Neujahrsgruß 2010

Rechtzeitig zum neuen Jahr 2010 gibt es Grüße von Ingrid Schmidt, der Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts.

Sie verteidigt Kündigungen wegen Bagatelldelikten. Denn seit dem sogenannten "Bienenstich-Urteil" des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 1984 steht unwiderruflich fest: "Es gibt keine Bagatellen." – Ein Satz von umwerfender Logik: Es gibt nicht, was es gibt: 6 Maultaschen, eine Frikadelle mit zwei halben Brötchen, einmal Handy-Aufladen für 0,014 Cent, Pfandbons in Höhe von 1,30 Euro – das sind nun mal Bagatellen. Vor allem als Kündigungsgrund für ein Arbeitsverhältnis. Deshalb sprechen juristische Kritiker des "Bienenstich-Urteils" vom Begriff der Verhältnismäßigkeit. Nach heutigen Vorstellungen sei es unverhältnismäßig, einer Backwarenverkäuferin wegen eines gemopsten Stückchen Kuchens sofort die Kündigung auszusprechen. Eine Abmahnung tue es auch.

Ist das nicht bewundernswert? - Die Logik der Justiz hat immer schon ein Sicherungssystem gegen das eigene Versagen eingebaut. Genau wie ein zeitweise Wahnsinniger, der seine Anfälle kennt und entsprechende Vorkehrungen trifft.

Das ist aber nur die Idee der Justiz. Die Realität heißt leider Ingrid Schmidt. Sie und ihr erlesener Stand, gut bezahlt, sicher verbeamtet und himmelhoch schwebend über sozialen Realitäten, sind waschechte Rechtspositivisten. Das heißt: Geschriebenes Recht ist nicht nur Recht, sondern bleibt Recht. Und zwar deshalb, weil es geschriebenes Recht ist und genau so geschrieben steht. Was also einmal Recht ist, muss immerdar Recht bleiben. Auch wenn Zeiten und Sitten sich noch so sehr ändern:

Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine ew'ge Krankheit fort;
Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh dir, dass du ein Enkel bist!
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist, leider! nie die Frage.
(Faust I)

Das Einzige, was zugunsten des Rechtspositivismus spricht, ist natürlich die Verlässlichkeit des geschriebenen Gesetzes, die Rechtssicherheit. Verhältnismäßigkeiten ändern sich nur langfristig und evolutiv, deshalb ist es nicht klug, zu vorschnell bestehendes Recht zu verändern.

Allerdings war das "Bienenstich-Urteil" bereits zum Zeitpunkt des Spruchs veraltet: 1984 gab es das paternalistische Firmenprinzip längst nicht mehr: nämlich Gehorsam von unten nach oben und soziale Verantwortung von oben nach unten. Getragen von Vertrauen und strengen bürgerlichen Eigentumsbegriffen, die Diebstahl als Schwerverbrechen betrachten, unabhängig vom entstandenen Schaden. Diese Sitten könnten wir übrigens gerne wieder einführen: Denn hatte sich in der bürgerlichen Kaufmannswelt ein Firmenchef verspekuliert, trug er persönlich die Verantwortung und schoss sich eine Kugel durch den Kopf. Wenn unsere Manager diesem Vorbild nacheifern würden, hätte gewiss niemand etwas dagegen, wegen der Entwendung einer Frikadelle entlassen zu werden.

Doch die Topmanager sind damit beschäftigt, ihre sittenwidrig hohen Abfindungen und Boni zu kassieren, selbst wenn sie alles an die Wand gefahren haben. "Es gibt keine Bagatellen" – hier stimmt der Satz: Denn ganz oben werden tatsächlich keine Kleinigkeiten abgezockt. Summen, die das Vielfache eines durchschnittlichen Jahresgehalts ausmachen, gelten dort allenfalls als Peanuts. Und da die Abzocker-Arbeitsverträge des Managements auf skandalöse Weise legal sind, verlangen diese Leute von ihren Untergebenen nicht nur eine Moral, die sie selbst nicht praktizieren; nein: Sie sollen sich auch noch als entlassungswürdige Gesetzesbrecher fühlen. Denn was dem Jupiter erlaubt ist, ist dem Hornvieh noch lange nicht erlaubt.

Jetzt ist seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts ein Vierteljahrhundert ins Land gezogen. Man sollte der Präsidentin samt ihrer Institution den Titel der "Rekordschlafmützen 2009" gleich fünfundzwanzig Mal zuerkennen. Rückwirkend bis 1984.

Da Frau Schmidt geistig noch im frühen 19. Jahrhundert lebt, wollen wir einige ihrer naiven Fragen beantworten, die sie mit verzweifelter Gebärde gestellt hat:

"Wie kommt man eigentlich dazu, ungefragt Maultaschen mitzunehmen?"

Dazu kommt es, wenn man ein kleiner Angestellter, eine Sekretärin, eine Altenpflegerin oder eine Lidl-Kassiererin ist, für die 6 Maultaschen, die man nicht einkaufen, zubereiten und vor allem nicht bezahlen muss, eine größere Versuchung darstellen als für eine Gerichtspräsidentin, die mit großzügigen Spesenkonten, netten Fortbildungsreisen und Büffets weit über Maultaschenniveau verwöhnt wird – zuzüglich zum weit üppigeren Gehalt.
Und dazu kommt es, wenn Bezieher eines niedrigen Einkommens bei höher bezahlten Kollegen genau dieses Büffet-Mitnahme-Verhalten studieren können und von ganz oben täglich gezeigt bekommen, wie man im großen Stil hemmungslos absahnt. Der Fisch stinkt vom Kopf her. Die Mitnahmementalität oben ist das Vorbild für die Mitnahmementalität unten. Das Management zeichnet für das Geschäftsklima verantwortlich. Wie der Herr, so das Gescherr.
Statt zum Bundesarbeitsgericht zu laufen, hätte der Chef der Backwarenverkäuferin sich sagen müssen, dass er als Führungskraft wohl ein ziemlicher Stinkstiefel sein muss und obendrein ein Geizkragen, wenn eine hungrige Verkäuferin sich nicht zu fragen getraut, ob sie mal einen Bienenstich naschen dürfe. Ein guter Chef hätte es jedenfalls zu schätzen gewusst, dass sich eine Verkäuferin mit ihrer Ware identifiziert und dass sie wirklich selbst für die Qualität der Produkte bürgen kann. Er hätte sich nur darüber beschwert, dass sie nicht das Vertrauen hatte, ihn vor dem süßen Diebstahl um Erlaubnis zu fragen. Ein guter Bäckerei-Chef wäre schlichtweg deprimiert und ließe es bei einer gutmütigen Ermahnung bewenden.

Noch naiver ist folgende Frage der Präsidentin:

"Jeder frage sich mal, wie viel er sich denn aus der eigenen Tasche nehmen lassen würde, bevor er reagiert."

Gute Frau – das fragen sich die unteren Einkommensbezieher schon seit der Wiedervereinigung: Für diese Lohngruppe sinkt das Realeinkommen seit Jahrzehnten, im oberen Lohnspektrum steigt es unverdrossen an. Man könnte sich höchstens beklagen, wie viele Nullrunden (mit Inflation sind das Minusrunden) sich die Menschen noch aufs Auge drücken lassen, bevor man genau diese Frage stellt: Wann man endlich reagiert? - Die eselhafte Langmut, womit sich die unteren Einkommen in Deutschland rupfen und ausnehmen lassen, sucht weltweit ihresgleichen.
Doch ganz oben gibt man sich in den Firmen rigoros: Kleinliche Überempfindlichkeit, moralische Empörung und Entlassung wegen jedem Cent – wenn er unten verschwindet. Legalisierung und zynische Menschenverachtung oben, wenn fürstliche Preisgelder an Versager ausbezahlt werden. – Übrigens kommen Bagatell-Delikte von Führungskräften kaum je zur Anzeige, und wenn, wird tatsächlich einvernehmlich von Bagatellen gesprochen, die es angeblich doch gar nicht gibt. Führungskräfte verdienen ja mehr als genug. Denen glaubt man, dass sie nur aus Unachtsamkeit etwas mitgehen lassen. Nicht nur in der Bildung – auch juristisch, medizinisch und steuerlich haben wir in Deutschland längst eine Zwei-Klassen-Gesellschaft.

Ob das nicht alles mit fehlendem Anstand zu tun habe, fragt sich die Präsidentin. Aber sicher: Wir haben eine höchst unanständige Elite. Und viel zu brave und anständige Arbeitnehmer. 6 Maultaschen statt Massendemonstrationen und Generalstreik – die da oben sollten dankbar sein. Wenn sie klug wären, würden sie gar nicht erst auf Bagatelldelikte aufmerksam machen. Aber klug sind sie nicht. Nur schamlos gierig, privilegiert und unerträglich selbstgerecht. Die Realitätsferne des großbürgerlichen Geldadels und Ämteradels ist das entscheidende soziale Problem in diesem Land.

Textuniversum, 31.12.2009