7. Juli 2010
Der deutsche Fußball tanzt in Afrika

Im Viertelfinale gegen Argentinien musste ich weinen – nicht um Argentinien natürlich, sondern vor Glück: Das hatten wir seit 1972 nicht mehr, dass eine deutsche Elf die Messlatte für den fortschrittlichsten Fußball der Welt ist.

Damals erfanden Netzer und Beckenbauer den Doppelpass und Breitner den Offensiv-Verteidiger. Vorne bombte Müller und der Maier Sepp ganz hinten hatte die genialste Strafraumbeherrschung.

Daran musste ich denken, als ich diesen Turbo-Fußball von einem anderen Stern sah. Dass man so einen Quantensprung noch einmal erleben darf, ist bewegend.

Es ist wirklich eine neue Art des Spiels: Enorm hohes technisches Niveau – aber ohne Kurzpass-Neurose, wie die Argentinier und Brasilianer. Dafür pfeilschnelles Gewinnen von Raum durch vertikale Pässe, fächerförmiges Ausschwärmen auf die Flügel, kluges Verlagern, variabler Rhythmus – so sieht der derzeit beste Fußball der Welt aus.

Und das alles aus einem Guss, als geschlossene Bewegung, 10 Angreifer und zehn Verteidiger.

Schon vor dem Spiel gegen Spanien und unabhängig von der Endplatzierung steht fest: Der deutsche Fußball ist nach langer Zeit wieder das Maß aller Dinge. Und daran dürfte sich die nächsten Jahre nicht viel ändern.

Löw muss mit Klauen und Zähnen gehalten werden. Sonst wird aus diesem wunderschönen Sommer nur ein Sammer.

10.Juli 2010

Nach dem Scheitern an Spanien im Halbfinale kam der Sturz ins Bodenlose.

Zu Recht. Man durfte mehr erwarten. Kompetente Experten stellten zwar fest, dass Spanien dem deutschen Team um zwei, drei Jahre in der Entwicklung voraus und derzeit das beste Team sei.

Trotzdem bleibe ich bei meiner Meinung, dass Deutschland derzeit den attraktivsten, schnellsten und modernsten Fußball spielt.

Man sollte nicht vergessen, dass noch keine Mannschaft ohne den Glücksfaktor Weltmeister geworden ist. Vielleicht war das bis zu den 70er Jahren noch etwas anders. Aber die Welt ist inzwischen enger zusammengerückt, die Leistungsdichte enorm gewachsen. Ohne Glück wird niemand Weltmeister. Auch Deutschland nicht. Gerade Deutschland nicht.

Betrachten wir doch mal die jüngste Geschichte: 2002 steht Deutschland im Finale. Mächtig gefördert durch das Glück: Als wir gegen Südkorea spielten, war der Gegner platt. Durch hohen läuferischen Aufwand und vorausgegangene Spiele mit Verlängerung. Die konnten uns nicht stoppen, weil wir ein relativ kräfteschonendes Programm hatten und also nicht nur spielerisch, sondern auch konditionell überlegen waren. Aber nicht einmal das Tournierglück – keine übermächtigen Gegner, kleine Vorteile bei Regenerationszeiten – konnte verhindern, dass es der Fußballgott im Finale mit den Brasilianern hielt. Wir verloren, obwohl wir eines der besten Spiele in der Geschichte des deutschen Fußballs gesehen hatten. Verloren durch das Missgeschick eines weltklasse Torhüters, der uns überhaupt erst ins Endspiel gebracht hatte.
Ohne Dusel geht eben gar nichts.

Und mit Dusel so gut wie alles. Siehe der Weltmeister 2006: Italien hatte ein lächerlich leichtes Vorrundenprogramm. Sie rumpelten mit geringstem Aufwand, größtmöglichem Glück und obendrein mit skandalösen Schiedsrichter-Entscheidungen völlig unverdient in die Endrunde. Dann wieder ein leichtes Programm. Italiens Halbfinalist-Gegner Deutschland aber hatte es mit dem schwersten Brocken zu tun und brauchte zur Beseitigung Argentiniens eine Bestleistung mit kraftraubender Verlängerung und Elfmeterschießen.
Ergebnis: Die italienischen Meisterstrategen spielten gnadenloses Pressing und brachen den Widerstandswillen in der Verlängerung. So habe ich die noch nie rennen sehen! Ergebnis: Gastgeber Deutschland ist im Halbfinale draußen. Obwohl wir schon 2006 unter Klinsi einen Fußball gespielt haben, der weltweit Begeisterung auslöste. Nach 2002 also zum zweiten Mal schlicht Pech gehabt.

Der Stellenwert des Tournierglücks (Gegner und Regeneration) spielt in jüngerer Zeit bei der WM eine immer größere Rolle. Denn im heutigen Hochgeschwindigkeits-Fußball entscheidet spätestens ab dem Halbfinale immer mehr die konditionelle Überlegenheit das Spiel. Die letzten vier Mannschaften können alle ausreichend gut Fußball spielen, um einen gravierenden Vorteil zu nutzen.

Die Europameisterschaft 2008 hatte ausnahmsweise mal keinen glücklichen, sondern einen hoch verdienten Sieger: Spanien. Deutschland hatte im Finale nie den Hauch einer Chance. Hochachtung dem spanischen Fußball. – Und dem unglücklichen Deutschland: Zum dritten Mal binnen eines Jahrzehnts unter den letzten vier bei einem großen Tournier, zum zweiten Mal im Finale – wieder nichts.

2010 fällt es mir schwerer, den Spaniern so ohne weiteres die Krone des Fußballs aufzusetzen. Deutschland hatte mit England und Argentinien (warum müssen immer ausgerechnet wir die bärenstarken Argentinier heimschicken?) das wesentlich härtere Programm. Und mit Serbien und Ghana keine bequeme Vorrunde. Die Spanier haben im Halbfinale weltklasse aufgespielt, das stimmt. Aber wer Augen hatte, der konnte erkennen, dass die Spanier körperlich und mental (das hängt zusammen) haushoch überlegen waren. Deutschland war nicht freiwillig so zahm und passiv, die Jungs hatten kaum noch Dampf im Kessel.

Das soll keineswegs das Spiel der Spanier schmälern. Sie hätten eigentlich mindestens vier zu null in Führung gehen müssen. Und natürlich haben sie verdient gewonnen. Nur: Tore schießen gehört zum Fußball. Und da ließen die Spanier enorme Schwächen erkennen. Wenn sie das im Finale nicht besser machen, werden sie nicht Weltmeister.

Ein Lob übrigens der Taktik des Wundertrainers Löw: Er hatte die geniale Idee, etwas zurückgezogen zu spielen, sich nicht totzulaufen und erst mal den Kasten sauber zu halten. Vielleicht einen Konter durchzubringen. Wer das kritisiert, weiß nicht, wie schwer es ist, gegen einen konditionell überlegenen Gegner dieser Extraklasse zu bestehen. Man braucht optimale Power, um so eine Mannschaft aktiv unter Druck zu setzen. Und die hatten wir nicht. Löw tat das einzig Richtige.
Beinahe wäre seine Rechnung auch aufgegangen: Die Spanier spielten aggressives Pressing. Mit der Löw-Taktik durften wir hoffen, dass ihnen irgendwann die Luft ausgeht. Das war um die 70. Minute auch der Fall: Die Spanier hatten ihre zahlreichen Chancen nicht genutzt und der Stecker war plötzlich bei ihnen gezogen. Deutsche Spieler gewannen Zuversicht, konnten erstmals freier den Ball führen, entwickelten Torchancen und kamen immer besser ins Spiel.

Just in diesem Moment machten die Spanier das Tor mit einem Standard und gewannen das Spiel. Wieder Pech: das vierte Mal in nur 8 Jahren den greifbar nahen Titel verfehlt. Und entgegen den Gesetzen des Fußballs: Denn wer so unvermögend vor dem Tor agiert wie die Spanier, der wird normalerweise brutal abgestraft.

Schwer zu sagen, ob Spanien auch ohne Tournierglück (Kräftevorteil durch leichtere Gegner) gegen Deutschland so hätte auftrumpfen können. Und sicher hat zur deutschen Niederlage auch die Unerfahrenheit junger Spieler beigetragen. Da haben sichtbar die Nerven geflattert.

Ich nehme nichts von meinem Urteil zurück, dass Deutschland inzwischen den weltweit besten Fußball spielt und vor allem im Torabschluss weit effizienter ist als etwa Spanien.

Spanien hat die letzten Jahre den Weltfußball dominiert. Der Fußballgott gibt ihnen die Chance, verdienter Weltmeister zu werden.

Und doch wäre dieses Mal Deutschland an der Reihe gewesen.

Nein, ein dritter, vierter Platz kann nicht trösten. Und den Titel eines "Weltmeisters der Herzen" haben wir schon 2002 und 2006 unfreiwillig gewonnen. Ein souveräner Europameister 2012 und ein ebenso souveräner Weltmeister 2014 – nichts Geringeres kann die deutsche Fußballseele heilen. Verlorene Finalteilnahmen, verlorene Halbfinalteilnahmen - die hatten wir jetzt wirklich mehr als genug.