Stuttgart, 17. April

Abschied ohne Größe

Hans-Frieder Willmann alias Fred Wiesen

Fred Wiesen, 50 Jahre lang Kolumnist des Stuttgarter Wochenblatts, verabschiedet sich in der Ausgabe vom 14.04 2011 von seinen Lesern. Das "Stuttgarter Tagebuch" war eine literarische Stuttgarter Institution. Niemand konnte umhin, gelegentlich über Wiesens Anmerkungen zu stolpern, wenn man nach einer Wohnung oder einem Gebrauchtwagen suchte. Zumal das Wochenblatt gratis an alle Haushalte geliefert wird. Jeden Donnerstag liegt es in Treppenhäusern oder im geschützten Eingangsbereich vor der Haustür bereit. Ein sehr hoher Verbreitungsgrad für einen Kolumnisten, denn der Schwabe liest schon aus Prinzip, was er geschenkt bekommt. Eine Aufmerksamkeitsgarantie ohne lästige Marktabhängigkeit von Verkaufszahlen – davon können Journalisten meist nur träumen.
Umso erstaunlicher ist es, dass sich Fred Wiesen um gute literarische Qualität bemüht hat, dass er vielseitig, differenziert und unterhaltsam über das Zeitgeschehen geschrieben hat. Er hätte es sich ja leichter machen können, hätte mit weniger Engagement seinen privilegierten Stammplatz in der regionalen Meinungsbildung behaupten können. Das hat er aber nicht getan. Und dafür gebührt ihm Anerkennung und Respekt.

Fast 50 Jahre lang hat er dieses Niveau gehalten. Aber eben nur fast. In der Diskussion um Stuttgart 21, besonders seit dem Beginn der Großdemonstrationen im letzten Jahr, hat die Qualität seiner Kolumnen erschreckend nachgelassen. Nicht etwa deshalb, weil er zu den bekennenden Befürwortern des Projekts zählte. Ein Kolumnist darf seine Meinung durchaus offensiv und auch polemisch vertreten. Doch die Art und Weise, wie er mit Andersdenkenden umgesprungen ist, ließ jede journalistische Sorgfalt vermissen. Ich erinnere mich deutlich an einen längeren Text, in dem Wiesen die Vorzüge von Stuttgart 21 argumentativ verteidigte: Arbeitsplätze, Modernisierung etc. Gut, dachte ich, der Mann ist halt dafür. Doch dann kam eine Passage, wo er wortwörtlich jeden als hoffnungslosen Dummkopf bezeichnete, der das Gewicht dieser Argumente nicht einsehe und gegen Stuttgart 21 wäre. – Hoppla, da war wohl einer selbstherrlich von der eigenen Meinung überzeugt. Hatte der nicht mitbekommen, dass inzwischen eine breite Palette von komplexen Argumenten sowohl für wie gegen Stuttgart 21 sprach? Und ist es nicht sehr wohlfeil, aus einer derart etablierten Position heraus die einflussreiche Regierungsmeinung zu vertreten und auf Gegenmeinungen derart beleidigend einzuprügeln?
Noch bestürzender war eine weitere Entgleisung, die kurz darauf folgte: Nach dem umstrittenen Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten verstieg sich Wiesen zu der Meinung, dass die demonstrierenden Projektgegner die Demokratie gefährdeten. Da wisse er, Fred Wiesen, Bescheid. Das hätten wir schon einmal erlebt. Er rückte also legal angemeldete Demonstrationen, legitimiert durch die Versammlungsfreiheit in unserer Verfassung, in die Nähe demokratiegefährdender Umtriebe. Das war ein Schlag ins Gesicht zehntausender friedlich demonstrierender Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte unserer Gesellschaft. Wiesen aber goss weiter Häme aus über alle, die "dagegen" seien, ohne zu überlegen, dass genau dafür das Grundgesetz das Demonstrationsrecht geschaffen hatte. Programme machen Parteien. Bürger aber drücken gewöhnlich ihren Unmut aus. Und wenn man gute Argumente hat, die viele Menschen mobilisieren, dann soll der Souverän – das Volk – die Möglichkeit haben, eben diesen Unmut friedlich auszudrücken und auf die Politik Druck auszuüben.
Die Projektgegner sind laut Fred Wiesen jedenfalls dumm und gefährden mindestens unwissentlich die Demokratie. Differenzierter und klug abwägender Journalismus sieht anders aus.

"Natürlich weiche ich nicht vor den Stuttgart-21-Gegnern. Aber ihre Hassbriefe, ihre bösen Beschimpfungen haben mich schon getroffen."

Schreibt Fred Wiesen zum Abschied. Hassbriefe und böse Beschimpfungen sind zweifellos unschön. Wer aber selbst unter die Gürtellinie tritt und selbst nicht mit üblen Beleidigungen und Verdächtigungen spart – nun, der muss auch die Antwort vertragen können. Auch wenn diese Antworten in Stil und Inhalt vielleicht nicht auf der professionellen Schreibhöhe des verehrten Kolumnisten sind. Herr Wiesen hat sich in einer öffentlichen Debatte sehr weit aus dem Fenster gelehnt. Und Gegenwind war er in seiner Position wohl nie recht gewöhnt. Huch! – da sind ja die Leser, da gibt es ja eine Außenwelt, ja wie: Sollte es jetzt tatsächlich um meine unbestrittene Meinungshoheit gehen? Ich werde kritisiert – ich stehe in Frage – ich sollte mich rechtfertigen? –

"Und wenn ich das Tagebuch weiterhin schreiben würde, könnte ich Stuttgart 21 nicht ausklammern. Gegen die festzementierten Argumente dieser Besserwisser weiterhin anzukämpfen, dazu habe ich keine Lust mehr, das muss ich mir nicht antun."

Das heißt: Nur meine Meinung ist nicht festzementiert. Aber alle Meinungen der Projektgegner sind es. Die Projektgegner stammen aber aus allen Bereichen und Schichten dieser bürgerlichen Gesellschaft. Ziemlich kühn, alle für "festzementiert" in ihren Meinungen zu halten. Und ohnehin für Besserwisser. - Schon die Wortwahl "festzementiert" – also hoffnungslos unzugänglich und damit letztlich dumm – zeigt deutlich, dass der Zement wohl eher im Kopf des Autors angerührt wurde.
Vielleicht fragt sich jetzt mancher, was Fred Wiesen eigentlich macht, sollte der Stresstest eindeutig gegen Stuttgart 21 sprechen. Oder nehmen wir an, die Kostenrechnung geht am Ende nicht auf? Ich bekenne meine Unwissenheit, wie diese Ergebnisse ausfallen. Auch hat mich die hervorragende Faktenaufarbeitung in der Schlichtung davon überzeugt, dass es sich ohnehin um ein sehr komplexes Thema mit Pro und Contra handelt. Fred Wiesen aber weiß alles schon und wusste alles von Anfang an. Ja – was macht er denn nun, wenn Stuttgart 21 wirklich eine Fehlplanung ist? – Die Antwort ist leicht: Er macht nichts. Er tritt lieber zurück, bevor er einmal zugeben müsste, womöglich nicht recht gehabt zu haben. Darauf hat er nämlich keinen Bock, denn freilich: Ausklammern könnte er das Projekt in der Tat nicht.

Natürlich hat man im Alter von 90 Jahren das gute Recht, jede Tätigkeit niederzulegen. Was soll dann aber dieses unwürdige Nachtreten? Von Altersmüdigkeit, geschweige denn Altersweisheit zeugt das sicher nicht.

"Es geht diesen "Stuttgartern" letztlich gar nicht um den Bahnhof, sondern um die Rechthaberei. Sie merken nicht, dass sie dabei sind, die Demokratie auszuhebeln."

Wieder Beleidigungen. Der Rechthaber vom Wochenblatt-Dienst bezichtigt eine breite bürgerliche Bewegung als "Rechthaber". Garniert mit wirklich unverschämten Diskriminierungen: Stuttgarter, die gegen S21 sind – sind keine richtigen Stuttgarter, sind nur behelfsmäßige Karikaturen eines Stuttgarters, nur Anführungszeichen-Stuttgarter. Dann eine dunkle Anspielung, dass die Gegner dabei seien, die Demokratie auszuhebeln. – Warum? - Weil ein Bahnhof vielleicht nicht gebaut wird? Weil nach 57 Jahren mal eine andere Partei als die CDU regiert? Oder sind wieder Weimarer Demokratiegefährder am Werk? Aber nein – sie wissen ja nicht, was sie tun. Dumm und demokratiefeindlich – über dieses Urteil gelangt Wiesen nie hinaus.

Wie es um sein eigenes Demokratieverständnis angesichts solch übler Diskriminierungen und Beleidigungen steht, lasse ich dahingestellt. Interessant ist aber die redaktionell abgesegnete Lobrede des Wochenblatts -

"Wo es zu loben gab, hat er gelobt, wo aber etwas zu kritisieren war, hat er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg gehalten."

Wie wäre es mit dem Zusatz – aus seiner Sicht – in seinen Augen? Was zu loben und was zu tadeln ist, ist weder sonnenklar noch wird es vom Stuttgarter Wochenblatt unfehlbar erkannt und definiert. Was zu loben und was zu tadeln ist, darüber wird in einer demokratischen Gesellschaft mühsam gerungen und gestritten. Und kein Beteiligter weiß, was am Ende zum allgemeinen Konsens wird. Die Zeit der absoluten Herrscher und Wahrheiten ist vorbei. Dass ein Informationsservice für alle Stuttgarterinnen und Stuttgarter über ein komplexes Thema, das die ganze Bürgerschaft spaltet, so erbärmlich einseitig berichtet, ist wahrlich kein journalistisches Heldenstück. Herr Wiesen mag mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg halten. Dass aber dieses Blatt die Meinungen sehr vieler anderer hinter den Bergen versteckt hält, ist eine Frechheit.

"In der heftigen Auseinandersetzung um Stuttgart 21 bin ich in manchen Äußerungen zu weit gegangen. Ich habe mich zu Beleidigungen hinreißen lassen. Das tut mir aufrichtig leid. Manchmal sind auch erfahrene Kolumnisten nur ein Kind ihrer Zeit. Sollte ich jemandem zu nahe getreten sein, dann entschuldige ich mich dafür. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, dass Stuttgart 21 eine gute Entscheidung für unsere Stadt ist. Nach der Schlichtung und vor allem angesichts einer großen, sehr vielgestaltigen bürgerlichen Bewegung, in der es viele intelligente Menschen gibt, muss ich gestehen, dass auch ich manchmal zu absolut und zu vorschnell geurteilt habe. Es wäre schön, wenn wir alle zu einer besseren Diskussionskultur zurückkehren und alle Stuttgarter wieder versöhnlich und konstruktiv miteinander umgehen."

Diese Sätze hat unser "Kolumnist" leider NICHT geschrieben.
Es ist ein Abschied ohne menschliche Größe.
Das Stuttgarter Tagebuch hat für mich und für sehr viele andere einen großen Reputationsschaden erlitten. Es hat einmal zu unser aller Kindheit und Heimatgefühl gehört. Jetzt bin ich nur noch froh, dass Wiesen weg ist.
Ich lasse mich nämlich nicht gerne als Dummkopf und unwissentlichen Demokratiegefährder beschimpfen. Schon gar nicht von einem verwirrten Provinz-Kolumnisten, der im Ende der CDU-Herrschaft und im Scheitern eines Immobilienprojekts den apokalyptischen Zusammenbruch der Demokratie erblickt.