SUSAN, AHNUNGSLOS
DEUTSCHE ERSTAUFFÜHRUNG AM THEATER DER ALTSTADT

Im „Theater der Altstadt“ in Stuttgart gibt es noch bis zum Juli 2009 die deutsche Erstaufführung von „Susan, ahnungslos“ zu sehen. Das Ein-Personen-Stück des britischen Autors Stewart Permutt hatte am 3. Oktober 2008 Premiere.

Eine breite Fensterfront mit seidigen Vorhängen schließt den Hintergrund vollkommen ab. Vorne rechts ein heimelig antiquierter Sekretär, dahinter ein Regal mit ein paar Aktenordnern und ein Küchentisch. Ganz links steht ein großer Spiegel. Und in der Mitte, nicht zu vergessen, eine mit Alkoholika bestückte Hausbar.

Gute Bühnenbilder charakterisieren. Susan fehlt es materiell an nichts. Sie lebt allein in einem Kaff in Hampshire. Eine gestandene geschiedene Frau, die sich Respekt und Anerkennung verschafft hat. Sie hat lebhafte soziale Kontakte, spielt im Laien-Theater, gewinnt beim Wettbewerb im Kuchenbacken.

Simon, ihr Sohn, ist allerdings labil. Seine Biografie besteht aus depressiven Schüben und gelegentlichen aggressiven Anwandlungen. Fast dreiunddreißig Jahre alt, zeigt er erste Anzeichen von Selbstständigkeit. Er ist nach London gezogen und gründet dort mit einem jungen sympathischen Ägypter eine Wohngemeinschaft.

Sensationelle Nachrichten für die Mutter, die ihn finanziell und emotional aufopfernd unterstützt hat. Sie dankt dem Himmel für Jamal, Simons neuen Freund, der ihn auf den rechten Weg zu bringen scheint.

Ein Mutter-Sohn-Konflikt ist das ganz gewiss nicht. Denn dafür fehlt das entscheidende Motiv: besitzergreifende Eifersucht. Bei aller Sensibilität ist Susan ausgeglichen genug, um ihren Sohn nicht etwa mit Liebe zu erdrücken.

Im ersten Teil entwickelt Susanne Heydenreich diese Figur in all ihren schwierigen Nuancen und Übergängen. Sie spielt ihre professionelle Bühnenpräsenz aus, hantiert an allen Ecken und Enden, ohne hektisch oder mechanisch zu wirken. Sie spricht ihre Monologe, moduliert punktgenau Stimme und Stimmung zu einem überzeugenden Selbstgespräch, dem nichts Aufgesetzt-Theatralisches anhaftet: Susans Hang zur Selbstbeobachtung, ihre sarkastische Abneigung gegen spirituelles Life-Style-Wischiwaschi, ihr Durchsetzungsvermögen und ihre Verletzlichkeit; ihre Religiosität und die Liebe zu ihrem Sohn. – Wenn der Pausenvorhang fällt, steht der Charakter vollentwickelt zur Fortsetzung bereit. Zur Katastrophe.

Die letzte Wahrnehmung im ersten Teil ist das Flimmern und Flackern von Blaulicht, das durch die Fensterfront hereinbricht. Um vier Uhr morgens steht die Polizei vor der Tür. Das verheißt nichts Gutes, wie der zweite Teil auch sofort bestätigt: Simon hat in London ein Selbstmordattentat verübt, bei dem er mehrere Menschen tötete. Seinen Freund Jamal hat er nicht auf einem Rockkonzert, sondern in einer Moschee kennengelernt. Die ahnungslose Susan begreift, dass ihr Sohn von Fundamentalisten indoktriniert wurde.

Susans Welt zerbricht. Am Tod ihres Sohnes, aber auch am Tod ihres Soziallebens. Sie wird ausgegrenzt und wie eine Mitschuldige betrachtet. Wenn nicht sogar als Hauptschuldige. Susanne Heydenreich zeigt, wie die hart erkämpfte Normalität zersplittert und ein Häufchen Elend zurückbleibt. Wie enttäuschte Mutterliebe und Isolation den letzten Rest der Selbstachtung zerfressen. „Letzten Endes“, meint Susan, „bin ich wohl nicht schuld.“ Es gibt in jedem Menschen den archimedischen Punkt sittlicher Entscheidungsfreiheit, den nicht einmal die reinste Mutterliebe beeinflussen kann.

Auch auf das Phänomen der Selbstmordattentäter fällt ein neues Licht, düsterer vielleicht und trüber als die grelle Brutalität der Tat selbst: Die Egozentrik und dogmatische Rechthaberei geht so weit, dass die Täter verdrängen, welchen Flurschaden sie in ihrem gesamten Umfeld anrichten. Für ihre Gemeinschaft mit einem eingebildeten Gott zerstören sie die reale Gemeinschaft mit den Menschen. Genau genommen lebt kein Mensch allein, solange sein Tun jedem Angehörigen die Freiheit eines selbstbestimmten Lebens nimmt. Ein Selbstmordattentäter aber verhält sich, als lebe er allein auf der Welt. Mit Ausnahme seines exklusiven Clubs und Gott persönlich. Er ist die höchste Steigerung des Egoismus.

Doch das ist freilich nur der psychologische Ertrag, den der Rezensent gerne mit nach Hause nimmt. „Susan, ahnungslos“ ist keineswegs plakativ moralisch. Das Stück leistet vor allem eine enorme Sensibilisierung. Wann hat man schon mal Gelegenheit, die Innenwelt einer Mutter kennenzulernen, die mit der „Tat“-Sache eines derartigen Sohnes fertig werden muss?

Äußerst positiv an dieser deutschen Erstaufführung ist die originelle Inszenierung durch den Regisseur Günter Maurer. Der erfahrene Hörspiel- und Radio-Feature-Regisseur bringt eine gekonnte akustische Orchestrierung auf die Theater-Bühne. Selten erlebt man sie so gut mit der visuellen Ebene verknüpft. Nicht nur kombiniert, sondern komponiert. Sehr gelungen ist der Einfall, Susans Stimme gelegentlich „offstage“, mittels Lautsprecher, einzublenden – während die jetzt sprachlose Susan in sich hineinhört. So wird das Unsagbare paradoxerweise hörbar. Und gleichzeitig sichtbar. Auch die Welt jenseits der Fenster-Rückwand wird akustisch hereingeholt. Die intensive Stimmung des Stücks wird durch musikalische Elemente rhythmisiert und gebändigt. Hinzu kommt das pointiert eingesetzte Mittel der Apostrophe, also die fiktive Anrede abwesender Personen: Heydenreich gelingt es, ihre Monologe in witzige Sprecherrollen aufzuteilen, womit sie Dialoge mit Abwesenden parodistisch vorspiegelt.

Auf diese Weise wird das Äußere ins Innere, das Innere stets ins Äußere versetzt. Anwesendes verweist auf Abwesendes und umgekehrt. Ein gutes Bühnenbild, gute Regie und eine gute Schauspielerin beschwören mit wenig Mitteln die sogenannte postmoderne Befindlichkeit – erzeugen den Verdacht, dass Zeichen keine feste Bedeutung haben, dass nichts so ist oder sein muss, wie es scheint.
Da braucht es keine sprachlich-experimentellen oder formalen Verrenkungen. Aufklärerische Sensibilisierung ohne aufdringliche Botschaft – die tun es auch.

Bleibt zu hoffen, dass die kleinen Theater Stuttgarts das Publikum auch weiterhin mit so außergewöhnlichen Darbietungen beglücken dürfen. Denn die nächste Wirtschaftskrise ist bereits da. Und die Kultur trifft es immer zuerst. Was Sie tun können? – Hingehen, anschauen!

Günter Bachmann, Oktober 2008

Infos
Susan, ahnungslos
Von Stewart Permutt,
aus dem Englischen von Raymund Stahl.
Mit Susanne Heydenreich
Regie: Günter Maurer
Bühne: Siegfried Albrecht
Kostüme: Claudia Flasche