Zeigen und schweigen
Der Fall Harold Pinter und die Medien

Am 7. Dezember 2005 hat der neue Literatur-Nobelpreisträger Harold Pinter seine offizielle Rede zu dieser Auszeichnung veröffentlicht. Der 75-jährige Schriftsteller ließ sie einige Tage zuvor in einem Fernsehstudio aufzeichnen. Direkt auf dem Weg in ein Londoner Krankenhaus. Denn Harold Pinter leidet an Krebs und konnte auch an der Preisverleihung am 10. Dezember nicht teilnehmen. Unterwegs also, eine bloße Zwischenstation zur Krebsstation, geht einer in ein Studio und spricht Klartext. Das Video wurde dann in Stockholm der Öffentlichkeit präsentiert. Und am selben Abend noch gab die Akademie den Redetext für die Presse frei.
Pinters Literatur-Nobelpreisrede ist ein Big Bang, der wie eine neue Schöpfung in unsere virtuell verlogene Lebenswelt hineinplatzt. Denn wer hätte sich heute noch vorstellen können, dass ein Schriftsteller von Weltformat so ziemlich gegen alle Etiketten der intellektuellen Postmoderne verstößt? - Zum Beispiel der direkte Appell an die Wahrhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit der Bürger. Der Schriftsteller als moralisches Weltgericht. So etwas tut man nicht. Und dann auch noch die Einmischung in das aktuelle politische Geschehen, mit eindeutig wertenden Stellungnahmen, gar mit Nennung konkreter Namen, nein: Das tut man erst recht nicht. Pinter jedoch hat das alles getan.
Warum hat er das getan? Weil es sein gutes Recht ist. Weil auch ein Schriftsteller Staatsbürger ist und als Staatsbürger sprechen kann. Gleich zu Beginn seiner Rede stellt Pinter dies ausdrücklich klar:

1958 schrieb ich Folgendes.
Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem, was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und dem, was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.
Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen Was ist wahr? Was ist unwahr?

Die relativierende Vieldeutigkeit im Urteil des kultivierten Intellektuellen – taugt für die Kunst. Aber das gesellschaftliche Leben ist oft viel primitiver geschnitzt als die sprachlichen Experimentierkünste eines James Joyce; viel ärmer an Perspektiven als die Romanfiguren von Henry James und Joseph Conrad; viel böser, gewissenloser und dummdreister als Shakespeares Richard III oder MacBeth. Kapital und Politik zum Beispiel manipulieren unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit mit einer Hemmungslosigkeit, die jede noch nicht ganz narkotisierte Intelligenz grob beleidigt:

Politische Sprache, so wie Politiker sie gebrauchen, wagt sich auf keines dieser Gebiete (auf die Gebiete der Kunst, G.B.), weil die Mehrheit der Politiker, nach den uns vorliegenden Beweisen, an der Wahrheit kein Interesse hat, sondern nur an der Macht und am Erhalt dieser Macht. Damit diese Macht erhalten bleibt, ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit ihres eigenen Lebens. Es umgibt uns deshalb ein weitverzweigtes Lügengespinst, von dem wir uns nähren.

Harold Pinter besteht darauf, dass in dieser politischen Dimension unserer Lebenswelt sehr wohl zwischen wahr und falsch unterschieden werden kann. Gleich im nächsten Absatz erfolgt die kritische Anwendung dieser Einsicht auf die Außenpolitik der USA – ein chirurgisch präziser Schnitt, der das uns umgebende Lügengespinst zu zerreißen beginnt:

Wie jeder der hier Anwesenden weiß, lautete die Rechtfertigung für die Invasion des Irak, Saddam Hussein verfüge über ein hoch gefährliches Arsenal an Massenvernichtungswaffen, von denen einige binnen 45 Minuten abgefeuert werden könnten, mit verheerender Wirkung. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte uns, der Irak unterhalte Beziehungen zu al-Qaida und trage Mitverantwortung für die Gräuel in New York am 11. September 2001. Man versicherte uns, dies sei wahr. Es war nicht die Wahrheit. Man erzählte uns, der Irak bedrohe die Sicherheit der Welt. Man versicherte uns, es sei wahr. Es war nicht die Wahrheit.

Auch Pinters Darstellung der US-Außenpolitik seit dem Zweiten Weltkrieg beweist, dass unser Blick sehenden Auges blind ist. Wir haben, nicht zu Unrecht, die Gräueltaten des Stalinismus und Kommunismus stets ins Visier genommen. Doch in unserem kollektiven Bewusstsein sind die Kriegsverbrechen und Völkerrechtsverletzungen der westlichen Supermacht USA merkwürdig abwesend. Und wie schon im Fall der verlogenen Begründung für den Einmarsch in den Irak, beharrt Pinter auch hier auf der Unterscheidung zwischen wahr und falsch:

Nach dem Ende des 2. Weltkriegs unterstützten die Vereinigten Staaten jede rechtsgerichtete Militärdiktatur auf der Welt, und in vielen Fällen brachten sie sie erst hervor. Ich verweise auf Indonesien, Griechenland, Uruguay, Brasilien, Paraguay, Haiti, die Türkei, die Philippinen, Guatemala, El Salvador und natürlich Chile.
In diesen Ländern hat es Hunderttausende von Toten gegeben. Hat es sie wirklich gegeben? Und sind sie wirklich alle der US-Außenpolitik zuzuschreiben? Die Antwort lautet ja, es hat sie gegeben, und sie sind der amerikanischen Außenpolitik zuzuschreiben. Aber davon weiß man natürlich nichts.

Pinter spricht mit einer Eindringlichkeit, als müssten wir erst wieder lernen, Wahrheiten und Lügen voneinander zu unterscheiden. Besonders das Fallbeispiel USA ist sehr gut für diese Übung geeignet. Die Vereinigten Staaten genießen in Westeuropa den Ruf einer großartigen Demokratie, die uns vom Joch der Nazis befreit hat. Und im Kalten Krieg waren vor allem sie der Garant dafür, dass man vor der Fratze des Kommunismus den Eisernen Vorhang zuziehen konnte. Das hat zweifellos zu einer erheblichen Bewusstseinstrübung beigetragen, die auch über die grellsten Menschenrechtsverletzungen der USA keine kritische Empörung aufkommen lässt. Doch eben darauf kommt es Pinter an: auf die Fähigkeit, zwischen wahr und falsch mit klarem Urteilsvermögen zu unterscheiden – nichts anderes bedeutet ja das griechische Wort Kritik.
Das Thema USA besitzt noch weitere Vorzüge: Kein anderes Beispiel entlarvt besser, in welchem Ausmaß politische und ökonomische Einflüsse bereits heute die Medien dominieren und kontrollieren. Auch in Demokratien wie Deutschland. Diese Einflüsse auf die Medien sind äußerst raffiniert geworden. Besonders verblüffend ist, daß die Fakten über die Vergehen der USA durchaus dokumentiert sind. Sicher unzureichend, wie Pinter anmerkt, aber immerhin sind sie grundsätzlich bekannt. Es ist also nicht so, als hätten die Medien total versagt und wären ihrer journalistischen Sorgfaltspflicht nicht nachgekommen. Es geht auch nicht um Zensur oder gewaltsame Verdrängung von Tatsachen. Es geht schlicht um die Wirkungslosigkeit dieser Tatsachen. Sie berühren uns nicht. Trotz ihrer verbürgten Existenz existieren sie nicht:

Es ist nie passiert. Nichts ist jemals passiert. Sogar als es passierte, passierte es nicht. Es spielte keine Rolle. Es interessierte niemand. Die Verbrechen der Vereinigten Staaten waren systematisch, konstant, infam, unbarmherzig, aber nur sehr wenige Menschen haben wirklich darüber gesprochen.

Die Wahrheit ist heute nicht mehr stark genug, um allein schon durch ihre Darstellung wachzurütteln. Die Macht der Bilder und Tatsachen scheint längst gebrochen. Berichte über Napalmbomben und Massaker an der Zivilbevölkerung konnten 1968 noch weltweite Empörung über den Vietnamkrieg auslösen. Doch im Zeitalter digitaler Echtzeitkommunikation hat die Informationsüberflutung unser Gehirn in einen Zustand reaktionsloser Abgebrühtheit versetzt. Gräueltaten, Naturkatastrophen und Hungersnöte prallen nur noch auf gehetzte, multimedial pulsierende Sinne. Wir sind viel zu sehr mit der reinen Datenverarbeitung beschäftigt, um das Einzelne wirklich noch interpretieren zu können. So kommt es oft zu einem sehenden Nichtsehen oder nichtsehenden Sehen: Denn Anschauungen ohne Deutung haben keine Bedeutung. Ohne ein interpretierendes Interesse, ohne einen Begriff oder eine Idee sagen uns Informationen rein gar nichts. Und da kein Mensch dieser gigantischen, stets zunehmenden Informationsmasse gewachsen ist, so wächst allein schon aus quantitativen Gründen auch unsere Blindheit zwangsläufig ins Unermessliche. Die qualitativen Konsequenzen der Informationsüberflutung sind ebenfalls sehr bedenklich: Es ist der Prozess einer Virtualisierung, ja Fiktionalisierung von Wirklichkeit. Wirklichkeiten sind konstruierbar, inszenierbar und simulierbar geworden. Selbst die Realität nehmen wir nur noch durch die Augen der Medien wahr. Sie sind zu Wahrnehmungsprothesen mutiert, die für uns aussuchen und filtern, was als Realität gilt und was nicht.
In dieser Situation tragen die Medien eine größere Verantwortung für die demokratischen Meinungs- und Willensbildung als je zuvor. Fakten müssen heute nicht nur gezeigt, sondern kritisch kommentiert und zum Thema gemacht werden. Die Medien allein bestimmen durch ihre Interessenlenkung, was wichtig und wirklich ist, das heißt: worüber geredet wird und worüber nicht geredet wird. Ein Beispiel unter vielen: Ein sympathisch lügender Regierungssprecher Saddam Husseins schaffte es zu Beginn des Irak-Krieges spielend, zu einer weltweiten Kult-Figur zu werden. Die Bilder von verkohlten Leichen hingegen gelangten über das bloße Zeigen nicht hinaus und konnten keine echte Reaktion auslösen. Die Medien bedienen und erzeugen einen flachen Lifestyle-Zynismus, der keine politische Auseinandersetzung zulässt. Es stehen Fakten - wie etwa die Lügen anlässlich der Irak-Invasion – zwar im Raum. Aber isoliert und ohne Wirkung. Auch brauchen sich Herr Bush, Herr Cheney oder Frau Rice vor diesem kritiklosen Berichterstatter-Journalismus kaum zu fürchten. Im Gegenteil sind die Medien längst zum verlängerten Arm für Wirklichkeitskonstruktionen geworden, für die sie sich widerstandslos instrumentalisieren lassen. Pinter formuliert das wie folgt:

Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die größte Show der Welt ab.

Eine Show, das ist das treffende Wort für die virtuellen Realitätsfiktionen, mit denen sich Journalisten abspeisen lassen. Es findet schlicht keine direkte Konfrontation von Täter und Tat statt, keine kritische und mutige und herausfordernde Kommentierung. Hat zum Beispiel auch nur ein einziger Fernsehjournalist jemals Dr. Helmut Kohl die Frage gestellt, ob er sich bewusst war, das Parteiengesetz gebrochen zu haben, indem er Geldspendern Anonymität zusicherte? Ist es ihm jemals direkt ins Gesicht gesagt worden, dass er damit keinen „Fehler“ begangen hat, sondern ein Verbrechen, das sofortige Beugehaft nach sich ziehen müsste? Gab es eine kritische Empörung, als der Ex-Kanzler sich mit einem (für seine Verhältnisse) kleinen Geldbetrag von allen rechtlichen Schritten loskaufen konnte? Ist überhaupt jemals in seiner Hörweite das Wort Verfassungsbruch gefallen – oder wurde die Tatsache thematisiert, dass ein Bundeskanzler nicht nur nicht über dem Gesetz steht, sondern aufgrund seiner Vorbildfunktion im Gegenteil dem Gesetz in besonders strengem Maß unterworfen ist? – Es ist nie passiert. Mit Pinter zu reden: Nicht einmal als es passierte, ist es passiert. Sogar die verfälschende Sprachregelung „Fehler“ wurde lammfromm vom Fernsehen und der Presse übernommen. – Vorbei also sind die Zeiten, in denen allein schon das Bekanntwerden von gewissen Umständen ausreichte, um selbst einen US-amerikanischen Präsidenten zu stürzen. Robert Woodward und Carl Bernstein, die Reporter der Washington Post, die 1972 die Watergate-Affäre aufdeckten, würden sich heute jedenfalls wundern, wie wenig Fakten an sich noch zählen. Herr Powell zum Beispiel hat, wider besseres Wissen, vor der UNO die Weltöffentlichkeit belogen und betrogen, als er den Irak-Krieg zu begründen versuchte. Heute, als ehrenhaft zurückgetretener Polit-Pensionär, gibt er das sogar zu. – Doch was sollen wir erst zu Herrn Koch sagen? Der „brutalstmögliche“ Spendenaufklärer hatte persönlich Kenntnis von illegalen Scheinstiftungen, die – Gipfel der Frechheit – auch noch mit jüdischen Decknamen versehen waren. Hat ihm diese offen zu Tage liegende Belügung und Verachtung der Öffentlichkeit je geschadet? Keineswegs. Heute sind wir schon so weit, dass solche Leute mit absoluter Mehrheit zum hessischen Ministerpräsidenten wieder gewählt werden können. Mit einem Wort: Unsere Medien sind äußerst investigativ. Sie zeigen alles. Doch sie kommentieren nichts. Zeigen und schweigen, das ist heute eine genauso effektive Manipulation wie vormals nur das direkte Vertuschen von Tatsachen. Das zunehmende Gefühl, in einer fiktionalen Medien-Spielwelt zu leben, deren Komplexität kein Mensch mehr überblicken kann, legt dieses Verfahren nahe. Denn kritische Medien, sofern sie diesen Namen noch verdienen, müssen heute durch mutige Thematisierung Fakten überhaupt erst zu einem Politikum machen. Und worüber nicht gesprochen wird, das existiert einfach nicht mehr.
Um die geballte Stoßkraft der Gesellschaftskritik ermessen zu können, die Pinter mit seiner Rede in einem bewundernswerten Alleingang praktiziert, lohnt es sich, die folgenden Sätze vor allem auch medienkritisch zu lesen:

Ich glaube, dass den existierenden, kolossalen Widrigkeiten zum Trotz die unerschrockene, unbeirrbare, heftige intellektuelle Entschlossenheit, als Bürger die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften zu bestimmen, eine ausschlaggebende Verpflichtung darstellt, die uns allen zufällt. Sie ist in der Tat zwingend notwendig.
Wenn sich diese Entschlossenheit nicht in unserer politischen Vision verkörpert, bleiben wir bar jeder Hoffnung, das wiederherzustellen, was wir schon fast verloren haben – die Würde des Menschen.

Die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften zu bestimmen, das ist mehr als nur ein Appell an die Wachsamkeit der Bürgerinnen und Bürger. Denn bestimmen bedeutet auswählen und festlegen. Bestimmen heißt definieren. Und eben darin liegt die medienkritische Brisanz von Pinters Rede: Die Definitionshoheit über Fakten besitzen ja vor allem die Medien, die für uns „bestimmen“, welche Themen von Interesse sind. Gerade diese Definitionsmacht, die im Gleichschritt mit der digitalen Technik ins Ungeheuerliche angewachsen ist, stellt enorm hohe Ansprüche an die demokratische Kontrollfunktion der Medien.
Auch in diesem Zusammenhang wird Pinters Anliegen sichtbar, vor allem die USA kritisch zu durchleuchten. Die globale Bedeutung, die das politische Handeln dieser einzig verbliebenen Supermacht für „die wahre Wirklichkeit unseres Lebens“ hat, ist ein entscheidender Faktor. Deshalb besteht gerade hier Anlass zu wachsamer Kritik an Machtmissbrauch:

Ich glaube, dass dies benannt werden muss, und dass die Wahrheit beträchtlichen Einfluss darauf hat, wo die Welt jetzt steht.

Wie ist diese Wahrheit beschaffen, von der Pinter spricht? Und in welchem Verhältnis steht diese Wahrheit zu den Vereinigten Staaten? Mit seltener Klarheit spricht es der Literaturnobelpreisträger aus:

Die Invasion des Irak war ein Banditenakt, ein Akt von unverhohlenem Staatsterrorismus, der die absolute Verachtung des Prinzips von internationalem Recht demonstrierte. Die Invasion war ein willkürlicher Militäreinsatz, ausgelöst durch einen ganzen Berg von Lügen und die üble Manipulation der Medien und somit der Öffentlichkeit; ein Akt zur Konsolidierung der militärischen und ökonomischen Kontrolle Amerikas im mittleren Osten unter der Maske der Befreiung, letztes Mittel, nachdem alle anderen Rechtfertigungen sich nicht hatten rechtfertigen lassen.

Die Missachtung der UNO ist der Sündenfall der neueren US-amerikanischen Politik schlechthin. Die Bush-Administration hat erstmals nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs den offenen Bruch mit der Idee des Völkerrechts vollzogen. Diese bittere Wahrheit ist es, die den tapferen Harold Pinter auf die Barrikaden treibt. Denn auch diese Tatsache ist ein blinder Fleck in unserer Erkenntnis. Sie ist ohne kritische Kommentierung geblieben und wurde nicht wirklich zu einem Thema gemacht. Die enorme Tragweite dieses Bruchs mit dem Völkerrecht wird jedoch sichtbar, wenn man sich auf den Ursprung dieses Gedankens zurückbesinnt: Der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724-1804) war der Erste, der von einem friedenserhaltenden Bund der Völker sprach. Einzelne Staaten, so Kant, konnten erst entstehen, nachdem der Mensch aus dem Zustand der Sittenlosigkeit, in dem der Krieg aller gegen alle herrscht, herausgetreten war. Mit der Idee, dass die eigene Freiheit nur gesichert werden kann, indem die Freiheit der anderen respektiert wird, entstanden gesetzlich geordnete Gemeinwesen. Der nächste logische Schritt müsste der sein, dass auch die Staaten ihrerseits erkennen, wie sehr sie noch im wilden Urzustand vollkommener Ungesetzlichkeit verharren, wenn sie ihre Konflikte gewaltsam miteinander austragen. Die einzig vernünftige Idee, wie dieser ewige Kriegszustand überwunden werden könnte, ist die utopische Vorstellung eines Völkerbundes, der für eine internationale Rechtsprechung sorgt:

Für Staaten, im Verhältnisse untereinander, kann es nach der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als dass sie, ebenso wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetzlose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgesetzen bequemen, und so einen, freilich immer wachsenden Völkerstaat, der zuletzt alle Völker der Erde befassen würde, bilden.
Immanuel Kant, Zum ewigen Frieden (1795)

Der Weg zur Verwirklichung dieser Idee, meint Kant, werde lang sein, werde eine unendliche Reihe von blutigen Rückschlägen hinnehmen müssen. Doch eine Alternative wenigstens zur Annäherung an diesen Gedanken gibt es nicht, wenn der Weltfrieden irgend praktikabel sein soll. Sich an dieser stets gefährdeten, sehr zerbrechlichen Idee zu vergreifen, ist also zweifellos ein Zivilisationsbruch, der die Menschheit weit zurückwirft.
Das ist besonders gravierend im Falle des Herrn George W. Bush. Die landläufig vertretene, auch von den Medien gebetsmühlenhaft heruntergeleierte Meinung, die USA hätten eben nach dem 11. September 2001 ihr Gesicht zwangsläufig verändert, halte ich für ebenso töricht wie gefährlich. Nie war die Welt proamerikanischer als nach dem 11. September 2001. Bis weit in die arabische Kultur hinein herrschte ein nie da gewesener Konsens fast aller Staaten, eine Welt-Koalition des Friedens einzugehen und den Kampf gegen den Terrorismus zu unterstützen. Von einer zwangsläufigen Veränderung der USA kann also keine Rede sein. Nie standen die Chancen besser, eine globale Front gegen den Terror zu befestigen. Die Rechtsverbindlichkeit der UNO hätte ungeahnt gestärkt werden können. Die Rechnung der Terroristen, Hass gegen die USA zu schüren, wäre nicht aufgegangen. Im Gegenteil hätten die Attentäter unfreiwillig den Gedanken des Weltfriedens gefördert. George W. Bush hat diese einmalige Chance restlos vertan. Er war der falsche Mann am falschen Platz. Und das zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Heute haben die USA ein äußerst schlechtes Image. Und die Konsequenzen aus dem Bruch mit dem Völkerrecht werden jetzt immer deutlicher greifbar: Abu Ghureib, Guantanamo, die Affäre Masri, die Folter-Light-Methoden der CIA, das Netzwerk illegal betriebener Gefängnisse. Die Medien haben angefangen, wenigstens die Symptome des internationalen Rechtsbruchs kritisch zu kommentieren und sie zum Thema zu machen. Das ist gut so.
Pinters Kritik zeigt uns außerdem, wie erbarmungslos das Schicksal zurückschlägt, wenn ein Unberufener in große geistige Ideen hineinpfuscht. Eine Ursituation des Dramas. Und so zeichnet der Dramatiker Pinter mit harten Worten das Schreckbild des moralischen Verfalls, der die Frevler in ihrem Übermut ereilt:

Sie (die USA, G.B.) sehen keine weitere Notwendigkeit, sich Zurückhaltung aufzuerlegen oder gar auf Umwegen ans Ziel zu kommen. Sie legen ihre Karten ganz ungeniert auf den Tisch. Sie scheren sich einen Dreck um die Vereinten Nationen, das Völkerrecht oder kritischen Dissens, den sie als machtlos und irrelevant betrachten.

Überhaupt ist Pinters Rede eine mit der eisernen Notwendigkeit des Dramas durchgeführte General-Abrechnung, die den Gesetzesübertretern ein unbarmherziges Spiegelbild ihrer selbst verursachten Katastrophe entgegenhält. Der Bruch mit dem Völkerrecht, überhaupt mit jedem international verbindlichen Abkommen wie etwa der Genfer Konvention, dem Kriegsverbrechergerichtshof in Den Haag oder auch nur dem Kyoto-Protokoll, ist wie gesagt ein geistiger und politischer Sündenfall. Die Kritik an der US-Politik in den Nachkriegsjahrzehnten, wie sie Pinter drastisch vor Augen führt, erhält erst durch den viel späteren Bruch mit der UNO ihre eigentliche Durchschlagskraft. Diesen rückwirkenden Effekt von Zivilisationsbrüchen kennen wir aus der deutschen Geschichte mehr als genug. Selbst Bismarck und Friedrich der Große werden im Schatten Hitlers verdunkelt. Ehrwürdige Tugenden wie Gehorsam und preußische Disziplin werden wir nie wieder diskutieren können, ohne ihre Missbrauchbarkeit, ja ihre wegbereitende Empfänglichkeit für die spätere Nazi-Diktatur zu beanstanden. Nun ist der Zivilisationsbruch, den die Nazis über die Welt gebracht haben, zwar sicher nicht vergleichbar mit dem Gebaren der USA. Doch die Missachtung internationalen Rechts ist bereits der erste Schritt über den Rubikon, über eine Grenze, die niemand ungestraft hinter sich zurücklässt. Politische Sündenfälle in der Gegenwart können leicht das Selbstverständnis der eigenen geschichtlichen Vergangenheit und damit die eigene Identität verändern. Die USA haben einen gefährlichen Weg beschritten.
Zum Abschluss verdienen deshalb zwei Punkte eine nähere Betrachtung: Hat Pinter denn Recht mit seiner Einschätzung? Und wie haben die Medien auf Pinters Rede reagiert? Sie berührt ja gezielt die Missstände dieser Macht. Und gerade die Aufnahme dieses Textes lässt tief blicken: Eine kritische Kommentierung müsste auch die eigene Unfähigkeit reflektieren, offen erkennbare Tatbestände so lange nicht zum Thema gemacht zu haben. Der Umgang mit der Nobelpreisrede ist also ein sehr exakter Gradmesser für die Kritikfähigkeit oder Kritikunfähigkeit in Presse und Fernsehen.
Hat Pinter also Recht? Wie viel von seiner Rede verdankt sich dem Verlangen nach dramatischer Zuspitzung, wie viel geht zu Lasten einer mangelhaften Differenzierung? Fest steht, dass die USA in der Entwicklung ihrer Außenpolitik nicht so eindimensional gesehen werden können. Die Idee des Völkerbundes stammt zwar aus der deutschen Philosophie. Doch die mutige Umsetzung dieser Idee in praktisch wirksame Institutionen verdanken wir den USA. Sie waren 1945 federführend an der Gründung der UNO unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs beteiligt. Ein ebenso konstruktiver wie mutiger Schritt war die historische Entscheidung, mit den Nürnberger Prozessen erstmals den internationalen Rechtsgedanken in der Praxis anzuwenden und zur Gültigkeit zu verhelfen. Internationale Konflikte sollten in Zukunft nicht mehr in einem rechtsfreien Raum stattfinden. Eine juristische, politische und auch moralische Erneuerung, die ihresgleichen sucht. Umso tragischer stellt sich, vor diesem Hintergrund, das Verhalten der gegenwärtigen US-Regierung dar: Sie bringt zum Einsturz, was die US-amerikanische Demokratie mühsam aufgebaut hat.
Zudem wissen besonders wir Westdeutsche, dass sich der damalige Besatzer USA äußerst fair verhalten hat. Die Beachtung des internationalen Rechtsgedankens und demokratischer Grundrechte prägten eindeutig das Vorgehen der Supermacht. Natürlich gab es das Machtkalkül, mit einem demokratischen und wirtschaftlich starken Westdeutschland ein Bollwerk gegen den kommunistischen Osten zu schaffen. Doch ein Machtzynismus, der sich brutal über die Legalität hinwegsetzt, war dabei nicht wirklich festzustellen. Im Gegenteil: Was sich im Gedächtnis der Deutschen festgesetzt hat, war die positive Meinung, dass eine Siegermacht nicht automatisch zum Despotismus geraten muss. Dass demokratische Prinzipien nicht unvereinbar mit ihr sind. Gerade deshalb ist der Schock über das wild gewordene Verhalten der Bush-Administration so lähmend und groß. Wir kennen ein anderes Gesicht der USA, deren Freiheitsliebe nicht nur Makulatur war. Die Befreiung von den Nazis war nicht nur für uns, sondern auch für das Völkerrecht ein Hoffnungsschimmer. George W. Bush ist gerade dabei, dieses positive Image endgültig zu ruinieren.
Ein noch wichtigerer Punkt ist, dass man die demokratischen Kräfte in den USA selbst nicht unterschätzen sollte. Auch Pinter weist darauf hin, dass es diese Widerstände gibt, nur seien sie noch nicht politisch organisiert. Das mag zutreffen. Doch die Abwendung von Bush, auch in den eigenen Reihen, ist unübersehbar. Der Widerstand hat schon entscheidende politische Institutionen erreicht. Der US-Senat hat sich geweigert, die Anti-Terrorgesetze, die demokratische Grundrechte wie Postgeheimnis, Privatsphäre und Datenschutz erheblich einschränken, um weitere vier Jahre zu verlängern. Keine Zustimmung fand außerdem Bushs Plan, in Alaska zusätzliche Olförderungs-Anlagen zu errichten. Das sei ein Naturschutzgebiet. Und man könne die Fördermenge auch leicht durch Energieeinsparungen ausgleichen. – Das lässt sich doch hören.
Erkennbar wird ferner, dass auch in der breiten Bevölkerung ein Meinungsumschwung im Gange ist. Und längst schon ist es ein Makel der Bush-Regierung, wie sehr sich Intellektuelle, Schauspieler, überhaupt die Branche der Kulturschaffenden von dieser Politik entschieden distanziert haben. Die Rede des neuen Literatur-Nobelpreisträgers ist nur eine weitere schallende Ohrfeige, die diese Regierung zu Recht einstecken muss. Auch glaube ich nicht, dass Bush und seine Helfershelfer so unbeirrbar und zynisch in ihrer Haltung sind, wie Pinter behauptet. Die Medien sind in ihrer Machtstruktur stets zweideutig: Unter dem Schock des 11. September haben sie sich mit der Eleganz und Willfährigkeit eines Joysticks manipulieren lassen. Widerspruch schien unpatriotisch. Doch jetzt gerät die Regierung selbst ins Visier der Medien. Ihre Politik wird kritisch kommentiert und zum Thema gemacht. Die Meinungsmacht der Medien kehrt sich bekanntlich schnell gegen den, der sie gewohnheitsmäßig für sich arbeiten lässt. Und auch diese Regierung ist nur auf Zeit gewählt. Die Hauptdarsteller werden nervös. Sie könnten ganz anders in die Geschichte eingehen, als sie geplant haben. Und so lange ein regelrechter Staatsputsch unwahrscheinlich ist, und das ist er, wenn man die Freiheitsliebe der meisten US-Amerikaner kennt, so lange werden Bush und Konsorten jetzt selbst zur Zielscheibe der Medien. Frau Rice hat, auf ihrer letzten Europareise, schon einen Vorgeschmack davon bekommen. Die Pressekonferenzen waren ein Spießrutenlaufen, in dem ständig Foltervorwürfe zu dementieren waren. Es entsteht so etwas wie eine Weltöffentlichkeit, die Taten beurteilt – und auch verurteilt.
Immer mehr Menschen in den USA erholen sich auch langsam von dem Schock durch den 11. September. Sie gewinnen wieder Abstand und nehmen eine klarere Perspektive zum Verhalten ihrer Regierung ein. Die demokratischen Selbstheilungskräfte in diesem Land sind groß. Auch wenn die Kritikfähigkeit vorübergehend Schaden nahm. Denn seit dem Sezessionskrieg im 19. Jahrhundert haben die USA auf eigenem Boden keine kriegsähnlichen Zustände mehr erlebt. Sie haben deshalb sehr unbesonnen den Rat von Frankreich und Deutschland ignoriert, den Weg des internationalen Rechts nicht zu verlassen und nicht ohne UNO-Mandat einfach zuzuschlagen. Und die Bush-Administration hatte leider nicht die intellektuelle Statur, um die Meinung derart kriegserfahrener europäischer Länder ernsthaft zu würdigen. Man hat lieber auf pure Macht und handstreichartige militärische Abenteuer gesetzt. – Statt die wie gesagt einmalige Chance zu nutzen, eine schlagkräftige Völkergemeinschaft auf dem Boden internationalen Rechts zusammenzuschweißen. Pinter trifft ins Schwarze, wenn er diesen entscheidenden Punkt anprangert. Dennoch glaube ich nicht, dass die USA nicht zur Umkehr in der Lage sind. Dass ausgerechnet George W. Bush die demokratische Geschichte dieses Landes auf immer und ewig schädigt. Zu viele US-Amerikaner fangen nachgerade an, sich dieses Präsidenten zu schämen.
Mit einem Mythos allerdings hat die Pinter-Rede tatsächlich gründlich aufgeräumt. Nämlich dem Mythos, Schriftsteller verstünden nichts von Politik. Jedenfalls wissen sie weit besser, die Konsequenzen geistigen und moralischen Fehlverhaltens wahrzunehmen, als Leute, die außer ihrem Reichtum und ihren lokal begrenzten Erfahrungen in der Öl-Industrie keinerlei Kompetenz oder auch nur zureichende Allgemeinbildung mit in das Regierungsamt bringen. Die US-amerikanische Demokratie muss sich die Kritik gefallen lassen, dass ihr gesamtes Wahlsystem einer grundlegenden Reform bedarf. Erste Grundbedingung, um ein nennenswertes politisches Amt zu erreichen, ist Geld, Geld und wieder Geld. Anders lassen sich faktisch keine Wahlkämpfe bestreiten. Das ist kulturlos, besonders, wenn es um die Geschicke des eigenen Landes geht. George W. Bush spricht weder eine Fremdsprache – der Schlüssel zum Verständnis anderer Kulturen - noch hat er jemals im Ausland gelebt oder gearbeitet. Internationale Qualifikationsstandards, wie sie im US-Management schon lange herrschen, wären hier dringend erforderlich. Wer so viele materielle Möglichkeiten hatte wie Bush junior und es dennoch nie fertig gebracht hat, außer der texanischen Mentalität auch noch andere Denkweisen kennen zu lernen, müsste schon im Ansatz für jedes politische Amt disqualifiziert sein. Denn wer nie eine fremde Kultur auf sich wirken ließ, wird niemals zu seinen eigenen Vorstellungen einen selbstkritischen Abstand finden können. Es fehlt schlicht jede Vergleichsmöglichkeit. Derlei Kandidaten sind demnach absolut unfähig, ein Amt mit globalen Dimensionen auszuüben. Die Aufwertung des Geldes zum alleinigen Maßstab für Kompetenz hat den USA jedenfalls einen Präsidenten beschert, der die imperialen Einflüsterungen seiner viel intelligenteren Berater nahtlos in die Praxis umsetzt. Und auch technisch scheint das Wahlsystem übrigens sehr überholungsbedürftig. Durch numerisch komplizierte Wahlmänner-Ernennungen hat Bush noch nicht einmal die Mehrheit der amerikanischen Stimmen auf sich vereint. Und ob er sie bei der Erstwahl hatte, mussten Gerichte entscheiden.
Auch ist fraglich, wie es um die Kritikfähigkeit der US-amerikanischen Medien bestellt ist. Welchen Tatsachen sie Aufmerksamkeit schenken und welchen nicht, kann nur Staunen hervorrufen. Größte Kleinlichkeit in der political correctness kontrastiert mit größter Nachlässigkeit in moralisch wirklich bedeutsamen Fragen. 1998/99 musste Bill Clinton wegen der Lewinsky-Affäre ein Amtsenthebungsverfahren über sich ergehen lassen. Die Bereitschaft der Öffentlichkeit, über die Sexualmoral mit Argusaugen zu wachen, ist an sich nicht verwerflich. Das Verhalten des Präsidenten war gewiss skandalös. Doch wenn man weiß, dass das so genannte „Impeachment“ in der Geschichte der Vereinigten Staaten insgesamt nur zwei Mal zur Anwendung kam, dann stimmt das sehr nachdenklich: 1868 im Falle des Präsidenten Andrew Jackson, der kurz nach dem Bürgerkrieg wieder die Südstaaten aufwerten wollte; der zweite Fall ist schon die Affäre Lewinsky. Nur noch ein weiteres Mal wurde ein „Impeachment“ jemals geplant – gegen Präsident Nixon, der es nicht dazu kommen ließ und am 9. August 1974 lieber freiwillig zurücktrat. Mit anderen Worten: Die Sexualmoral nimmt heute in den USA eine wahrhaft staatstragende Bedeutung an. - Während die Regierung Bush bei der Rechtfertigung der Irak-Invasion die US-amerikanische Bevölkerung belogen und das Völkerrecht gebrochen hat. Das löst, zweifellos durch fehlende kritische Kommentierung, natürlich keinen Skandal aus. Und erst recht kein „Impeachment“.
Arbeiten die Medien in Deutschland seriöser und kritischer? Die Rede Pinters hat jedenfalls unter Beweis gestellt, dass die Meinungsmacher sehr viele Dinge zeigen und trotzdem die kritische Kommentierung ausbleibt. Sonst würden wir den Fakten nicht so hypnotisiert ins Gesicht starren und so tun, als existierten sie gar nicht. Die Aufnahme von Pinters sensationell klaren Worten fiel bisher äußerst zögerlich, ja erbärmlich aus. Das politische Interesse ist viel zu groß, die ohnehin gespannten Beziehungen zu den USA nicht noch zusätzlich zu belasten. Und eine derart erbarmungslose Klarheit, die uns zwingt, die eigene Wahrnehmungsunfähigkeit endlich wahrzunehmen, braucht sicher Zeit zur Verarbeitung. Es ist allerdings fraglich, ob diese Verarbeitung überhaupt stattfindet. – Die Fakten: Kurz nach Veröffentlichung des Redetextes brachte Spiegel online immerhin einen Artikel mit einigen Auszügen. Den Sprung in die gedruckte Montagsausgabe jedoch hat das Thema nicht geschafft. Anderntags kaufte ich (die Mittel eines freien Schriftstellers sind begrenzt) die Bild-Zeitung. Nur um der Form halber sicher zu gehen. Natürlich stand da über Pinter kein Wort. In der Stuttgarter Zeitung fand ich einen kleinen Randartikel. Auf Seite 35 in der Sparte Kultur. Die Cannstatter Zeitung war etwas progressiver: Der Nobelpreisträger schaffte es auf Seite 34, ebenfalls Sparte Kultur. Diesmal am linken Rand. Die Überschriften lauteten alle gleich: Pinter attackiert USA. Die Verunsicherung in der Presse ist mit Händen zu greifen. Ebenso die unbeholfene Einordnung des Themas: Ein exzentrischer Autor, der den Lieblingssport aller Intellektuellen betreibt: den Anti-Amerikanismus. Aber nur kein Wort zu viel berichten. Ist gefährlich. Aber auch nicht gar kein Wort berichten. Geht nicht. Nobelpreisträger.
Kommen wir zu der wahren Meinungsmacht in unserer Republik, dem Fernsehen. Zunächst erfolgte gar keine Reaktion. Erst drei Tage nach der Publikation der Rede, anlässlich der Preisverleihung am 10. 12. 2005, regte sich etwas. Tatsächlich: In den Tagesthemen wurde ein winziger Ausschnitt aus der Rede präsentiert. Es waren die zentralen Sätze Pinters über den Völkerrechtsbruch der Regierung Bush. Das hätte man nicht besser auswählen können. Und immerhin hatten es diese Sätze geschafft, bis in die deutschen Wohnzimmer durchzudringen. Allerdings dauerte alles nur gespenstisch kurz. Die Fernseh-Präsentation der Rede wirkte wie ein Gleichnis ihres Inhalts: Fakten an sich sind unwirklich und wirkungslos ohne kritische Kommentierung und ohne Unterscheidung von wahr und falsch. Ein kurzes Aufflackern, ein kleiner Riss in der Kontinuität unserer Wahrnehmung – und schon sind sie wieder verschwunden. Doch zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass manchmal kein Kommentar besser ist als ein unpassender. Direkt nach Pinters Erscheinen folgte ein Schwenk zur Verleihung des Friedensnobelpreises, der an die Internationale Atomenergiebehörde IAEA und ihren Direktor Mohamed El Baradei übergeben wurde. Die kritische Kommentierung bei diesem Schwenk lautete etwa wie folgt:

Solche Sätze (Pinters Feststellung des Völkerrechtsbruchs der USA) finden natürlich Beifall. Aber dem stillen Wirken in alltäglicher Kleinarbeit von Menschen wie El Baradei und seiner Behörde verdanken wir oft reale Fortschritte in der schwierigen politischen Praxis.

Wieso ist es „natürlich“, dass solche Sätze Beifall finden? Es ist eher unnatürlich, dass uns Pinter so unnachgiebig sagen musste, was offensichtlich keiner sehen wollte. Und was soll das bedeuten, El Baradei ausgerechnet gegen Pinter auszuspielen? Er bekam die Hälfte des Friedensnobelpreises zugesprochen, weil er 2003 im Irak-Krieg seine Standhaftigkeit und Glaubwürdigkeit bewahrte. Auch der massive Druck der USA ließ ihn nicht von der Aussage abrücken, dass der Irak keine Atomwaffen besitzen könne. Er weigerte sich also, den Mächtigen eine Legitimation für den Völkerrechtsbruch zu verschaffen, ja ist ein Kronzeuge dafür, wie verlogen die derzeitige US-Regierung agierte. Mit anderen Worten: Pinters Rede, allen voran die Sätze, die im Fernsehen hörbar wurden, ist die direkte geistige Begründung für die politische Machtlosigkeit der wahrheitsliebenden Waffeninspektoren. Sie verhalten sich wie Ursache und Wirkung zueinander. Und beide, Pinter wie El Baradei, beharren auf der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge, ohne sich den Mund verbieten zu lassen. Dass Pinter Schriftsteller ist und demnach seine Arbeit auf geistige Gesetzmäßigkeiten konzentriert, dass er gegen Sprachverfälschungen und für eine kritische Wahrnehmung der Fakten plädiert – das steht in keinem Widerspruch zu El Baradei. Es ist das gleiche gewissenhafte Arbeitsethos, das beide Männer auszeichnet. Die mehr als unglückliche Kommentierung in den Tagesthemen, die Pinter in die antiamerikanische Eckensteherei weltfremder Intellektueller abschiebt, ist entweder gewollt; oder der Kommentator hat die Rede nicht wirklich gelesen und einen Schnellschuss aus der Hüfte abgefeuert. Wer indessen glaubt, dass wenigstens das heute-journal eine bessere Arbeit abgeliefert hätte, der täuscht sich leider gewaltig: Dort wurde rein gar nichts gezeigt oder berichtet. Und demzufolge auch nichts kommentiert.
Wenn der vorliegende Essay einen kleinen Teil dazu beitragen kann, dass in den Medien eine kritische Auseinandersetzung über Pinters Rede stattfindet, dann hätte er sein Ziel vollkommen erreicht. Dieser geistige Grundlagentext ist noch unendlich vieler Auslegungen fähig. Und alle Schreibenden sind es dem Mut Harold Pinters schuldig, seiner Stimme Gehör zu verschaffen. Nicht umsonst erinnert uns Pinter gegen Ende seiner Rede an die existenziell gefährdete Identität des Schriftstellers:

Das Leben eines Schriftstellers ist ein äußerst verletzliches, fast schutzloses Dasein. Darüber muss man keine Tränen vergießen. Der Schriftsteller trifft seine Wahl und hält daran fest. Es stimmt jedoch, dass man allen Winden ausgesetzt ist, und einige sind wirklich eisig. Man ist auf sich allein gestellt, in exponierter Lage. Man findet keine Zuflucht, keine Deckung – es sei denn, man lügt – in diesem Fall hat man sich natürlich selber in Deckung gebracht und ist, so ließe sich argumentieren, Politiker geworden.

Da also Schriftsteller auf sich allein gestellt sind, sollten sie wenigstens untereinander mehr Solidarität üben. Kritische Solidarität. Man mag zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommen als Pinter. Und mit Sicherheit ist die Realität differenzierter als seine Rede sein kann. Doch allein schon die Fakten, die er vorträgt, beweisen eindeutig, wie heruntergekommen, ja verkommen der kritische Journalismus sich heute darstellt. Denn all diese genannten Fakten sind zu unserer großen Schande längst bekannt. Menschen wie Pinter sorgen dafür, dass wir diese Tatsachen wieder sehen können. Mehr noch: Sie halten durch ihre unbeirrbare Analyse geistiger Inhalte die Möglichkeit offen, Fakten überhaupt noch selbständig interpretieren zu können.
Diese Rede hat es nicht verdient, kritiklos und kommentarlos im Orbit der Medien zu verhallen.

Günter Bachmann, Januar 2006