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Armin Paul Frank: Die Sehnsucht nach den unteilbaren Sein Buchbesprechung anlässlich des Kolloquiums "T.S. Eliot", WS 1988/89, Universität Stuttgart. Leitung: Prof. Dr. H.U. Seeber 1. Die Biographie einer KritikDer Untertitel: "Motive und Motivation in der Literaturkritik T. S. Eliots" gibt Aufschluß über Ansatz und Methode der Arbeit Franks. Das "Motiv" ist der Schlüsselbegriff seiner Interpretation. Es ist definiert als "eine kennzeichnende lokale Konstellation bedeutungsvoller Details in einem Werk (
)". (S.15) "Motiv" als Begriff der Literaturwissenschaft ist ein menschlich typisches, ein repräsentatives Moment in einem Handlungsgefüge. Es hat vor allem dynamischen Charakter (movere = bewegen). Denn so sehr ein Motiv die Handlung auf einen Punkt bringt und sie konzentriert, so sehr treibt es sie auch voran. Das Motiv ist eine sorgfältig erzeugte und stilisierte Situation, die Spannung aufbaut, zugleich aber zur Auflösung eben dieser Spannung drängt. Der entschieden dynamische Charakter dieses Begriffs zeigt sich außerdem darin, daß ein Motiv meist auf vorausgegangene Motive zurückweist und weitere Motive nach sich zieht. In diesem Fall ist von "Motivation" die Rede. Dieses Wort bezeichnet den "progressiven Aspekt der Handlungsverknüpfung". (ibid.) Die Untersuchung der Motivation kann also ein Geflecht bedeutsamer Handlungsmomente freilegen, das Rückschlüsse auf die Gesamtstruktur des Werks zulässt. Aus diesem Grund empfehlen Kritiker wie Wellek und Warren die Motivation als ein brauchbares Instrument für die Analyse eines "plot", eines Handlungsverlaufes in epischer und dramatischer Dichtung. Da ein psychologisches Motiv die Antwort auf eine Situation "im Leben" darstellt und sich, wenn diese Antwort formuliert wird, auch in einem literarischen Motiv niederschlagen kann, bezeichnet der Terminus selbst eine Brücke zwischen "Leben" und "Literatur". (S. 15) Jedoch verwahrt sich Frank dagegen, etwa "ein Psychogramm" des Kritikers Eliot anzustreben. Vielmehr konzentriert er sich auf die von Eliot publizierten Aufsätze und Essays. Freilich macht er sich dabei den dynamischen Charakter seiner Schlüsselbegriffe methodisch zunutze: So betont er vor allem den "evolutionären Aspekt eines kritischen Lebenswerkes". (S. 16) Außerdem behält er sich die Möglichkeit vor, "... der Wechselwirkung zwischen dem werkimmanenten' (intrinsic) Bereich und einer Dimension des außerliterarischen' (extrinsic) Bereichs auch terminologisch Rechnung zu tragen". (ibid.) Theorie im prägnanten modernen Sinn ist "eine systematische Verknüpfung von Sätzen in der Form einer systematisch einheitlichen Deduktion." (S. 16) Wer unter dieser Voraussetzung Eliot interpretieren wolle, der scheitere zwangsläufig an seinen Widersprüchen: Solche Bemühungen machen Entschuldigungen der Art notwendig, daß von Eliot eine allzu große Konsequenz der Theorie nicht verlangt werden dürfe - warum eigentlich nicht? (ibid.) Franks methodische Prämisse geht also davon aus, dass Eliots Begriffe, seine kritischen Aussagen und Formeln ...nicht als Blöcke angesehen werden dürfen, die zu einer im Theoretischen begründeten dialektischen Pyramide aufgeschichtet sind, sondern als Momente eines sich in der Zeit entfaltenden, auf innere und äußere Veränderungen reagierenden und sich selbst wandelnden offenen Systems. (S. 12) Beabsichtigt ist also nicht eine Biographie des Kritikers Eliot, sondern eine "Biographie der Kritik" (S.12) selbst. Der Versuch, Eliots Leistung als Kritiker unter dem Aspekt einer dynamisch-progressiven Entwicklung nachzuvollziehen, soll keineswegs über tatsächliche Widersprüche Eliots hinwegtäuschen; Widersprüche, die weder durch die Fehleinschätzung seines Werks als einheitliches System, noch durch ideologische Verzerrungen des Interpreten erklärbar sind. Genau an diesem Punkt kommt die Brückenfunktion, die das Motiv zwischen Leben und Literatur einnimmt, zum Tragen: ...solche Widersprüche sind treffende Indizien für tiefliegende persönliche Probleme und Präokkupationen des Kritikers und geben daher Aufschluß über Motivationskerne seines Kritisierens. (S. 26) Die Psychologie soll demnach allenfalls dunkle Stellen von Eliots Kritik beleuchten - dort, wo er sich offenkundig widerspricht und seine eigene Terminologie Lügen straft. "In vielen Fällen", so Frank, "wird es sich dabei zeigen,(...), daß viele seiner Essays Versuche sind, einen neuen Standpunkt zu erreichen". (S.32) Diesen Zusammenhängen von fließenden Übergängen und Stasis, von growth and structure, von évolution et structure auch bei der Analyse von Eliots Literaturkritik schon vom terminologischen Ansatz her Rechnung zu tragen, ist Aufgabe der Schlüsselwörter "Motiv" und "Motivation." (S. 15) 2. Die philosophische AushangslageDer formale Ansatz von Franks Methode wird inhaltlich von philosophischen Überlegungen ergänzt. Eliots Dissertation Experience and the Objects of Knowledge in the Philosophy of F. H. Bradley entstand in den Jahren 1911-16. Sie wurde von der Harvarduniversität als schriftliche Promotionsleistung anerkannt. Eliot versäumte es jedoch, in die Staaten zurückzukehren, um sich durch eine mündliche Disputation den Doktorgrad offiziell zu erwerben. Um diesen Tatbestand ranken sich die wildesten Gerüchte. Franks Hypothese gibt sogleich Aufschluß über den methodischen Stellenwert, den er der Philosophie im Denken Eliots zuweist: Es sei doch höchst verwunderlich, ...daß ein ausgezeichneter Doktorand, der bereits zwei Jahre lang an seiner Heimatuniversität eine Assistentenstelle wahrgenommen hatte, und dem eine Laufbahn als Philosophieprofessor offenstand, statt dessen im Ausland schlecht bezahlte Stellungen als Lehrer und später als Bankangestellter annahm, um daneben bis in den physischen Zusammenbruch hinein an einem neuen poetischen Stil zu arbeiten und sich in einer Vielzahl von Rezensionen und kritischen Schriften für ihn einzusetzen. (S. 37) Seine Schlußfolgerung präsentiert Frank in Form einer rhetorischen Frage: Könnte es sein, daß Eliot daran verzweifelte, in der Philosophie das zu finden, was er darin suchte, während er in der Dichtung das zu finden hoffte, was ihn die Philosophie zu suchen gelehrt hatte? (S. 38) - "...was ihn die Philosophie zu suchen gelehrt hatte": Das heißt, die philosophische Ausgangslage im Denken Eliots müßte bestimmend sein für seinen Werdegang als Dichter und Kritiker. Die Ableitung von Eliots kritischer Methode aus seinem Studium der Philosophie versucht Frank ausführlich nachzuweisen. a) Francis Herbert Bradley (1846 - 1924) Bradley ist eine philosophische Ausnahmeerscheinung: Er ist Engländer und Metaphysiker. Zwar haftet seinem Denken ein beträchtlicher Teil des englischen Empirismus an; doch kann er nicht minder in der Nachfolge Hegels und des deutschen Idealismus interpretiert werden. Bradley hat seine Philosophie jedenfalls deutlich gegen Pragmatiker, Positivisten und Utilitaristen abgegrenzt. Gegen Denkweisen also, die Metaphysik als Erfahrungstatsache leugnen oder vehement ihren Nutzen bestreiten. Frank interpretiert Bradley als geistigen Mentor T. S. Eliots und versucht zunächst, die Grundbegriffe dieses Philosophen und seine Denkweise aufzuzeigen. b) Skepsis und relationales Denken Im Werk Bradleys findet sich viel Skepsis, obgleich er kein regelrechter Skeptiker ist. Im "Preface" zu "Appearance and Reality" (1893, dt. 1928) stellt er ausdrücklich klar, daß absolute Skepsis eine unreflektierte, ja selbst schon eine metaphysische Position sei. Der dogmatische Skeptiker schließt von der Tatsache, daß metaphysische Sätze nicht mit wissenschaftlicher Stringenz bewiesen werden können, auf ihre Nichtigkeit. Er macht Sein oder Nichtsein von Erkennbarkeit abhängig. Der "Skeptiker" wendet demnach seine Skepsis nicht auf die Methode der Skepsis selbst an. Die skeptische Methode begründet Bradley erkenntnistheoretisch. Ausgangspunkt ist hierbei seine Kritik am Empirismus. Dessen Voraussetzung besteht in der (von Descartes übernommenen) Aufspaltung der Erkenntnisgrundlagen in res cogitans (denkendes, "subjektives" Bewußtsein) und res extensa (die angeschaute Erfahrungswelt mit ihres ausgedehnten "Objekten"). Im Bewußtsein des denkenden Subjekts werden die durch Erfahrung gewonnenen Eindrücke ("impressions") zu einer Idee ("idea") geformt. Ausgangspunkt aller Erkenntnis ist somit die Erfahrung, die Empirie. Und das erkennende Bewußtsein wird als tabula rasa aufgefaßt: "No innate ideas!" (John Locke) Der Grundgedanke ist die Einsicht, daß alle erkannten Fakten und Relationen durch ihren Kontext determiniert, konditioniert, und daher letztlich konditional sind. (S. 43) Unsere abstrakte Erkenntnis bleibt immer standortgebunden, sie ist immer bedingt. Das Bedingte aber kann das Un-Bedingte (sprich: "das Absolute") nicht erkennen. Absolute Erkenntnis ist theoretisch nur einem Bewußtsein möglich, das in der Lage wäre, vom Standpunkt der Ewigkeit aus zu denken: sub specie aeternitatis, wie Bradley sagt. Diese Perspektive jedoch, die das Ganze, die Summe alles dessen, was war, ist und sein wird zu überschauen vermag, ist dem Menschen nicht möglich. Er bleibt beschränkt auf relationales Denken, auf die abstrakte Welt der "appearances". Und für seine praktischen Lebenszwecke reicht das gerade hin. Erkenntnis der Wirklichkeit ("reality"), Erkenntnis des unteilbaren Seins jenseits aller Relationen bleibt seinem abstrakten Raisonnement verschlossen. Sein gesamtes Denken beruht auf der Relation Subjekt-Objekt, kann demnach nur relational sein und eine abstrakte Scheinwelt konstruieren. c) Unmittelbare Erfahrung Die umfassende Skepsis Bradleys erschöpft sein Denken nicht. Es kennt eine Gegenbewegung. So kündet sich schon kontrapunktisch, als Gegenzug zur entmutigenden Einsicht in die relationale Scheinwelt alles Denkens, der Gedanke des "Absoluten" an. "Das unteilbare Sein" ist die Folie, auf deren Hintergrund sich die Unzulänglichkeit relationalen Denkens erst deutlich abzeichnet. Auch die theoretisch, wiewohl nicht menschlich mögliche Vorstellung eines Denkens sub specie aeternitatis deutet in diese Richtung. In the beginning there is nothing beyond what is presented, what is and is felt, or rather is felt simply. There is no memory or imagination or hope or fear or thought or will, and no perception of difference or likeness. There are, in short, no relations and no feelings, only feeling.(...) There is nothing beyond presentation. Ursprünglicher Zustand des Bewußtseins ist unmittelbare Erfahrung: All is feeling in the sense, not of pleasure and pain, but of a given whole without relations... (ibid.) An diesem Punkt seiner Theorie gerät Bradley in ein Dilemma. Da er einerseits einen absoluten Bewußtseinszustand postuliert, also das Hegelsche Denkmodell übernimmt; andererseits aber an dem Dualismus des Descartes, an der Scheidung der Erkenntnis in subjektives Bewußtsein und objektive Gegenstandswelt unverändert festhält: so versucht er unvereinbare Prämissen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Das Absolute läßt polar aufeinander bezogene Gegensätze zu, aber keineswegs einen rigorosen Dualismus. Eine durchgehende Trennung der Welt in Innen und Außen, in Subjekt und Objekt ist ihm fremd. Das Absolute hebt die Gegensätze in letzter Instanz auf. Der Dualismus hingegen setzt die Gegensätze selber absolut. In einem jedem Erkenntnisakt erhebt sich ("emerges") gewissermaßen der Gegenstand der Erkenntnis aus dem ungeteilten, überpersönlichen Bereich der "unmittelbaren Erfahrung", des "Fühlens". Er wird im Verlauf des Denkprozeßes in sich und in bezug auf andere Gegenstände immer mehr differenziert, so daß die internen und externen Relationen aus dem Oberflächlichen und Zufälligen immer mehr ins Wesentliche und Notwendige übergeführt werden. (S. 48) Hier wird die dialektische Bewegung des Absoluten nur in einer Momentaufnahme eingefangen und auf den Erkenntnisprozeß des menschlichen Bewußtseins begrenzt. Die Vermittlung des Absoluten zu sich selbst wird ausgespart. Die gezielte Hervorhebung des Erkenntnisprozesses fördert ein weiteres dialektisches Moment zutage: Im Bewußtsein können Denken und Fühlen keine vollständig getrennten Größen sein. Nie ist Fühlen ganz rein vom Denken, nie Denken ganz rein vom Fühlen: In any emotion one part of that emotion consists already of objects, of perceptions and ideas before my mind (...). There are features in the feeling. Das bedeutet aber, daß Bradley sein "Prinzip" der unmittelbaren Erfahrung nicht nachweisen kann, da Fühlen immer von relationalem Denken durchsetzt ist. Bradleys Suche nach dem unteilbaren Sein endet mit einem skeptischen Ausblick auf Philosophie überhaupt. d) Die ästhetische Dimension Da die sogenannten "Dates and Facts" relationale Scheinprodukte unseres abstrahierenden Gehirns sind; da "Wirklichkeit" im Denkprozeß allein als "Appearance" auftritt, so zieht Bradley die Schlußfolgerung, daß eine Denkweise, die bemüht ist, Fühlen wie Intellekt gleichermaßen einzubeziehen, dem unteilbaren Sein, der unmittelbaren Erfahrung wesentlich näher kommt. Also gerade Bereiche des menschlichen Bewußtseins wie Fiktion oder Kunst, die sinnliche und intellektuelle Wahrnehmungen aufeinander beziehen, könnten eine gehaltvollere und wirklichere Basis haben als die sogenannten Fakten einer nüchternen abstrakten Tatsachenwelt: ...there comes in principle an end to the worship of abstractions, abstractions of the school or of the market-place. And there comes the perception that prose and facts may be fanciful in a more extravagant and in a lower sense than poetry or art. Bradleys Denken also wird erweitert durch eine ästhetische Dimension. Seine Skepsis richtet sich bevorzugt gegen die Philosophie selbst. Dies alles fügt sich vortrefflich in Franks These von Eliots gestörtem Verhältnis zur Philosophie: Mit einer vorsichtigen Geste entläßt Bradley seine Schüler, deren mögliche Verzweiflung er vorausgesehen hat, aus dem Bereich der Metaphysik in den der Dichtung und der Kunst. (S. 51) e) Eliots Dissertation Der hohe Stellenwert, den Bradleys Philosophie im Denken Eliots einnimmt, erweist sich darin, daß er ihre grundlegenden Prämissen anerkennt. Zum einen die Konzeption einer unmittelbaren Erfahrung, ein auf das unteilbare Sein ausgerichtetes Denken; zum andern die Vorstellung, daß Denken und Fühlen untrennbar aneinander teilhaben: No experience is self-consistent, because of the ideal aspects with which it is shot through. Diesem Ansatz entsprechend geht auch Eliot der erkenntnistheoretischen Frage nach, wie Subjekt und Objekt aus dem ursprünglich einheitlichen Fühlen hervorgehen. Seine abstrakten Lösungsversuche sind wie die Bradleys zum Scheitern verurteilt. Denn auch Eliot behauptet ja, daß im menschlichen Bewußtsein reines Fühlen nicht isolierbar und relationales Denken immer präsent ist. So folgert er auch konsequent, daß Bradley, seinen eigenen Prämissen zufolge, unmittelbare Erfahrung als "unwirklich" hätte qualifizieren müssen, als "appearance". Da unser Bewußtsein relationales Denken nicht überwinden kann, geht Eliot einen entscheidenden Schritt weiter: Das heißt aber für Eliot - und damit führt er einen Gedanken ein, der bei Bradley meines Erachtens nicht zu finden ist -, reales Fühlen ist außerhalb der Zeit; denn innerhalb des Zeitlichen gibt es keinen Standpunkt, von dem aus reales Fühlen erkannt werden kann. Unmittelbare Erfahrung ist die einzige allumfassende Realität und als solche "a timeless unity which is not as such present either anywhere or to anyone". (ibid., 30-31.) Bereits in Eliots frühem Denken wird eine religiöse Komponente sichtbar. Da erst der zeitlose Bewußtseinszustand zur Erkenntnis der "Wahrheit" durchdringen kann, finden sich Wesen und Wirklichkeit des Lebens in der "Transzendenz". Wohingegen Bradley nur eine Annäherung an die unmittelbare Erfahrung lehrte und das unteilbare Sein als theoretisches Postulat auffaßte. By the failure of any experience to be merely immediate, by its lack of harmony and cohesion, we find ourselves as conscious souls in a world of objects. (ibid., S. 31) Mit anderen Worten: Der menschliche Geist ist vom Absoluten abgefallen, sein Dasein ist geteilt. Weiter heißt es: And if anyone assert that immediate experience, at either the beginning or the end of our journey, is annihilation and utter night, I cordially agree. (ibid., 31.) Hieran läßt sich erkennen, daß durch Eliots transzendente Position die Hegelsche Dialektik des Absoluten wieder ungehindert funktionieren kann. Die Reisemetapher fügt Anfang und Ende in Eins zusammen. Die Reise selbst bringt den Prozeß der Selbstvermittlung des Absoluten zum Ausdruck. Das "Absolute" wird definiert als "annihilation and utter night". Diese Bestimmung ist notwendig negativ. Da abstrakte Definitionen relational sind und damit dem zeitlichen Bewußtsein angehören, so läßt sich das Absolute nur als totale Negation eben dieses zeitlichen Bewußtseins "definieren". Alle normalerweise als antithetisch angenommenen Begriffe sind in Wirklichkeit durch reziproke Teilhabe aneinander rückgebunden. (S. 58) Dies bezeichnet den ersten Schritt, das unteilbare Sein in der Existenz, nicht in abstrakter Begrifflichkeit zu suchen. Logische Abstraktion trennt und zergliedert, was nur als Ganzes lebt und erfahren werden kann: Für Eliot lösen sich also Theorie und Praxis, Denken und Handeln, Wissen und Fühlen, Geistigkeit und Physikalität in einem alles umfassenden Bereich der Kontemplation auf. (S. 59) Der kontemplative Blick auf das Dasein vermag natürlich nicht die Tatsache zu beseitigen, daß menschliches Bewußtsein relational ist und zeitlich bedingt bleibt. Verstand und Kritik, Analyse und Abstraktion können und sollen nicht aus dem Bewußtsein verdrängt und ausgetrieben werden. Eliot geht es darum, analytische Kritik schöpferisch nutzbar zu machen, ihre zergliedernde Tendenz in einen lebendigen Denkprozeß einzubinden. Analyse kann Wahrnehmungen überschaubar strukturieren, und diese Strukturen können in eine Ordnung überführt werden. Im Zentrum dieser Ordnung steht das schöpferische Bewußtsein, an dem Kritik, Verstand, Gefühl und Sinnlichkeit beteiligt sind: Es ist der ganze konzentrierte Mensch. Nach Eliot strahlt ("radiates") dieses lebendige Zentrum Kraft aus, die sich empirische Daten und Fakten selektiv aneignet, sie kombiniert, assoziiert, strukturiert usf. Die eigentliche Ordnung kommt dabei nur zustande, wenn das Zentrum einen einheitlichen Gesichtspunkt konsequent durchhält. Das schöpferische Bewußtsein ist demnach ein Medium, das die unwirkliche Welt der Fakten in die eigentliche Wirklichkeit erst überführt. Schöpfung versucht, die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein zu verwirklichen. Der Wirklichkeitsbegriff Eliots steht in direkter Beziehung zum künstlerischen Schaffensbegriff: Wenn ein literarisches Werk ein geschlossenes System mit einem einheitlichen Gesichtspunkt (ein Waste Land mit einem Tiresias) ist, also eine Struktur oder ein "organisches Ganzes", in dem alle Teile zueinander passen, dann ist es für Eliot, den Kritiker, wirklich. (S. 56-57.) Kritik und künstlerische Gestaltung, Abstraktion und Poesie schließen sich nicht gegenseitig aus. Wirklichkeit im Sinne Eliots ist ein "von einem bestimmten Gesichtspunkt aus gesehenes, zusammenhängendes System". (S. 56.) Und innerhalb dieses Bezugssystems kann abstrakte analytische Kritik schöpferisches Potential entfalten. Der poeta doctus, der gelehrte kritische Dichter, erhält gerade wegen seiner analytischen Begabung ungeahnte Gestaltungsmöglichkeiten. Die Kritik, die häufig als ein Gegenpol zur künstlerischen Produktion interpretiert wird, zählt bei Eliot zum Handwerk des Dichters. f) Logik der Imagination Die herkömmliche, am Leitfaden der Kausalität entwickelte Logik des Aristoteles wird bereits von F. H. Bradley als relationale Scheinwelt demaskiert. Mit seinem auf den Prozeß der Imagination aufbauenden Wirklichkeitsbegriff bleibt Eliot der entscheidende Schritt vorbehalten: Er löst die traditionelle Logik durch eine "Logik der Imagination" ab. Das Weltbild des Aristoteles wird nicht minder erschüttert als beispielsweise das Weltbild Newtons in der theoretischen Physik. Ein statisches, dreidimensionales, kausal geordnetes Denken wird der Dynamik einer "modernen" Welt offenbar nicht mehr gerecht. 3. Angewandte Philosophie Nach intensiver Auseinandersetzung mit der Philosophie hat sich Eliot, so Frank, von dieser Disziplin losgesagt. Doch hat sie dem jungen Kritiker den Blick auf das Ganze des Daseins gelehrt: Die "unmittelbare Erfahrung", der Begriff einer Wirklichkeit als "imaginatives" System, die skeptische Distanz zum "relationalen" Scheindenken bloßer Abstraktion sind die greifbaren Ergebnisse. Sie bilden zusammen wesentliche Grundlagen alles weiteren Dichtens und Denkens. Und bereits im ersten Kapitel formuliert Frank die Arbeitsgrundlage seines umfangreichen Buches wie folgt: Die "Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein" benennt das Zentralmotiv von Eliots Kritik - und seinem Gesamtwerk - in seiner Herkunft aus F H. Bradleys erkenntnistheoretischer Metaphysik (...). (S. 12) Trifft die These Franks zu, dann hat Eliot seine philosophischen Erfahrungen auf seine Tätigkeit als Kritiker übertragen. Die Kritik Eliots müßte demnach als angewandte Philosophie interpretierbar werden. Die detaillierte Demonstration dieser These bildet den Hauptteil des Buches. Frank bietet viel Material, zahlreiche Exkurse und penible Auslegungen nahezu aller relevanten Essays Eliots. Aus Gründen der Klarheit und Übersicht ziehe ich deshalb ein repräsentatives Beispiel heran, das die von Frank entwickelte Methodik in ihrer praktischen Anwendung veranschaulichen kann. 4. The Perfect Critic (1920) Titel wie Inhalt dieses frühen Essays haben programmatischen Charakter. Das Ideal des vollkommenen Kritikers, das Eliot entwirft, läßt wichtige Rückschlüsse auf die Grundlage und Zielsetzung seiner Kritik zu. Frank versucht deshalb, seinen Interpretationsansatz an diesem Beispiel konsequent zur Geltung zu bringen. Dabei orientiert er sich an den drei Kritikertypen, die Eliot skizziert. Empfindung ist für Eliot das, und nur das, was ein Gegenstand - in diesem Fall ein sprachliches Kunstwerk - als solcher im Beobachter - und in jedem Beobachter gleich - hervorrufen soll; in diesem Sinne ist sie "impersonal" oder "objektiv". (S. 64) Gefühle dagegen sind personal. Sie nehmen den eigentlichen Gegenstand nicht wahr. Sie sind subjektive Konstruktion und beeinträchtigen das Handwerk des Kritikers nicht weniger als abstrakte Konstruktion. Eliots kategorische, allzu simplistische Unterscheidung in nur vom Kunstwerk herstammende Empfindung und irrelevante private Gefühlsreaktion ist eine extreme Form, die Eigenwertigkeit des ästhetischen Bereichs zu betonen. (S. 65) Eine plausible These. Tatsächlich läuft die Ästhetik seit dem Aufkommen der positivistischen Wissenschaft im 19. Jahrhundert ernsthaft Gefahr, ihren Status als autonomes Forschungsgebiet einzubüßen. Der Hang zur Rechtfertigung von Kunst als eigengesetzliche Domäne des menschlichen Geistes ist seither eine verständliche Gegenreaktion. Franks Vorsatz, immanente Widersprüche im Denken Eliots mittels einer Motivationsanalyse zu interpretieren, wird an dieser Stelle beeindruckend verwirklicht. Diesen sensiblen Punkt seiner Argumentation entwickelt Eliot anhand von psychologischen Erwägungen zum künstlerischem Schaffensprozeß. Der impressionistische Kritiker verfügt seines Erachtens über kreative lmpulse. Dieses schöpferische Potential jedoch wirkt bei ihm nicht ausgeprägt genug, um zu produktiver Dichtung zu führen. So entsteht in ihm ein unbefriedigtes Energiepotential, das er beim Schreiben seiner Kritiken abreagiert. Damit vermischt er zwei Tätigkeiten mit unterschiedlicher Funktion und Zielsetzung: Kritik hat es mit Analyse und Vergleich zu tun. Sie soll ein klares Medium sein, das die Struktur und Ordnung eines Kunstwerks nachzeichnet und in sprachliches Bewußtsein übersetzt. Schöpferische Tätigkeit hingegen verändert das ihr zugrunde liegende Material und unterwirft es der Eigengesetzlichkeit des entstehenden Kunstwerks. So nützlich dem produktiven Künstler die Fähigkeit zur Kritik ist, so schädlich ist der kreative Impuls dem Kritiker, sofern er ihn nicht in einen produktiven Kanal zu lenken vermag. Die radikale Schlußfolgerung lautet deshalb, daß der perfekte Kritiker ein Dichter-Kritiker sein soll: In der Dichtung muß er sich von den beschmutzenden privaten Assoziationen reinigen, damit er in einer vollkommenen Kritik dem "reinen Empfinden", der tatsächlichen lmpression des Kunstwerks zu Wort verhelfen kann. (S. 67) Mit dieser psychologischen Wendung findet Eliot erneut zu seiner philosophischen Ausgangslage zurück, das heißt: zu seinem Wirklichkeitsbegriff. So werden subjektive Gefühle im künstlerischen Schaffensprozeß in ein von einem einheitlichen Gesichtspunkt durchzogenes imaginatives System eingebunden - und damit entpersonalisiert: ...was den kritischen Prozeß verunreinigt (ist) wertvolles Material für den kreativen. (S. 67) Der vollkommene Kritiker dagegen soll von vornherein ein ungetrübtes impersonales Medium sein, das für alle zentralen Gesichtspunkte offen und empfänglich ist und die Umsetzung dieser Gesichtspunkte in Form und Struktur eines Kunstwerks deutlich wiedergibt. Impersonale Poetik in der Interpretation A. P. Franks ist abhängig von Eliots philosophischem Wirklichkeitsbegriff: Der Künstler ist Produzent, der Kritiker Empfänger eines auf imaginativer Logik aufbauenden Systems. Impersonalität bedeutet in beiden Fällen die absolute Hingabe an Wirklichkeit, die Eliot mit ästhetischer Eigengesetzlichkeit radikal gleichsetzt. Sein entscheidender Satz lautet: We assume the gift of a superior sensibility. (The Sacred Wood ( 1960), S. 14.) Ein Satz, der die außerzeitliche, "transzendente" Position der Philosophie Eliots bekräftigt. Die Position des Kritikers entspricht dem rein kontemplativen Blick: Produktiver Künstler wie rein empfänglicher Kritiker gründen sich beide auf den Wirklichkeitsbegriff Eliots und bilden derart einen geschlossenen Kreislauf. Beide verstehen sich als Medium für unmittelbare Erfahrung, und beide sollen Ausdruck sein für "die Sehnsucht nach dem unteilbaren Sein". © 1989 Günter Bachmann |