Die große Wurstigkeit

Anmerkungen zur deutschen Befindlichkeit

Ein Politiker fährt Auto, rasiert einen Außenspiegel weg und begeht anschließend Fahrerflucht. Als er feierlich zum Generalsekretär ernannt wird, kommt alles an die Öffentlichkeit. Ein Bundespräsident glänzt mit Halbwahrheiten, leiht sich zinsgünstiges Geld von Millionärsfreunden und bedroht die Presse, falls sie darüber berichtet. Ein Außenminister verschafft auf Dienstreisen seinem Lebensgefährten geschäftliche Vorteile – und beklagt die Dekadenz von Sozialhilfeempfängern. Ein adliger Verteidigungsminister hat seine Doktorarbeit abgeschrieben, will aber durchaus kein Betrüger sein. Ein Finanzminister baldowert einen Deal mit Schweizer Banken aus, der Steuerhinterziehern und organisierten Kriminellen gegen eine sehr bescheidene Gebühr Anonymität zusichert. – Nur wenige Beispiele von zahllosen, auffällig erbärmlichen und vor allem schamlosen Machenschaften unserer Zeit.

Auf diese Art geht die Welt zugrunde
Nicht mit einem Knall - mit Gewimmer.
(T.S. Eliot)

Wir müssen uns die Apokalypse als etwas sehr Kleines denken. Als schleichendes Gift eines unspektakulären Werteverfalls. Sogar der Ausdruck „Werte“ ist viel zu hoch gegriffen. Nicht einmal die einfachsten Spielregeln bürgerlichen Anstands bleiben erhalten: Zum Beispiel die Angst, erwischt zu werden. Sicher – niemand lässt sich gerne erwischen. Aber wer erwischt wird, muss kaum ernsthafte Konsequenzen fürchten. Vorausgesetzt, er befindet sich weit oben auf der gesellschaftlichen Stufenleiter: Ein kleiner Beamter, der sich mehr als zehn Euro schenken lässt, verliert seinen Job und wird auf das härteste bestraft. Bei einer Supermarkt-Kassiererin reicht mitunter schon ein Getränkepfand. Aber Wirtschaftsverbrecher können sich in freundschaftlichen Vorgesprächen mit der Justiz für ein Nasenwasser freikaufen. Die Justiz hat nämlich keine Lust auf langwierige Verfahren, also keine Lust, ihre Arbeit zu erledigen. Offensichtlich ist man viel zu sehr damit ausgelastet, die ohnmächtigen Kleinen zu hängen. Die Großen aber lässt man nicht einmal mehr laufen – sie werden erst gar nicht mehr festgehalten, geschweige denn verhaftet.

Korruption ist so alt wie die Menschheit. Neu ist lediglich, dass der Verlust des guten Namens - einst der bürgerliche Tod - nichts mehr zählt. Für Ehrlosigkeit kassiert man Ehrensold, für gravierendes Missmanagement fette Abfindungen, für inkompetente Politik hohe Übergangsgelder und höchste Pensionsansprüche. Über diese Ungeheuerlichkeit sollte man sich nicht hinwegtäuschen, auch wenn die Vergehen unbedeutend und gewöhnlich erscheinen. Es ist kein Kapitalverbrechen, eine Doktorarbeit abzuschreiben. Aber immerhin Betrug, immerhin intellektuelle Unredlichkeit, immerhin ein Tritt ins Gesicht all derer, die ehrliche wissenschaftliche Leistungen erbringen. Es ist auch kein Schwerverbrechen, zehntausende Euro Kreditzinsen einzusparen, weil ein Freund einen Privatkredit zur Verfügung stellt. Unter gewöhnlichen Umständen nennt man das Klugheit. Aber wenn der Nutznießer ein Ministerpräsident und der Freund ein Unternehmer ist, bekommt der Vorgang ein zweifelhaftes Gesicht. Es gab einmal Politiker wie Adenauer, Brandt oder Schmidt, die noch genügend moralischen Instinkt besaßen, um nicht einmal in die Nähe eines Verdachts zu geraten. Und Adlige, die sich für geistigen Betrug in Grund und Boden geschämt hätten, mehr noch als für alle anderen Vergehen.

Die Kehrseite jener Schamlosigkeiten ist ein offensichtlich gleichgültiges Publikum. Es lässt sich eine Schmierenkomödie nach der anderen vorspielen, ohne zu revoltieren. Ehrlichkeit, Pflichterfüllung, Anstand? Wer solche altmodischen Maßstäbe einfordert, sieht sich mit einer merkwürdig aggressiven Abwehrhaltung konfrontiert: Machen wir doch auch, wir sind auch unehrlich, die gesamte Gesellschaft ist unehrlich! Immer diese weltfremden moralischen Ansprüche an unsere Elite! Der arbeitsscheue Hartz-IV-Empfänger, der schwarz arbeitende Handwerker, der kleine Beschiss des kleinen Angestellten bei der Steuererklärung – jeder betrügt halt nach seinen Möglichkeiten. Moralisch aber sind wir alle gleich, nämlich gleich schlecht!

Diese moralische Rechtfertigung der Unmoral ist schon aus logischen Gründen pervers: Schließlich sind ja die Chefs verantwortlich für Moral und Werte, nicht das Fußvolk. Nicht wir haben die Obrigkeit verdorben, sondern sie uns. Wer sich beklagt, dass wir alle schlecht sind, beweist damit nur das moralische Versagen der Führungskräfte aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Der Volksmund wusste das übrigens noch: "Wie der Herr, so das Gescherr!" Und der Fisch stinkt nicht vom Schwanz, sondern vom Kopf her. Die aggressive Behauptung, die da oben seien deshalb schlecht, weil das ganze Volk schlecht sei, verwechselt Ursache und Wirkung. Sie stempelt Täter zu Opfern und Opfer zu Tätern.

Auch rein moralisch gesehen stimmt das Argument nicht: Die kleinen Handwerker und Angestellten bescheißen – wenn sie überhaupt bescheißen - , weil sie seit Jahrzehnten immer weniger Kaufkraft haben und durch Steuern und Abgaben an die Wand gedrückt werden: Der Beschiss entspringt der allzu berechtigten Angst der Mittelschicht, immer weiter nach unten durchzurutschen, hinunter ins sogenannte Prekariat. Es herrscht ein verzweifelter Existenzkampf gegen ein Gemeinwesen, das überproportional von Einkommensschwachen finanziert wird, während Einkommensstarke immer mehr entlastet werden. Vollends die Hartz-IV-Empfänger sind längst im Existenzkampf angekommen. Die wahren Asozialen in unserer Gesellschaft sitzen anderswo, nämlich weit oben: Mildernde Umstände wie Existenznot können sie nicht für sich beanspruchen. Außerdem verfügen sie über weit mehr Möglichkeiten zu betrügen: Großkonzerne können sich steuerlich arm rechnen, wenn sie Verluste im Ausland geltend machen. Ein handwerklicher Kleinbetrieb kann das nicht. Und der kleine Angestellte bekommt sein Einkommen vor der Steuererhebung erst gar nicht in die eigene Hand. Besonders niederträchtig aber ist: Großverdiener können ihren Beitrag zum Gemeinwesen ganz legal hinterziehen. Das deutsche Steuersystem ist mit voller Absicht das komplizierteste der Welt. Für dicke Fische gibt es zahlreiche Schlupflöcher, doch um kleine Fische zieht sich das Netz erbarmungslos zusammen. Versucht der Kleinverdiener sich zu drücken, bleibt ihm nur noch der Weg in die Illegalität.

Fazit: Der Betrug ganz unten ist illegalisiert, der Betrug weit oben legalisiert. In Deutschland herrscht nämlich Ordnung: Für Vermögende ist Steuerhinterziehung der feste Bestandteil eines sorgfältig ausgeklügelten, perfekt bürokratisierten Systems. Wer noch mehr herausschlagen will, ist einfach maßlos. Maßlos gierig und dumm. Und deshalb ist Steuerillegalität bei Reichen moralisch so abstoßend und widerwärtig.

Obwohl natürlich auch der kleine Betrug immer noch Betrug bleibt. Vom ethischen Standpunkt kann kein Individuum sein Fehlverhalten damit rechtfertigen, dass die moralischen Vorbilder in seiner Gesellschaft versagt hätten. Und trotzdem sind es die Vorbilder, die das Bild vorgeben, sind es die Führungskräfte, die eine Richtung bestimmen. Immerhin kann der Betrug von Geringverdienern noch einen Rest moralischer Selbstachtung bewahren: Diese Menschen wissen, dass sie betrügen, wenn sie betrügen. Wissen, dass auch der Staat ihren Betrug Betrug nennt und mit der ganzen Härte des Gesetzes verfolgt. Wissen, dass sie für lächerlich kleine Summen sehr viel riskieren. Die Elite dagegen riskiert für große Summen wenig und sogar bei erwiesener Wirtschaftskriminalität fällt man nicht tief und landet butterweich.

Dass die Unmoral der breiten Bevölkerung die Unmoral der Elite legitimieren soll, ist zwar logisch wie ethisch bodenloser Schwachsinn. Aber wie ist es möglich, dass diese Meinung so viele Anhänger findet? Liegt es am digitalen Zeitgeist? Vielleicht haben die informationsüberfluteten Gehirne eine Art geistiges Schleudertrauma erlitten. Denn die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und zu interpretieren, setzt Konzentration voraus. Wie aber soll das möglich sein, wenn pausenlos flimmernde Echtzeitkommunikation oberflächliches Hinsehen zur zweiten Natur macht? Verstehen hat auch mit Stehen zu tun. Ohne Abstand rückt nichts in eine Perspektive. Und ohne Deutung ist nichts von Bedeutung.
So spricht der Kulturkritiker und sagt damit bestenfalls eine wichtige Halbwahrheit. Denn das Netz hat sehr wohl eine kritisch wachsame, politisch gewichtige Gegenkultur. Facebook, Twitter, SMS, U-Tube – die haben den Arabischen Frühling organisiert und Diktatoren zum Teufel gejagt. In Rekordzeit lassen sich rund um die Uhr Tausende von Menschen für politischen Protest mobilisieren. Eigene Fotos und Videos, Webcams und Lifestreaming erreichen schneller als der Schall alle Winkel dieser Erde. Traumhafte Bedingungen für jeden politischen Aktivisten. Unbestritten ist außerdem der wachsende Druck, den das Netz mit seiner gnadenlosen Forderung nach Transparenz ausübt: Mächtige müssen sich heute ganz schön vorsehen, und das ist gut so.

Viel wahrscheinlicher ist, dass die moralische Gleichgültigkeit von traditionellen Medien gefördert wird: vom Bertelsmann-Springer-Komplex, der zu 80 Prozent die Boulevardpresse und eine Reihe privater Fernsehkanäle beherrscht. Die Berlusconisierung und Boulevardisierung der deutschen Öffentlichkeit ist weit fortgeschritten. Die Sprachregelungen von Bild, Bams und Glotze bestimmen längst schon das moralische Urteil der Öffentlichkeit.
Korruption? Betrug? Gesetzesbruch? – Diese Vokabeln haben abgedankt. Das Zauberwort heißt jetzt „Fehler“. Er oder sie hat einen „Fehler“ gemacht. Und „Menschen machen nun mal Fehler“. Und weil wir ja alle Menschen sind, sollten wir nicht so unmenschlich moralisch in unserem Werturteil sein. Dieser zart besaitete Humanismus gilt aber nur für die Elite. Ein Hartz-IV-Schnorrer ist ein Sozialbetrüger. Und der Diebstahl eines Getränkebons bleibt natürlich Diebstahl.
In historisch nie gekanntem Ausmaß hat sich eine Umwertung aller Werte ereignet. Eine völlige Durchlässigkeit, Austauschbarkeit und X-Beliebigkeit moralischer Begriffe. Das ist gewollt. Ohne Schärfe des Begriffs auch keine Schärfe der Kritik, besonders nicht nach oben.

Wir leben im Zeitalter der großen Wurstigkeit. Der moralische Sinn der Bevölkerung wird in einer journalistischen Jauchegrube weichgespült. Spätestens jetzt wird mein Kulturkritiker wieder aufdringlich: Es sind vielleicht nicht nur die gesetzten Bürgerinnen und Bürger, die sich durch Medien verdummen lassen, wenn auch durch traditionelle. Vor allem junge Leute haben moralische Empörung verlernt. Von wegen politische Netzkultur! Die meisten sind digital sediert und ausschließlich spaßorientiert. Massenmedien und Massenkonsum spielen sich viel zu reibungslos in die Hände. Der Kapitalismus hat auf ganzer Linie gesiegt. Als hätte es nie eine Gesellschaftskritik gegeben. Die brauchen keinen Big Brother mehr, die passen sich ganz von selber an.

Aber denken wir doch einmal positiv! Die Apokalypse muss ja nicht so jämmerlich daherkommen, wie eingangs behauptet. Vielleicht ist die große Wurstigkeit nur die Ruhe vor dem Sturm. Vielleicht muss sich das politische Bewusstsein komplett erneuern:

… weil die Macht des Geldes (…) niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. In vielen Schaltstellen der wieder privatisierten Geldinstitute sitzen Bonibanker und Gewinnmaximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren. Noch nie war der Abstand zwischen Armen und Reichen so groß. Noch nie war der Tanz um das goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt.
(Stéphane Hessel)

Vorläufig herrscht die große Wurstigkeit. Trotzdem haben wir beste Chancen auf einen ganz großen Abgang: Religiöse Fundamentalisten hantieren mit Atomwaffen. Vielleicht trifft uns auch ein Meteorit oder Asteroid, vielleicht ein gewaltiger Vulkanausbruch. Alles schon da gewesen. Hat sogar die Dinosaurier von der Erde vertilgt. Doch selbst wenn das Grande Finale ausbleibt: Vielleicht ereilt uns die Apokalypse als Supergau der Ignoranz. Fakten kann man kinderleicht leugnen, Realitäten nicht. Der Klimawandel ist trotz menschlicher Tatenlosigkeit unbeirrbar im Gange. Und dem Neoliberalismus fliegt seine eigene Ideologie in Gestalt von Wirtschaftskrisen um die Ohren. Drücken sich die Wohlhabenden noch weiter vor ihrem Beitrag zum Gemeinwohl, wird es zwangsläufig zu sozialen Unruhen und zu politischem Radikalismus kommen. Realitäten sind die wahren Revolutionäre. Wem alles wurstegal ist, braucht eben den Fukushima-Effekt: Katastrophen wecken das Denkvermögen der Denkverweigerer und Wachstumsfetischisten.

Für alle anderen gilt - jenseits der Verzweiflung immer noch zu hoffen.
Und selbst jenseits aller Hoffnung immer noch zu handeln.