erzeugte und stilisierte Situation, die Spannung aufbaut, zugleich aber zur Auflösung eben dieser Spannung drängt. Der entschieden dynamische Charakter dieses Begriffs zeigt sich außerdem darin, daß ein Motiv meist auf vorausgegangene Motive zurückweist und weitere Motive nach sich zieht. In diesem Fall ist von "Motivation" die Rede. Dieses Wort bezeichnet den "progressiven Aspekt der Handlungsverknüpfung". (ibid.) Die Untersuchung der Motivation kann also ein Geflecht bedeutsamer Handlungsmomente freilegen, das Rückschlüsse auf die Gesamtstruktur des Werks zulässt. Aus diesem Grund empfehlen Kritiker wie Wellek und Warren die Motivation als ein brauchbares Instrument für die Analyse eines "plot", eines Handlungsverlaufes in epischer und dramatischer Dichtung.
Frank reflektiert den Begriff "Motiv" aber auch noch auf einer anderen semantischen Ebene, indem er die psychologische Bedeutung des Wortes hervorhebt. In diesem Sinn ist das Motiv generell ein "zur Handlung drängender Impuls". (ibid.) Die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs lassen allerdings eine überraschende Querverbindung zu:

Da ein psychologisches Motiv die Antwort auf eine Situation "im Leben" darstellt und sich, wenn diese Antwort formuliert wird, auch in einem literarischen Motiv niederschlagen kann, bezeichnet der Terminus selbst eine Brücke zwischen "Leben" und "Literatur". (S. 15)

Jedoch verwahrt sich Frank dagegen, etwa "ein Psychogramm" des Kritikers Eliot anzustreben. Vielmehr konzentriert er sich auf die von Eliot publizierten Aufsätze und Essays. Freilich macht er sich dabei den dynamischen Charakter seiner Schlüsselbegriffe methodisch zunutze: So betont er vor allem den "evolutionären Aspekt eines kritischen Lebenswerkes". (S. 16) Außerdem behält er sich die Möglichkeit vor, "... der Wechselwirkung zwischen dem ‚werkimmanenten' (intrinsic) Bereich und einer Dimension des ‚außerliterarischen' (extrinsic) Bereichs auch terminologisch Rechnung zu tragen". (ibid.)
Dieser methodische Ansatz hat gewichtige Konsequenzen. Er enthält eine deutliche Absage an das moderne Theorieverständnis. Edmund Husserl zitierend, umschreibt Frank diese Auffassung wie folgt:

Theorie im prägnanten modernen Sinn ist "eine systematische Verknüpfung von Sätzen in der Form einer systematisch einheitlichen Deduktion." (S. 16)

Wer unter dieser Voraussetzung Eliot interpretieren wolle, der scheitere zwangsläufig an seinen Widersprüchen:

Solche Bemühungen machen Entschuldigungen der Art notwendig, daß von Eliot eine allzu große Konsequenz der Theorie nicht verlangt werden dürfe - warum eigentlich nicht? (ibid.)

Franks methodische Prämisse geht also davon aus, dass Eliots Begriffe, seine kritischen Aussagen und Formeln

...nicht als Blöcke angesehen werden dürfen, die zu einer im Theoretischen begründeten dialektischen Pyramide aufgeschichtet sind, sondern als Momente eines sich in der Zeit entfaltenden, auf innere und äußere Veränderungen reagierenden und sich selbst wandelnden offenen Systems. (S. 12)

Beabsichtigt ist also nicht eine Biographie des Kritikers Eliot, sondern eine "Biographie der Kritik" (S.12) selbst. Der Versuch, Eliots Leistung als Kritiker unter dem Aspekt einer dynamisch-progressiven Entwicklung nachzuvollziehen, soll keineswegs über tatsächliche Widersprüche Eliots hinwegtäuschen; Widersprüche, die weder durch die Fehleinschätzung seines Werks als einheitliches System, noch durch ideologische Verzerrungen des Interpreten erklärbar sind. Genau an diesem Punkt kommt die Brückenfunktion, die das Motiv zwischen Leben und Literatur einnimmt, zum Tragen:

...solche Widersprüche sind treffende Indizien für tiefliegende persönliche Probleme und Präokkupationen des Kritikers und geben daher Aufschluß über Motivationskerne seines Kritisierens. (S. 26)

Die Psychologie soll demnach allenfalls dunkle Stellen von Eliots Kritik beleuchten - dort, wo er sich offenkundig widerspricht und seine eigene Terminologie Lügen straft. "In vielen Fällen", so Frank, "wird es sich dabei zeigen,(...), daß viele seiner Essays Versuche sind, einen neuen Standpunkt zu erreichen". (S.32)
Die Auffassung von Eliots Kritik als lebendiges "offenes System" mißt dem jeweiligen Kontext seiner Äußerungen besonders viel Gewicht bei. Und nicht nur der Text als Ganzes fordert Aufmerksamkeit, sondern auch die Frage: "Welche Handlung vollzieht der Sprecher mit seiner Äußerung?" (S. 31) Das heißt: In welcher Situation befindet er sich? Gibt es einen Zusammenhang zwischen literarischen und persönlichen Motiven?
Dies ist die formale Seite von Franks methodischem Ansatz, sein Versuch, die "Biographie einer Kritik" anzugehen:

Diesen Zusammenhängen von fließenden Übergängen und Stasis, von growth and structure, von évolution et structure auch bei der Analyse von Eliots Literaturkritik schon vom terminologischen Ansatz her Rechnung zu tragen, ist Aufgabe der Schlüsselwörter "Motiv" und "Motivation." (S. 15)

2. Die philosophische Aushangslage

Der formale Ansatz von Franks Methode wird inhaltlich von philosophischen Überlegungen ergänzt. Eliots Dissertation Experience and the Objects of Knowledge in the Philosophy of F. H. Bradley entstand in den Jahren 1911-16. Sie wurde von der Harvarduniversität als schriftliche Promotionsleistung anerkannt. Eliot versäumte es jedoch, in die Staaten zurückzukehren, um sich durch eine mündliche Disputation den Doktorgrad offiziell zu erwerben. Um diesen Tatbestand ranken sich die wildesten Gerüchte. Franks Hypothese gibt sogleich Aufschluß über den methodischen Stellenwert, den er der Philosophie im Denken Eliots zuweist: Es sei doch höchst verwunderlich,

...daß ein ausgezeichneter Doktorand, der bereits zwei Jahre lang an seiner Heimatuniversität eine Assistentenstelle wahrgenommen hatte, und dem eine Laufbahn als Philosophieprofessor offenstand, statt dessen im Ausland schlecht bezahlte Stellungen als Lehrer und später als Bankangestellter annahm, um daneben bis in den physischen Zusammenbruch hinein an einem neuen poetischen Stil zu arbeiten und sich in einer Vielzahl von Rezensionen und kritischen Schriften für ihn einzusetzen. (S. 37)

Seine Schlußfolgerung präsentiert Frank in Form einer rhetorischen Frage:

Könnte es sein, daß Eliot daran verzweifelte, in der Philosophie das zu finden, was er darin suchte, während er in der Dichtung das zu finden hoffte, was ihn die Philosophie zu suchen gelehrt hatte? (S. 38)

- "...was ihn die Philosophie zu suchen gelehrt hatte": Das heißt, die philosophische Ausgangslage im Denken Eliots müßte bestimmend sein für seinen Werdegang als Dichter und Kritiker. Die Ableitung von Eliots kritischer Methode aus seinem Studium der Philosophie versucht Frank ausführlich nachzuweisen.

a) Francis Herbert Bradley (1846 - 1924)

Bradley ist eine philosophische Ausnahmeerscheinung: Er ist Engländer und Metaphysiker. Zwar haftet seinem Denken ein beträchtlicher Teil des englischen Empirismus an; doch kann er nicht minder in der Nachfolge Hegels und des deutschen Idealismus interpretiert werden. Bradley hat seine Philosophie jedenfalls deutlich gegen Pragmatiker, Positivisten und Utilitaristen abgegrenzt. Gegen Denkweisen also, die Metaphysik als Erfahrungstatsache leugnen oder vehement ihren Nutzen bestreiten. Frank interpretiert Bradley als geistigen Mentor T. S. Eliots und versucht zunächst, die Grundbegriffe dieses Philosophen und seine Denkweise aufzuzeigen.

b) Skepsis und relationales Denken

Im Werk Bradleys findet sich viel Skepsis, obgleich er kein regelrechter Skeptiker ist. Im "Preface" zu "Appearance and Reality" (1893, dt. 1928) stellt er ausdrücklich klar, daß absolute Skepsis eine unreflektierte, ja selbst schon eine metaphysische Position sei. Der dogmatische Skeptiker schließt von der Tatsache, daß metaphysische Sätze nicht mit wissenschaftlicher Stringenz bewiesen werden können, auf ihre Nichtigkeit. Er macht Sein oder Nichtsein von Erkennbarkeit abhängig. Der "Skeptiker" wendet demnach seine Skepsis nicht auf die Methode der Skepsis selbst an.
Bradley dagegen ist ein methodischer Skeptiker: Er akzeptiert erst das allerletzte Glied einer Fragenkette als These, die vorläufig Gültigkeit beanspruchen darf. Wird sie durch einen neuen Einwand umgeworfen, so geht er getrost einen Schritt weiter und bleibt auch bei der korrigierten These skeptisch stehen usf. "Für Bradley und Eliot", so Frank, "führt Philosophie nicht zur letzten Erkenntnis". (S. 40)

Die skeptische Methode begründet Bradley erkenntnistheoretisch. Ausgangspunkt ist hierbei seine Kritik am Empirismus. Dessen Voraussetzung besteht in der (von Descartes übernommenen) Aufspaltung der Erkenntnisgrundlagen in res cogitans (denkendes, "subjektives" Bewußtsein) und res extensa (die angeschaute Erfahrungswelt mit ihres ausgedehnten "Objekten"). Im Bewußtsein des denkenden Subjekts werden die durch Erfahrung gewonnenen Eindrücke ("impressions") zu einer Idee ("idea") geformt. Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist somit die Erfahrung, die Empirie. Und das erkennende Bewußtsein wird als tabula rasa aufgefaßt: "No innate ideas!" (John Locke)
Diese traditionelle Denkform des Empirismus akzeptiert auch Bradley. Die Wahrnehmung ("perception") von Erfahrung gilt ihm als Erkenntnisgrundlage. Was in unserem Bewußtsein dabei zustande kommt, nennt er eine durch ein Zeichen ("Symbol" oder "Sign") repräsentierte Abstraktion (statt "Idea" wie bei Locke). Die Beziehung von Subjekt und Objekt jedoch, auf der alle Erkenntnis gründet, stimmt Bradley skeptisch: Liegt dem Vorgang, der sich beim Erkennen zwischen reflektierendem Bewußtsein und angeschauter Erfahrung vollzieht, eine reale Beziehung zugrunde? Wird die Wirklichkeit durch die Relation Subjekt-Objekt wahrhaftig erfaßt? Bradleys Antwort fällt vernichtend aus:

Der Grundgedanke ist die Einsicht, daß alle erkannten Fakten und Relationen durch ihren Kontext determiniert, konditioniert, und daher letztlich konditional sind. (S. 43)

Unsere abstrakte Erkenntnis bleibt immer standortgebunden, sie ist immer bedingt. Das Bedingte aber kann das Un-Bedingte (sprich: "das Absolute") nicht erkennen. Absolute Erkenntnis ist theoretisch nur einem Bewußtsein möglich, das in der Lage wäre, vom Standpunkt der Ewigkeit aus zu denken: sub specie aeternitatis, wie Bradley sagt. Diese Perspektive jedoch, die das Ganze, die Summe alles dessen, was war, ist und sein wird zu überschauen vermag, ist dem Menschen nicht möglich. Er bleibt beschränkt auf relationales Denken, auf die abstrakte Welt der "appearances". Und für seine praktischen Lebenszwecke reicht das gerade hin. Erkenntnis der Wirklichkeit ("reality"), Erkenntnis des unteilbaren Seins jenseits aller Relationen bleibt seinem abstrakten Raisonnement verschlossen. Sein gesamtes Denken beruht auf der Relation Subjekt-Objekt, kann demnach nur relational sein und eine abstrakte Scheinwelt konstruieren.

c) Unmittelbare Erfahrung

Die umfassende Skepsis Bradleys erschöpft sein Denken nicht. Es kennt eine Gegenbewegung. So kündet sich schon kontrapunktisch, als Gegenzug zur entmutigenden Einsicht in die relationale Scheinwelt alles Denkens, der Gedanke des "Absoluten" an. "Das unteilbare Sein" ist die Folie, auf deren Hintergrund sich die Unzulänglichkeit relationalen Denkens erst deutlich abzeichnet. Auch die theoretisch, wiewohl nicht menschlich mögliche Vorstellung eines Denkens sub specie aeternitatis deutet in diese Richtung.
Die Theorie, nach der Sein und Wirklichkeit als "unteilbar" verstanden werden - also frei vom Makel der Relationen - war Bradley besonders durch Hegel vermittelt worden. Hegel philosophierte sub specie aeternitatis, das Absolute gehört zu seinem Standardvokabular. Das ungeteilte Absolute gibt sich kund in den Relationen, und es kehrt in einem langwierigen Prozeß der Selbstvermittlung kreisförmig in sich selbst zurück. Das Absolute ist somit Anfang und Ende aller Entwicklung zugleich und in Eins. Bradley war mit diesem Grundgedanken idealistischer deutscher Philosophie vertraut. Seine Skepsis hindert ihn daran, ihn ohne Vorbehalt zu übernehmen: Er bezieht den Gedanken des unteilbaren Seins strikt auf die Position des Menschen und schränkt ihn empirisch ein. Unter diesen Bedingungen konstruiert er den Begriff einer "immediate experience", einer ursprünglichen "unmittelbaren Erfahrung":

In the beginning there is nothing beyond what is presented, what is and is felt, or rather is felt simply. There is no memory or imagination or hope or fear or thought or will, and no perception of difference or likeness. There are, in short, no relations and no feelings, only feeling.(...) There is nothing beyond presentation.
(F. H. Bradley, Collected Essays (repr. 1969), S. 216, 220-221)

Ursprünglicher Zustand des Bewußtseins ist unmittelbare Erfahrung:

All is feeling in the sense, not of pleasure and pain, but of a given whole without relations... (ibid.)

An diesem Punkt seiner Theorie gerät Bradley in ein Dilemma. Da er einerseits einen absoluten Bewußtseinszustand postuliert, also das Hegelsche Denkmodell übernimmt; andererseits aber an dem Dualismus des Descartes, an der Scheidung der Erkenntnis in subjektives Bewußtsein und objektive Gegenstandswelt unverändert festhält: so versucht er unvereinbare Prämissen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Das Absolute läßt polar aufeinander bezogene Gegensätze zu, aber keineswegs einen rigorosen Dualismus. Eine durchgehende Trennung der Welt in Innen und Außen, in Subjekt und Objekt ist ihm fremd. Das Absolute hebt die Gegensätze in letzter Instanz auf. Der Dualismus hingegen setzt die Gegensätze selber absolut.
Bradleys Erläuterungen zur "immediate experience" sind dementsprechend gewunden und widersprüchlich. Wenn er von einem "given whole without relations" spricht, dann verbirgt sich hinter der passivischen Wendung "given" der Adressat, der, dem gegeben wird: das Subjekt. Dadurch entsteht zwangsläufig eine Relation.
Bradley betont die unmittelbare Erfahrung als "Prinzip" ("In the beginning"). Im Zentrum seiner Überlegungen steht offenbar das Interesse am Prozeß, den das Bewußtsein beim Erkennen durchläuft. Auch ist in diesem Zusammenhang eine empirisch abgeschwächte Form des Hegelschen Modells einer Selbstvermittlung des Absoluten tendenziell erkennbar: Im Prozeß des Erkennens geht das unteilbare Sein in relationale Sprache über:

In einem jedem Erkenntnisakt erhebt sich ("emerges") gewissermaßen der Gegenstand der Erkenntnis aus dem ungeteilten, überpersönlichen Bereich der "unmittelbaren Erfahrung", des "Fühlens". Er wird im Verlauf des Denkprozeßes in sich und in bezug auf andere Gegenstände immer mehr differenziert, so daß die internen und externen Relationen aus dem Oberflächlichen und Zufälligen immer mehr ins Wesentliche und Notwendige übergeführt werden. (S. 48)

Hier wird die dialektische Bewegung des Absoluten nur in einer Momentaufnahme eingefangen und auf den Erkenntnisprozeß des menschlichen Bewußtseins begrenzt. Die Vermittlung des Absoluten zu sich selbst wird ausgespart. Die gezielte Hervorhebung des Erkenntnisprozesses fördert ein weiteres dialektisches Moment zutage: Im Bewußtsein können Denken und Fühlen keine vollständig getrennten Größen sein. Nie ist Fühlen ganz rein vom Denken, nie Denken ganz rein vom Fühlen:

In any emotion one part of that emotion consists already of objects, of perceptions and ideas before my mind (...). There are features in the feeling.
(F. H. Bradley, Essays on Truth and Reality (1914), S. 196.)

Das bedeutet aber, daß Bradley sein "Prinzip" der unmittelbaren Erfahrung nicht nachweisen kann, da Fühlen immer von relationalem Denken durchsetzt ist. Bradleys Suche nach dem unteilbaren Sein endet mit einem skeptischen Ausblick auf Philosophie überhaupt.

d) Die ästhetische Dimension

Da die sogenannten "Dates and Facts" relationale Scheinprodukte unseres abstrahierenden Gehirns sind; da "Wirklichkeit" im Denkprozeß allein als "Appearance" auftritt, so zieht Bradley die Schlußfolgerung, daß eine Denkweise, die bemüht ist, Fühlen wie Intellekt gleichermaßen einzubeziehen, dem unteilbaren Sein, der unmittelbaren Erfahrung wesentlich näher kommt. Also gerade Bereiche des menschlichen Bewußtseins wie Fiktion oder Kunst, die sinnliche und intellektuelle Wahrnehmungen aufeinander beziehen, könnten eine gehaltvollere und wirklichere Basis haben als die sogenannten Fakten einer nüchternen abstrakten Tatsachenwelt:

...there comes in principle an end to the worship of abstractions, abstractions of the school or of the market-place. And there comes the perception that prose and facts may be fanciful in a more extravagant and in a lower sense than poetry or art.
(Essays on Truth and Reality (1914), S. 445-446)

Bradleys Denken also wird erweitert durch eine ästhetische Dimension. Seine Skepsis richtet sich bevorzugt gegen die Philosophie selbst. Dies alles fügt sich vortrefflich in Franks These von Eliots gestörtem Verhältnis zur Philosophie:

Mit einer vorsichtigen Geste entläßt Bradley seine Schüler, deren mögliche Verzweiflung er vorausgesehen hat, aus dem Bereich der Metaphysik in den der Dichtung und der Kunst. (S. 51)

e) Eliots Dissertation

Der hohe Stellenwert, den Bradleys Philosophie im Denken Eliots einnimmt, erweist sich darin, daß er ihre grundlegenden Prämissen anerkennt. Zum einen die Konzeption einer unmittelbaren Erfahrung, ein auf das unteilbare Sein ausgerichtetes Denken; zum andern die Vorstellung, daß Denken und Fühlen untrennbar aneinander teilhaben:

No experience is self-consistent, because of the ideal aspects with which it is shot through.
(T. S. Eliot, Knowledge and Experience in the Philosophy of F. H. Bradley (1916, publ. 1964), S. 28)

Diesem Ansatz entsprechend geht auch Eliot der erkenntnistheoretischen Frage nach, wie Subjekt und Objekt aus dem ursprünglich einheitlichen Fühlen hervorgehen. Seine abstrakten Lösungsversuche sind wie die Bradleys zum Scheitern verurteilt. Denn auch Eliot behauptet ja, daß im menschlichen Bewußtsein reines Fühlen nicht isolierbar und relationales Denken immer präsent ist. So folgert er auch konsequent, daß Bradley, seinen eigenen Prämissen zufolge, unmittelbare Erfahrung als "unwirklich" hätte qualifizieren müssen, als "appearance". Da unser Bewußtsein relationales Denken nicht überwinden kann, geht Eliot einen entscheidenden Schritt weiter:

Das heißt aber für Eliot - und damit führt er einen Gedanken ein, der bei Bradley meines Erachtens nicht zu finden ist -, reales Fühlen ist außerhalb der Zeit; denn innerhalb des Zeitlichen gibt es keinen Standpunkt, von dem aus reales Fühlen erkannt werden kann. Unmittelbare Erfahrung ist die einzige allumfassende Realität und als solche "a timeless unity which is not as such present either anywhere or to anyone". (ibid., 30-31.)

Bereits in Eliots frühem Denken wird eine religiöse Komponente sichtbar. Da erst der zeitlose Bewußtseinszustand zur Erkenntnis der "Wahrheit" durchdringen kann, finden sich Wesen und Wirklichkeit des Lebens in der "Transzendenz". Wohingegen Bradley nur eine Annäherung an die unmittelbare Erfahrung lehrte und das unteilbare Sein als theoretisches Postulat auffaßte.
Die Vorstellung einer absoluten Wirklichkeit als zeitlose unmittelbare Erfahrung, als Transzendenz, führt Eliot zu folgender Bewertung der bloß immanenten, zeitlichen Existenz, der relationalen Scheinwelt des menschlichen Bewußtseins überhaupt:

By the failure of any experience to be merely immediate, by its lack of harmony and cohesion, we find ourselves as conscious souls in a world of objects. (ibid., S. 31)

Mit anderen Worten: Der menschliche Geist ist vom Absoluten abgefallen, sein Dasein ist geteilt. Weiter heißt es:

And if anyone assert that immediate experience, at either the beginning or the end of our journey, is annihilation and utter night, I cordially agree. (ibid., 31.)

Hieran läßt sich erkennen, daß durch Eliots transzendente Position die Hegelsche Dialektik des Absoluten wieder ungehindert funktionieren kann. Die Reisemetapher fügt Anfang und Ende in Eins zusammen. Die Reise selbst bringt den Prozeß der Selbstvermittlung des Absoluten zum Ausdruck. Das "Absolute" wird definiert als "annihilation and utter night". Diese Bestimmung ist notwendig negativ. Da abstrakte Definitionen relational sind und damit dem zeitlichen Bewußtsein angehören, so läßt sich das Absolute nur als totale Negation eben dieses zeitlichen Bewußtseins "definieren".
Eine wichtige These, die sich aufstellen läßt, stimmt erneut mit Franks Überlegungen zum "Philosophen" Eliot überein: Philosophie ist nach Eliot ein abstraktes Produkt unseres zeitlichen Bewußtseins. Die Wirklichkeit erschließt sich nur dem Erleben des ganzen Menschen. Eliots Denken nimmt eine "existentialistische" Wende. Er fordert die Distanz zur Abstraktion, ihre konstruktive Überwindung.
Diese Forderung ist keineswegs gleichzusetzen mit romantischer oder mystischer Abstraktionsfeindlichkeit. Anhand von Eliots Wirklichkeitsbegriff wird das deutlicher: Der Gedanke Bradleys, wonach Poesie einen höheren Wirklichkeitsgrad haben könnte als empirisch gegebene Tatsachen, ist Eliots Ausgangsposition. Die Begründung lautete ja, daß eine Form des Denkens, die auch das Gefühl, körperliches Empfinden sowie sinnliche Wahrnehmung umfaßt, der unmittelbaren Erfahrung jedenfalls näher kommt, als blutleere Abstraktion leisten kann. Da Eliot nun die unmittelbare Erfahrung überhaupt in die Transzendenz verlegt und vom zeitlichen Bewußtsein ausgeschlossen hat, stellt sich ihm die Frage nach der Wirklichkeit noch wesentlich radikaler.
Zunächst legt er größten Wert darauf, abstraktes Denken in die Schranken zu verweisen. Wie Bradley betont er vor allem das dialektische Moment von Gegensätzen:

Alle normalerweise als antithetisch angenommenen Begriffe sind in Wirklichkeit durch reziproke Teilhabe aneinander rückgebunden. (S. 58)

Dies bezeichnet den ersten Schritt, das unteilbare Sein in der Existenz, nicht in abstrakter Begrifflichkeit zu suchen. Logische Abstraktion trennt und zergliedert, was nur als Ganzes lebt und erfahren werden kann:

Für Eliot lösen sich also Theorie und Praxis, Denken und Handeln, Wissen und Fühlen, Geistigkeit und Physikalität in einem alles umfassenden Bereich der Kontemplation auf. (S. 59)

Der kontemplative Blick auf das Dasein vermag natürlich nicht die Tatsache zu beseitigen, daß menschliches Bewußtsein relational ist und zeitlich bedingt bleibt. Verstand und Kritik, Analyse und Abstraktion können und sollen nicht aus dem Bewußtsein verdrängt und ausgetrieben werden. Eliot geht es darum, analytische Kritik schöpferisch nutzbar zu machen, ihre zergliedernde Tendenz in einen lebendigen Denkprozeß einzubinden. Analyse kann Wahrnehmungen überschaubar strukturieren, und diese Strukturen können in eine Ordnung überführt werden. Im Zentrum dieser Ordnung steht das schöpferische Bewußtsein, an dem Kritik, Verstand, Gefühl und Sinnlichkeit beteiligt sind: Es ist der ganze konzentrierte Mensch. Nach Eliot strahlt ("radiates") dieses lebendige Zentrum Kraft aus, die sich empirische Daten und Fakten selektiv aneignet, sie kombiniert, assoziiert, strukturiert usf. Die eigentliche Ordnung kommt dabei nur zustande, wenn das Zentrum einen einheitlichen Gesichtspunkt konsequent durchhält. Das schöpferische Bewußtsein ist demnach ein Medium, das die unwirkliche Welt der Fakten in die eigentliche Wirklichkeit erst überführt. Schöpfung versucht, die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein zu verwirklichen. Der Wirklichkeitsbegriff Eliots steht in direkter Beziehung zum künstlerischen Schaffensbegriff:

Wenn ein literarisches Werk ein geschlossenes System mit einem einheitlichen Gesichtspunkt (ein Waste Land mit einem Tiresias) ist, also eine Struktur oder ein "organisches Ganzes", in dem alle Teile zueinander passen, dann ist es für Eliot, den Kritiker, wirklich. (S. 56-57.)

Kritik und künstlerische Gestaltung, Abstraktion und Poesie schließen sich nicht gegenseitig aus. Wirklichkeit im Sinne Eliots ist ein "von einem bestimmten Gesichtspunkt aus gesehenes, zusammenhängendes System". (S. 56.) Und innerhalb dieses Bezugssystems kann abstrakte analytische Kritik schöpferisches Potential entfalten. Der poeta doctus, der gelehrte kritische Dichter, erhält gerade wegen seiner analytischen Begabung ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten. Die Kritik, die häufig als ein Gegenpol zur künstlerischen Produktion interpretiert wird, zählt bei Eliot zum Handwerk des Dichters.

f) Logik der Imagination

Die herkömmliche, am Leitfaden der Kausalität entwickelte Logik des Aristoteles wird bereits von F. H. Bradley als relationale Scheinwelt demaskiert. Mit seinem auf den Prozeß der Imagination aufbauenden Wirklichkeitsbegriff bleibt Eliot der entscheidende Schritt vorbehalten: Er löst die traditionelle Logik durch eine "Logik der Imagination" ab. Das Weltbild des Aristoteles wird nicht minder erschüttert als beispielsweise das Weltbild Newtons in der theoretischen Physik. Ein statisches, dreidimensionales, kausal geordnetes Denken wird der Dynamik einer "modernen" Welt offenbar nicht mehr gerecht.

3. Angewandte Philosophie

Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Philosophie hat sich Eliot, so Frank, von dieser Disziplin losgesagt. Doch hat sie dem jungen Kritiker den Blick auf das Ganze des Daseins gelehrt: Die "unmittelbare Erfahrung", der Begriff einer Wirklichkeit als "imaginatives" System, die skeptische Distanz zum "relationalen" Scheindenken bloßer Abstraktion sind die greifbaren Ergebnisse. Sie bilden zusammen wesentliche Grundlagen alles weiteren Dichtens und Denkens. Und bereits im ersten Kapitel formuliert Frank die Arbeitsgrundlage seines umfangreichen Buches wie folgt:

Die "Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein" benennt das Zentralmotiv von Eliots Kritik - und seinem Gesamtwerk - in seiner Herkunft aus F H. Bradleys erkenntnistheoretischer Metaphysik (...). (S. 12)

Trifft die These Franks zu, dann hat Eliot seine philosophischen Erfahrungen auf seine Tätigkeit als Kritiker übertragen. Die Kritik Eliots müßte demnach als angewandte Philosophie interpretierbar werden.

Die detaillierte Demonstration dieser These bildet den Hauptteil des Buches. Frank bietet viel Material, zahlreiche Exkurse und penible Auslegungen nahezu aller relevanten Essays Eliots. Aus Gründen der Klarheit und Übersicht ziehe ich deshalb ein repräsentatives Beispiel heran, das die von Frank entwickelte Methodik in ihrer praktischen Anwendung veranschaulichen kann.

4. The Perfect Critic (1920)

Titel wie Inhalt dieses frühen Essays haben programmatischen Charakter. Das Ideal des vollkommenen Kritikers, das Eliot entwirft, läßt wichtige Rückschlüsse auf die Grundlage und Zielsetzung seiner Kritik zu. Frank versucht deshalb, seinen Interpretationsansatz an diesem Beispiel konsequent zur Geltung zu bringen. Dabei orientiert er sich an den drei Kritikertypen, die Eliot skizziert.
Zunächst ist von dem "abstrakten" Kritiker die Rede. Dieser definiert die Poesie als die "am höchsten organisierte Form intellektueller Betätigung" (Übersetzung Franks). Eliots souveräner Einwand lautet: Diese Definition lasse sich zwanglos auch auf andere Disziplinen übertragen, etwa auf die reine Mathematik, die gleichfalls eine am höchsten organisierte Form intellektueller Betätigung sei. Da sie also keineswegs das Spezifikum dessen herausarbeitet, was Poesie ausmacht und von den übrigen Erscheinungsformen des Geistes abgrenzt, ist die Formel null und nichtig. Der Definitionsversuch des abstrakten Kritikers, so Eliot, entspringe vielmehr einer subjektiven Vorliebe für Abstraktionen, letztlich einer kritisch irrelevanten Privatemotion. Die subjektive Gefühlslage verführe diesen Kritikertypus dazu, bloße Wortgespinste zu entwickeln. Er sehe vom eigentlichen Gegenstand ab. Er spreche nicht von einer Sache, sondern nurmehr "über" Sachen. Und für diese Manier macht Eliot vor allem den enormen Wissenszuwachs seit dem 19. Jahrhundert verantwortlich.
Eliots Argument, wonach die Einstellung, ausschließlich mit abstrakter Begrifflichkeit an Kunstwerke heranzutreten, als Zeichen für eine subjektive Vorliebe zu deuten sei, birgt freilich ein überraschendes Moment: Wie kommt es, daß ausgerechnet der kühle abstrakte Umgang mit Kunst nicht als ein Bemühen um wissenschaftliche Objektivität, sondern als unausgereifte Privatemotion interpretiert wird? - An diesem Punkt kommt das von Frank erarbeitete philosophische Instrumentarium erstmals zur Anwendung: Eine plausible Erklärung könne dem Schlüsselbegriff "perception" entnommen werden, mit dem Eliot in diesem Essay operiert. Der Begriff ist eine Anleihe aus der traditionellen Terminologie des Empirismus. Wahrnehmung bedeutet hier von vornherein, daß sinnliche und intellektuelle Tätigkeit aufeinander bezogen sind. Die Erfahrung ist Ausgangspunkt aller Erkenntnis, sie erst liefert die anschaulichen Daten, ohne die der Verstand nur leere Spekulation betreibt. Wer dabei, wie Bradley und Eliot, seine Aufmerksamkeit gezielt auf den Prozeß des Erkennens richtet, wird nicht umhinkönnen, sinnliche Wahrnehmung und abstraktes Denken als untrennbaren Vorgang, als Komplementärerscheinungen anzusehen. Dieser philosophische Zusammenhang erlaubt es Eliot, die Fixierung des Kritikers auf Abstraktionen als subjektive Vorliebe selbstbewußt zu kennzeichnen; nicht etwa aus psychologischer, sondern aus erkenntnistheoretischer Reflexion heraus.
Der philosophische Hintergrund, obgleich er von Eliot nicht explizit dargelegt und erst aufgrund der Analyse von Schlüsselwörtern nachweisbar wird, ist auch für weitere kritische Aussagen die treibende Kraft. Wenn Eliot den abstrakten Kritiker ablehnt, so spricht sich darin nur seine Antipathie gegen relationales Scheindenken und einseitige Perception aus. Seine Forderung dagegen, den Gegenstand der Kritik, das Kunstwerk, wieder in das Zentrum des Betrachters zu rücken, stellt bereits eine kritische Weiterbildung seiner philosophischen Grundlagen dar. Die Denkform des Empirismus, die Eliot studiert hatte, fordert eine radikale Korrektur der Wahrnehmung: Der Gegenstand selber, seine Ordnung, Struktur und Komposition soll in der Kritik deutlich herausgearbeitet werden. Und der Kritiker soll das Kunstwerk nicht seiner Theorie gefügig machen, er soll dessen ideale Ordnung ("ideal order") nur aufzeigen, das abstrakte Werturteil aber dem Leser überlassen.
Immanente Literaturkritik, wie sie der New Criticism in Anlehnung an Eliot entwickelt hat, könnte demnach als Ableitung aus dem Empirismus, als entfernter Ausläufer dieser Denkform aufgefaßt werden: Ausgangspunkt sind empirische Daten - das Kunstwerk. Es gibt nur das empirische Objekt und die darauf streng ausgerichtete ldeenbildung des Betrachters - nur Kunstwerk und Kritiker.
Für Eliot erhebt sich bei alledem die Frage, wie ein Kritiker beschaffen sein sollte, der dieser korrigierten Wahrnehmung gerecht werden will. Zunächst wendet er sich dem Gegentyp zum abstrakten Kritiker zu, dem "impressionistischen" Kritiker. Dieser bevorzugt den persönlichen Eindruck. Sein kritisches Verfahren besteht letztlich darin, die bei der Rezeption entstehenden Gefühle möglichst rein und exakt wiederzugeben. Aber diese Methode rückt ebenfalls vom gegebenen Kunstwerk ab. Auch die gewissenhafteste Aufzeichnung von Gefühlseindrücken ist schon Deutung und Interpretation. Denn der kritische Text ruft ja selber sekundäre Gefühlseindrücke hervor, und diese haben nicht notwendig etwas mit dem Original zu schaffen:

Empfindung ist für Eliot das, und nur das, was ein Gegenstand - in diesem Fall ein sprachliches Kunstwerk - als solcher im Beobachter - und in jedem Beobachter gleich - hervorrufen soll; in diesem Sinne ist sie "impersonal" oder "objektiv". (S. 64)

Gefühle dagegen sind personal. Sie nehmen den eigentlichen Gegenstand nicht wahr. Sie sind subjektive Konstruktion und beeinträchtigen das Handwerk des Kritikers nicht weniger als abstrakte Konstruktion.
Im folgendem weist Frank gezielt auf einen Widerspruch Eliots hin: Er verwandte den philosophischen Begriff "Perception", um den abstrakten Kritiker zu diskreditieren. Damit aber hat er sich einer polaren Denkweise verschrieben, in der scheinbare Gegensätze wie Denken und Fühlen in untrennbare Komplementärbegriffe aufgelöst werden. Bei der Abweisung des impressionistischen Kritikers dagegen stellt er eindeutig einen Dualismus auf. Eliot spaltet die komplexe Gefühlswelt rigoros in eine reine Kunstemotion und bloß subjektives Fühlen auf. Er bedient sich somit zweier völlig konträrer Formen des Denkens. Die Rezeption eines Kunstwerks ist nur ein Sonderfall von Perception überhaupt. Das subjektive Gefühl des Kritikers ist in diesem Prozeß von der reinen Kunstemotion sowenig zu trennen wie das abstrakte Denken von der sinnlichen Wahrnehmung des Gegenstandes.
Franks Deutung dieses Widerspruchs zeigt exemplarisch die Anwendung des Schlüsselbegriffs "Motiv", die er im formalen Teil seiner Methodik ankündigte. Danach verweisen Widersprüche im Werk eines Autors auf dessen persönliche Motive (s. Abschnitt 1). Hier gilt es nun, die Brückenfunktion des Begriffes "Motiv" zwischen Leben und Literatur kritisch zu nutzen. Die methodische Leitfrage lautet: Welche Handlung vollzieht der Verfasser mit seinem Text, in welchem Situationszusammenhang befindet er sich? Derart entwickelt Frank seine Motivationsanalyse:

Eliots kategorische, allzu simplistische Unterscheidung in nur vom Kunstwerk herstammende Empfindung und irrelevante private Gefühlsreaktion ist eine extreme Form, die Eigenwertigkeit des ästhetischen Bereichs zu betonen. (S. 65)

Eine plausible These. Tatsächlich läuft die Ästhetik seit dem Aufkommen der positivistischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert ernsthaft Gefahr, ihren Status als autonomes Forschungsgebiet einzubüßen. Der Hang zur Rechtfertigung von Kunst als eigengesetzliche Domäne des menschlichen Geistes ist seither eine verständliche Gegenreaktion. Franks Vorsatz, immanente Widersprüche im Denken Eliots mittels einer Motivationsanalyse zu interpretieren, wird an dieser Stelle beeindruckend verwirklicht.
In "The Perfect Critic" steht Eliot, nachdem er einen Bruch mit den Voraussetzungen seines Denkens vollzogen hat, immer noch vor der problematischen Frage, wie nun eigentlich der ideale Kritiker beschaffen sein soll: Welche besondere Art von Empfänglichkeit zeichnet seine Perception aus? Und inwiefern unterscheidet er sich vom impressionistischen Kritiker?

Diesen sensiblen Punkt seiner Argumentation entwickelt Eliot anhand von psychologischen Erwägungen zum künstlerischem Schaffensprozeß. Der impressionistische Kritiker verfügt seines Erachtens über kreative lmpulse. Dieses schöpferische Potential jedoch wirkt bei ihm nicht ausgeprägt genug, um zu produktiver Dichtung zu führen. So entsteht in ihm ein unbefriedigtes Energiepotential, das er beim Schreiben seiner Kritiken abreagiert. Damit vermischt er zwei Tätigkeiten mit unterschiedlicher Funktion und Zielsetzung: Kritik hat es mit Analyse und Vergleich zu tun. Sie soll ein klares Medium sein, das die Struktur und Ordnung eines Kunstwerks nachzeichnet und in sprachliches Bewußtsein übersetzt. Schöpferische Tätigkeit hingegen verändert das ihr zugrunde liegende Material und unterwirft es der Eigengesetzlichkeit des entstehenden Kunstwerks. So nützlich dem produktiven Künstler die Fähigkeit zur Kritik ist, so schädlich ist der kreative Impuls dem Kritiker, sofern er ihn nicht in einen produktiven Kanal zu lenken vermag. Die radikale Schlußfolgerung lautet deshalb, daß der perfekte Kritiker ein Dichter-Kritiker sein soll:

In der Dichtung muß er sich von den beschmutzenden privaten Assoziationen reinigen, damit er in einer vollkommenen Kritik dem "reinen Empfinden", der tatsächlichen lmpression des Kunstwerks zu Wort verhelfen kann. (S. 67)

Mit dieser psychologischen Wendung findet Eliot erneut zu seiner philosophischen Ausgangslage zurück, das heißt: zu seinem Wirklichkeitsbegriff. So werden subjektive Gefühle im künstlerischen Schaffensprozeß in ein von einem einheitlichen Gesichtspunkt durchzogenes imaginatives System eingebunden - und damit entpersonalisiert:

...was den kritischen Prozeß verunreinigt (ist) wertvolles Material für den kreativen. (S. 67)

Der vollkommene Kritiker dagegen soll von vornherein ein ungetrübtes impersonales Medium sein, das für alle zentralen Gesichtspunkte offen und empfänglich ist und die Umsetzung dieser Gesichtspunkte in Form und Struktur eines Kunstwerks deutlich wiedergibt. Impersonale Poetik in der Interpretation A. P. Franks ist abhängig von Eliots philosophischem Wirklichkeitsbegriff: Der Künstler ist Produzent, der Kritiker Empfänger eines auf imaginativer Logik aufbauenden Systems. Impersonalität bedeutet in beiden Fällen die absolute Hingabe an Wirklichkeit, die Eliot mit ästhetischer Eigengesetzlichkeit radikal gleichsetzt. Sein entscheidender Satz lautet:

We assume the gift of a superior sensibility. (The Sacred Wood ( 1960), S. 14.)

Ein Satz, der die außerzeitliche, "transzendente" Position der Philosophie Eliots bekräftigt. Die Position des Kritikers entspricht dem rein kontemplativen Blick:
…Kritik ist für Eliot die sprachliche Reproduktion der Ordnung, die die "reinen" Empfindungen im Geiste des Beschauers annehmen - "reine Kontemplation" und "Vision" sind in der Terminologie des "Perfect Critic" Gleichworte für "Empfindung". (S. 60)

Produktiver Künstler wie rein empfänglicher Kritiker gründen sich beide auf den Wirklichkeitsbegriff Eliots und bilden derart einen geschlossenen Kreislauf. Beide verstehen sich als Medium für unmittelbare Erfahrung, und beide sollen Ausdruck sein für "die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein".

© 1989 Günter Bachmann