SWR2 Wissen
Hans-Georg Gadamer – Philosophie des Verstehens

Anlässlich des 15. Todestages von Hans-Georg Gadamer verfasste ich 2017 das Skript für die oben genannte Sendung. Dieses Sendeformat dauert genau 28 Minuten, keine Minute länger. Also müssen sich Autorinnen und Autoren an die Optimalzeit durch Kürzungsvorschläge annähern. Müssen gelegentlich Textpartien umstellen, neue Überleitungen schreiben etc. Da gibt es nichts zu jammern, das ist Rundfunkalltag. Und natürlich die Grundvoraussetzung für einen pünktlichen Programmablauf. Manchmal machen Kürzungen den Text sogar besser. Und der Austausch mit den Schauspielern, den Technikern, dem Regisseur und der Redaktion führt oft zu Änderungen, die gegenüber dem Original vorteilhaft sind: Radioarbeit ist Teamarbeit. Und wie sagte Gadamer so schön – der Andere könnte Recht haben.

Trotzdem sind die Autorinnen und Autoren die Ersten, die das Thema bearbeiten und ein Sinnganzes bzw. einen in sich geschlossenen Text vorlegen. Am Anfang ist jedes Skript ein autonomes schriftstellerisches Projekt. Und ja – manche Kürzungen, Umstellungen bzw. Veränderungen können die Komposition des ursprünglichen Textes beschädigen, im Extremfall bis zur Unkenntlichkeit entstellen. Das passiert nur selten und ist auch nicht der Grund, warum ich hier meine originale Skriptfassung öffentlich mache. Im Gegenteil – mir gefällt die Skriptfassung und die Sendung, die der SWR 2017 und (Wiederholung) 2018 ausgestrahlt hat. Was in 28 Minuten präsentierbar war, wurde meines Erachtens sehr gut umgesetzt.

Genau diese 28 Minuten sind das Problem. Als ich anfing, für den SWR2 zu schreiben, gab es noch Formate mit 60 (genauer 58) Minuten Sendezeit. Es war möglich, literarische und philosophische Themen ausführlich zu entwickeln, man konnte sie durch großzügig bemessene Textbeispiele zu Wort kommen lassen, konnte den Hörer in faszinierende Sprach- und Denkwelten eintauchen lassen, konnte eine Atmosphäre kreieren, die reflexiv und ästhetisch stimulieren sollte. Philosophie und Literatur brauchen eine auf Sprache gerichtete, eher meditative Aufmerksamkeit. Das Radio von heute aber tendiert zum Gegenteil: Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne - wer hört sich noch eine ganze Stunde Lyrik oder Prosa an? Oder gedankenschwere Philosophen, deren Texte Werbung für Kopfschmerztabletten sind? Nun – natürlich nur diejenigen, die es interessiert. Interessieren Sie sich für klassische Musik? Gratuliere! Der Rundfunk hat kein Problem damit, Sie endlos lange mit Brahms und Wagner zu verwöhnen – Konzertaufnahmen sind billiger als Wortbeiträge.

Immer mehr befindet sich der Wortbeitrag auf dem Rückzug. Ein Thema ruhig, mit sprachlicher Aufmerksamkeit und rationaler Argumentation darzulegen, gilt beinahe als Kapitalverbrechen. Die hyperpostmoderne Radio-Schreibe folgt dem Motto: Das Medium ist die Botschaft. Also klappert man hektisch mit all dem Handwerk, was man im Radio hat: Atmos, Stimmen, Musik etc. Ein hektisches Flimmern, das mit den sozialen Medien gleichzieht ohne deren Attraktivität zu erreichen. Das taugt bestimmt auch für viele Themen, sicherlich, aber nicht für Sprachkunst im weitesten Sinn. Die ureigene Kraft des Radios, das lebendig gesprochene Wort, reduziert auf eine in idealer Reinheit ertönende menschliche Stimme – diese Kraft des Mediums wird immer mehr übergangen. Nur nicht rational und altmodisch daherkommen, nur nicht Menschen aufklären und belehren wollen. Doch obwohl die Aufklärung alt ist, leugnet heute fast niemand mehr, dass sie notwendiger ist als je zuvor.

Andererseits hat ein Radioskript auch Vorteile – jede Autorin, jeder Autor kann nach der Erstausstrahlung mit seinem schriftstellerischen Material tun und lassen, was er will: Ich könnte einen Gadamer-Essay schreiben, könnte mit den Interviews und mit meinen Texten alle Arten von Weitervermarktung betreiben. Das Copyright verbleibt bei uns Autoren. Wer sich also beklagt, dass ein Thema wie die Philosophie Gadamers in 28 Minuten zu kurz kommt, der kann sein ungekürztes Original-Skript jederzeit veröffentlichen und interessierten Menschen zugänglich machen. Was ich hiermit tue.

SWR2 Wissen
Hans-Georg Gadamer – Philosophie des Verstehens

O-TON GADAMER
CD Die Vielfalt der Sprachen
(08:20 – 08:51)
… wie die Griechen sozusagen selbstverständlich – und das gilt ja im Grunde für jede lebendige Kultur – ihre Sprache für die richtige Sprache ansehen. Irgendwo hat man ja doch noch immer, selbst mit einem rein muttersprachlichen Instinkt, ein sonderbares Gefühl, dass ein „Pferd“ in einer anderen Sprache „horse“ heißt. Gehört sich eigentlich nicht.

O-TON GADAMER
CD Die Vielfalt der Sprachen
(36:18 – 36:46)
Ich habe gelernt, als ich mit den Russen zu verhandeln hatte, als Leipziger Rektor, wie es nicht darauf ankam, meinen Partner, der mir da gegenübersaß, den Russen zu überzeugen, sondern den Dolmetscher. Der sollte dann das sagen, was meinem Anliegen nützlich ist. Wenn er nur übersetzt hätte, was ich sage, hätte ich vermutlich nicht den Erfolg gehabt, den ich dadurch hatte, dass ich den Dolmetscher gewann.

O-TON PETER KÖNIG
(02:13 – 02:45)
Also das war nie so, dass man das Gefühl hatte, hier ist der große Philosoph, unnahbar, sondern im Gegenteil jemand, der sehr gut sich einstellen konnte auf Studenten, aber eben auch auf Menschen, die nicht unbedingt zum akademischen Milieu gehörten, also das war schon so eine Erfahrung, die man machen konnte, dass er über die Universität hinaus gewirkt hat, in der Stadt.

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD2 LINDÈN
(28:29 – 28:47)
Was ich geschätzt habe, ist diese Zugänglichkeit, dass er so offen war – wirklich – das ist nicht nur ein Schlagwort, wenn er über das Gespräch so viel schreibt – sondern es ist tatsächlich so, dass er das Gespräch immer sehr geschätzt hat.

(OC ANFANG O-TON-PETER KÖNIG
CD König
(03:17 . 03:31)
Es gab nicht das Gefühl, dass da eine Arroganz vorhanden wäre, so ein Gefühl sozusagen der Überlegenheit, die ausgespielt wird. Das war nicht der Fall. Wirklich nicht der Fall. OC ENDE)

ANSAGE
Hans-Georg Gadamer
Philosophie des Verstehens
von Günter Bachmann

SPRECHERIN
Hans-Georg Gadamer gilt als einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts. In ganz Europa erreichte er die Universitäten. Viele namhafte Denker haben sich mit ihm beschäftigt. In der anglo-amerikanischen Kultur gilt er als Hauptvertreter der „continental philosophy“. Bedenkt man noch Gadamers philosophische Präsenz in Lateinamerika und Asien, darf man von einer wahrhaft globalen Wirkung sprechen. –

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(45:03 – 45:40)
Gadamer hatte eigentlich in ganz Europa schon, sehr früh auch Schüler, die nach Deutschland kamen und dann in ihren eigenen Ländern weitergewirkt haben. Ein Land, zu dem er besondere Beziehungen hatte, schon sehr früh, war Italien. Da gab es den Gianni Vattimo aus Turin und Verra aus Rom, die zum Teil auch bei ihm studiert haben.

SPRECHERIN
Erklärt Prof. Dr. Peter König vom Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. - Neben der weltweiten Lehrtätigkeit vieler begabter Schüler ist auch die Ausstrahlung der Philosophie als Kulturleistung bedeutsam. Die Naturwissenschaften sind heute über das Englische so stark internationalisiert, dass sie nur wenig über die Eigenart einer Kultur, ihrer Sprache und Mentalität verraten. Wer sich für eine fremde Kultur wirklich interessiert, orientiert sich an ihrer Geschichte, Literatur, Kunst oder Musik - und eben auch an ihrer Philosophie. -

O-TON PETER KÖNIG
CD Peter König
(51:51 – 52:56)
Und dann ist es natürlich interessant, für jemand, der aus China kommt oder Japan und hat da so einen Blick, sag ich mal, von ganz ferne auf Deutschland und sagen wir auf die Philosophie im 20. Jahrhundert in Deutschland, und dann ragen eben doch einige Autoren, einige Namen heraus. Da würde man sich eben für Gadamer interessieren, denk ich mal, der für die 60er, 70er, 80er Jahre in Deutschland eine große bedeutende Rolle hatte. Oder man interessiert sich für Habermas. Man interessiert sich vielleicht auch für Tugendhat, für Henrich. Also das sind wenige Namen - Jaspers würde man vielleicht für die Generation davor sagen, Heidegger auf jeden Fall – ich glaube, es ist natürlich, dass dann da eine Rezeption stattfindet.

SPRECHERIN
Seine Weltgeltung verdankt Gadamer dem unablässigen Ringen mit dem „Phänomen des Verstehens und der rechten Auslegung des Verstandenen“ (WuM, S. 1). – Er ist der Begründer der modernen philosophischen Hermeneutik. - Aber Hermeneutik – was ist das? In ihren Anfängen zeigt sich die sogenannte Lehre der Auslegung als fachübergreifendes Phänomen: Der Sprachwissenschaftler, der den Homer verstehen will, der Pfarrer, der in seiner Predigt die Heilige Schrift interpretiert, der Richter, der ein allgemeines Gesetz auf einen einzelnen Fall anwendet – sie alle benötigen für ihre jeweilige Berufspraxis eine Lehre des Interpretierens und Deutens. Hermeneutik ist eine Art Hilfswissenschaft der Theologie, Philologie und Rechtsprechung. Und ungefähr so alt wie diese Disziplinen selber. Das altgriechische Verb „hermeneuein“ bedeutet zunächst nur „auslegen, dolmetschen, aussagen, verkünden“. – Der Erfolg Gadamers mit dem philologisch-theologischen Insider-Begriff „Hermeneutik“ wird vielleicht aus dem Beiwort „philosophisch“ etwas verständlicher. Peter König –

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(27:02 – 27:58)
Und das, was er nun versucht, ist, dass er Hermeneutik als philosophische Hermeneutik verstehen möchte. Das heißt, er möchte die Hermeneutik herausbringen aus dieser Rolle, nur Hilfestellung zu sein für bestimmte Fächer und Fachaufgaben. Nämlich Hermeneutik als etwas zu verstehen, das etwas berührt, was grundlegend ist. Und das hat natürlich zu tun mit Sprache, weil das Verstehen für Gadamer als dieses grundlegende, zu unserem Leben als Menschen dazugehörende Verstehen immer schon ein sprachliches Verstehen ist. Das ist ein Verstehen, das über Sprache läuft.

O-TON-GADAMER
CD Die Vielfalt der Sprachen
(20:00 – 20:24)
Das ist der neue Schritt, in dem wir uns befinden: Dass wir die Sprache nun auf einmal als einen Weg zum Begreifen, ja als eine Art Vorarbeit für das Begreifen denken.

SPRECHERIN
Hermeneutik – was ist denn das? Diese Frage musste sich Gadamer auch von seinem Verleger gefallen lassen, als er ihm 1959 ein umfangreiches Manuskript vorlegte. Es trug den Titel Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Der Verleger bat ihn, einen verständlicheren Titel zu suchen. Gadamer beherzigte den Rat und nannte sein Werk nun Wahrheit und Methode. Die „Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik“ bilden nur noch den Untertitel. 1960 war es dann so weit: Wahrheit und Methode, das Grundbuch der philosophischen Hermeneutik, konnte erscheinen.-

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(42:09 – 43:05)
Dieser Titel erfüllte dann tatsächlich, was der Verleger sich erhofft hatte von dem Titel, dass das Buch sich nämlich gut verkaufte. Und es verkaufte sich, glaub ich, in den 60er Jahren deshalb sehr gut, weil damit eine gewisse Erwartung verknüpft werden konnte, nämlich dass es ein Buch war, von einem Philosophen, das eine Grundlage geben wollte für die Geisteswissenschaften. Also all die Wissenschaften, die was mit einem Verstehen zu tun haben, von Texten, von Gesellschaft, von Kunst – also für das, was dann seit dem 19. Jahrhundert im Deutschen eben die Geisteswissenschaften waren.

SPRECHERIN
Hans-Georg Gadamers Leben verlief im Gleichschritt mit dem 20. Jahrhundert. Er hat es sogar um zwei Jahre überdauert: Geboren am 11. Februar 1900 in Marburg, gestorben am 13. März 2002 in Heidelberg. – Mit diesen Daten, die bequem auf einen Grabstein passen, wäre nach Gadamers Ansicht vielleicht schon genug über sein Leben berichtet. Die anti-biographische Einstellung hatte er von seinem philosophischen Lehrer Martin Heidegger übernommen. In einer Aristoteles-Vorlesung 1924 in Marburg sprach dieser die nachmals berüchtigten Worte –

ZITATOR
Bei der Persönlichkeit eines Philosophen hat nur das Interesse: Er war dann und dann geboren, er arbeitete und starb. (Grondin, S. 7).

SPRECHERIN
In Interviews und Schriften hat Gadamer aber bereitwillig über seinen intellektuellen Werdegang, seine akademische Lehrtätigkeit und auch über seine geschichtlichen Erfahrungen gesprochen. Nur übertriebene Ichbezogenheit, den modernen Subjektivismus mit seinem Genie- und Personenkult mochte er nicht. Entsprechend zurückhaltend äußerte er sich kaum über sein Privatleben. Vielleicht aus der Einsicht, die er in einer berühmten Passage aus Wahrheit und Methode formuliert hat -

ZITATOR
In Wahrheit gehört die Geschichte nicht uns, sondern wir gehören ihr. Lange bevor wir uns in der Rückbesinnung selber verstehen, verstehen wir uns auf selbstverständliche Weise in Familie, Gesellschaft und Staat, in denen wir leben. Der Fokus der Subjektivität ist ein Zerrspiegel. Die Selbstbesinnung ist nur ein Flackern im geschlossenen Stromkreis des geschichtlichen Lebens. (WuM, S. 281)

SPRECHERIN
Unsere Kultur und Denkweise, unsere Sprache und Begriffe, die traditionellen Lebensüblichkeiten der Gesellschaft bilden einen Wirkungszusammenhang, in dem wir immer schon leben, bevor wir über Geschichte auch nur nachdenken können. Deshalb ist jedes Urteil über Geschichte unausweichlich von der eigenen historischen Bedingtheit des Interpreten bestimmt -

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD1 Lindén
(07:54 – 08:56)
Das ist gerade das Wichtige in der Wirkungsgeschichte – wir können der Geschichte gar nicht entkommen. Wir stehen immer in der Geschichte. Es gibt eine grundsätzliche Zugehörigkeit, die für uns als geschichtliche Wesen kennzeichnend ist. Und darin liegt auch der Unterschied im Vergleich mit der naturwissenschaftlichen Kausalität. Es gibt ständig einen geschichtlichen Einfluss. Für den geschichtlichen Einfluss, für den Einfluss der Vergangenheit ist kennzeichnend, dass die Vergangenheit ja schon festgelegt ist. Das heißt der Einfluss hat einen besonderen Charakter. Es gibt schon etwas Unumstößliches, das auf uns wirkt.

SPRECHERIN
-Dr. Jan-Ivar Lindén lehrt Philosophie am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg und der Universität Helsinki – Er erläutert den für Gadamer so wichtigen Begriff der Wirkungsgeschichte – also die Zugehörigkeit des endlichen Menschen zu einer viel größeren Geschichte, in die er immer schon hineingeboren ist und die sein Denken und Urteilen durch Tradition und Überlieferung beeinflusst. Das hat Gadamer den Ruf eines eher konservativen Philosophen eingetragen. Dabei wollte er nur auf die Wirkungsmächtigkeit von Traditionen aufmerksam machen. Und auf die Erkenntnischancen, die sich gerade durch ihren Einfluss eröffnen - Jan-Ivar Lindén -

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD2 Lindén
(02:06 – 03:13)
Ich würde sagen, das wird bei Gadamer anders gedacht. Die Endlichkeit ist vielleicht auch eine Beschränkung, aber vor allem ist die Endlichkeit eine ermöglichende Endlichkeit. Das heißt: Gerade weil wir in einer bestimmten Tradition stehen, weil wir bestimmte Fähigkeiten besitzen, weil wir einen bestimmten Hintergrund haben, sind wir fähig, etwas zu erfahren, zu tun, aber eben auch fähig, anderen zuzuhören. Und das, glaub ich, ist wirklich etwas, worüber wir nachdenken sollten – wie wir diese positiven Aspekte der Endlichkeit verstehen sollten. Und ich würde fast sagen, das ist das zentrale Thema schlechthin für Gadamer.

SPRECHERIN
Auch Peter König hebt das Moment der sinnerschließenden Produktivität hervor, das im geschichtlichen Traditionszusammenhang des endlichen Menschen liegt -

O-TON-PETER KÖNIG
CD König
(36:54 – 37:42)
Aber Tradition ist etwas sozusagen, das jeder dann in seiner Generation neu anwenden muss und neu definieren muss und neu bestimmen muss – im Hinblick auf das, was an dieser Tradition nun das Wertvolle ist, das es verdient, sozusagen weitergeführt zu werden und das, was man eben nicht mehr als zeitgemäß und wertvoll für die eigene Zeit erachtet. Aber diese kritische Prüfung der Tradition ist nur möglich, wenn man sich bewusst macht, dass man in einer Tradition steht. Wenn das gar nicht der Fall ist, wenn dieses Bewusstsein nicht besteht, kann man auch nicht kritisch auswählen, kann man auch nicht kritisch ein Verhältnis dazu gewinnen. Das war, glaub ich, das, was für Gadamer wichtig war.

O-TON-GADAMER
CD Spiel, Symbol, Fest
(12:06 – 12:40)
Wir stehen als endliche Wesen in Traditionen. Tradition heißt Übertragung. Und Übertragung heißt, dass man nichts unverändert und konservierend in seinem Früheren belässt. Sondern heißt, dass man es neu sagen und erfassen lernt.

SPRECHERIN
Auch das Jahrhundertleben Gadamers steht in einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang. Er entstammt dem Bürgertum Schlesiens. Sein Großvater väterlicherseits war Besitzer einer Streichholz-Fabrik und Stadtrat in Waldenburg. Der Großvater mütterlicherseits ein Zimmermeister in Karolath. Johannes Gadamer, der Vater des Philosophen, war zunächst Apotheker, arbeitete sich dann aber bis zum angesehenen Professor der pharmazeutischen Chemie empor. Seine Mutter hat Gadamer kaum gekannt. Er war 4 Jahre alt, als sie an Diabetes verstarb. Schon 1902 verlässt die Familie Gadamer Marburg und zieht in die schlesische Hauptstadt Breslau, deren Universität Johannes Gadamer auf den Lehrstuhl für Chemie beruft. In Breslau besucht Hans-Georg Gadamer die renommierte „Schule zum Heiligen Geist“, wo er im Frühjahr 1918 die Reifeprüfung ablegt. Gadamer-Biograf Jean Grondin beschreibt die Jugend des Philosophen als „leidvoll, einsam und bedrückend“ –

ZITATOR
Wir denken etwa daran, dass der junge Gadamer sehr früh schon den Tod seiner Mutter, die schwere Krankheit seines Bruders, die eiserne preußische Disziplin seines Vaters und dazu auch noch den Ersten Weltkrieg zu verarbeiten hatte; all dies in den Jahren, in denen sich so etwas wie Charakter bildet. (Grondin, S.7)

SPRECHERIN
Der junge Gadamer zieht sich auf „Träume der Innerlichkeit“, auf Dichtung und Theater zurück. Er liest die antiken Klassiker, Schiller, Shakespeare, Dostojewski, französische und englische Romane und er liebt die Lyrik. Sein Vater, Naturwissenschaftler mit Leib und Seele, dazu ein nationalliberaler Verehrer Bismarcks, missbilligt diese Neigung zu den brotlosen Künsten. Aber Hans-Georg Gadamer bleibt standhaft und folgt seinen literarischen Interessen -

ZITATOR
Es gab also noch etwas anderes in der Welt als preußische Tüchtigkeit, Leistung, Disziplin. Später sollte ich (…) diese erste eigene Orientierung vertiefen, als ich im Umkreis des Dichters Stefan George ähnlichen kulturkritischen Tönen begegnete. (Philosophische Lehrjahre, S. 11)

SPRECHERIN
Dieses biographisch motivierte Interesse für Dichtung und Kunst ist wichtig, um Gadamers Hermeneutik näher zu kommen. Als Philosoph entwickelte er grundlegende Gedanken für die Literaturwissenschaften, die historischen Wissenschaften, für die Geisteswissenschaften überhaupt. Das Verstehen und Auslegen von Texten, sagt Gadamer, ist nicht nur ein Anliegen der Wissenschaft, sondern gehört offenbar zur menschlichen Welterfahrung insgesamt. Im Verstehen der Überlieferung werden nicht nur Texte verstanden, sondern Einsichten erworben und Wahrheiten erkannt -

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(59:38 – 01:00:28)
Wenn ich ein Gedicht betrachte, er hat ja dann auch sich sehr mit Celan beschäftigt, Paul Celan, für ihn ein sehr faszinierender Dichter, dann gibt mir das einzelne Gedicht immer schon, das war seine Meinung, gibt mir immer schon bestimmte Fragen vor, das heißt ich bewege mich immer schon in einem – was er dann nannte – das Vorverständnis, ich bewege mich immer schon in einem Vorverständnis im Hinblick auf das, was ich verstehen will. Und aus diesem Vorverständnis heraus bin ich auf bestimmte Dinge aufmerksam und nicht auf andere, habe ich bestimmte Fragen und nicht andere Fragen.

SPRECHERIN
Der Geisteswissenschaftler steht ebenfalls immer schon in der Geschichte. Bestimmt von überlieferten Vorverständnissen und Vorurteilen. Aber für die Geisteswissenschaften der 60er und 70er Jahre war das trotzdem eine befreiende Einsicht, weil sie die anmaßenden Methoden der Naturwissenschaften in die Schranken weisen konnten. In der Erfahrung von Kunst, Geschichte und Literatur sind sie nur bedingt anwendbar und haben keinen exklusiven Wahrheitsanspruch. –

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD 1 Lindén
(09:55 – 10:19)
Wir können zum Beispiel keine Experimente in der Vergangenheit durchführen, um Gesetzmäßigkeiten aufzustellen. Sondern es gibt halt die Vergangenheit und als eine singuläre Vergangenheit, als eine Tradition, würde Gadamer sagen. Und diese Tradition wirkt auf uns ein.

SPRECHERIN
Die Naturwissenschaft sieht sich gerade nicht in einem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang. Sie positioniert sich außerhalb der endlichen Seinsweise des Menschen, um die Welt zum bezugslosen Objekt zu machen. Zugehörigkeit zur Geschichte verlangt aber ein anderes Denken. Nach Gadamer gleicht sie eher einem lebendigen und offenen Dialog -

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD1 Lindén
(15:12 – 16:00)
Aber in der Zugehörigkeit liegt auch, dass wir etwas beitragen können. Und Gadamer hebt in seiner Hermeneutik doch immer hervor, dass der Interpret etwas beitragen muss. Es geht nicht um eine Zugehörigkeit in dem Sinne, dass wir keine Eigeninitiative hätten. Umgekehrt wird das persönliche Moment der Erfahrung sehr stark hervorgehoben. Gadamer spricht häufig von einer unmittelbaren Betroffenheit. Wir werden von der Tradition angesprochen und müssen dann antworten.

SPRECHERIN
Wenn man etwa Dichtung oder philosophische Texte der Tradition liest, dann setzt man auch seine eigenen Vorurteile auf den Prüfstand, setzt den eigenen Zeithorizont dem Zeithorizont des Textes aus und gerät in eine Art lebendiges Gespräch. - Gadamer nennt diesen Prozess Horizontverschmelzung. -

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD1 Linden
(43:47 – 43:49)
Dann werden die Vorurteile in Frage gestellt, aufs Spiel gesetzt, können deshalb auch, so wie Gadamer das macht, mit dem Wort „Spiel“, ein Wort, das für ihn besonders wichtig ist, die können auch aus dem Spiel geworfen werden.

SPRECHERIN
Aber nicht nur Kunst und Literatur, sondern vor allem das philosophische Interesse Gadamers spielt eine wichtige Rolle im Verständnis seiner Hermeneutik, die ja eine philosophische Hermeneutik sein soll. Dafür wurde Gadamers Begegnung mit Martin Heidegger entscheidend. - Gadamer ging im Sommersemester 1923 eigens an die Universität Freiburg, um bei ihm zu studieren. Und anschließend auch an die Universität Marburg, wo Heidegger bis 1928 tätig war. 1929 hat Gadamer bei ihm in Philosophie habilitiert. Er hat also aus nächster Nähe erlebt, wie sich Heidegger seinem 1927 erschienenen Hauptwerk Sein und Zeit genähert hat -

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(12:24 – 13:28)
Heidegger war eben in den 20er Jahren, muss er gewesen sein, nach allem, was wir wissen von denen, die ihm begegnet sind, eine ungeheuer beeindruckende Erscheinung im Bereich der Philosophie, weil er jemanden verkörpert hat, der in einer ungeheuren Radikalität wieder versucht hat, Fragen zu stellen, philosophische Fragen zu stellen. Mit Heidegger ist ein ganz starkes Pathos der philosophischen Frage verbunden. Der Öffnung sozusagen für die Urerfahrung des Philosophischen, also wieder zu staunen, wieder überrascht zu sein durch die Erscheinungen, durch die Wirklichkeit. Und das hat für diese junge Generation, zu der Gadamer gehörte, in den 1920er Jahren, eine ungeheure Wirkung gehabt.

SPRECHERIN
Sein zum Tode und Geworfenheit, so lauten die Stichwörter, die Heidegger in die Debatte wirft. Die ewigen Wahrheiten der Religion, Philosophie und Wissenschaften sind nur ein Ausweichen vor der eigenen Sterblichkeit und Endlichkeit des Daseins. Ein Entlaufen in ein uneigentliches Dasein, das aus der unentrinnbaren Gebundenheit an Zeitlichkeit und Geschichte ausbrechen will. Gadamer nimmt diesen Gedanken auf und wird später von der Geschichtlichkeit des Menschen oder der Philosophie der Endlichkeit sprechen. Und sein Denken über den endlichen Menschen in der Wirkungsgeschichte findet hier seinen Ausgangspunkt. Aber auch über das Phänomen des Verstehens hat Gadamer bei Heidegger etwas Wichtiges gelernt - Verstehen ist die grundlegende Seinsart des Daseins selber. – Vorsicht. Es heideggert -

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(14:26 – 14:49 und 15:12 – 15:30)
Dass nämlich das Dasein, also der Mensch, sich immer schon findet in einem Kontext von Verstehen. Also das Dasein ist, so definiert Heidegger das Dasein ja, ist ein Sein, dem es in seinem Sein um sein Sein geht.
(…)
Das Dasein ist eines, das sich in seinem „Da“ immer schon versteht, das immer schon eine Orientierung hat, sich immer schon hin entwirft auf etwas. Und immer schon auch sich auf etwas versteht, nämlich auf sein Existieren versteht.

SPRECHERIN
In die Zeitlichkeit des Daseins geworfen, entwirft sich der Mensch zugleich in eine unsichere Zukunft. Sein endliches Dasein ist Sorge um sich selbst. Dieses Sichentwerfen in die Möglichkeiten des eigenen Daseins erfordert ständige Interpretation, Auslegung und Verstehen – Gadamer begegnet in Heidegger einer existenzphilosophischen Hermeneutik. Doch anders als sein Lehrer fixiert er sich nicht auf den Sinn von Sein – er will dieses neu gedachte Verstehen verstehen -

O-TON KÖNIG
CD König
(18:00 – 18:36)
Er hat dann Abstand genommen und hat gesagt, nein also wir müssen uns fragen, was haben wir da eigentlich entdeckt mit dieser Dimension des Verstehens, sofern das eine Dimension ist, in der wir leben, geschichtlich leben, gesellschaftlich leben, politisch leben, in unseren Erfahrungen leben, der Kunst, der Wissenschaft, das sind alles Bereiche sozusagen, in denen das Verstehen eine fundamentale Rolle spielt.

SPRECHERIN
Und weil für Gadamer alles Verstehen sprachlich vermittelt ist, stößt er in einen Bereich vor, der Heidegger verschlossen war. – Das wirkliche Verstehen erfolgt in der zwischenmenschlichen Verständigung, im Miteinander. Sprache ist das übergreifende Medium der Hermeneutik, unsere gemeinsame Welterschließung. –

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(28:13 – 28:34 und 29:31 – 30:12)
Es ist auch eine Welt, die wir miteinander teilen, das ist nie unsere Privatwelt, in der wir leben, sondern das ist eine gemeinsame Welt. Und diese gemeinsame Welt ist eben deswegen gemeinsam, weil wir über eine gemeinsame Sprache verfügen. Die Gemeinsamkeit der Welt ist bedingt durch die Gemeinsamkeit der Sprache.
(…)
Darin ist natürlich angelegt auch, dass man zu einem Einverständnis kommt. Was für Gadamer sehr sehr wichtig war, dass man eben, indem man gemeinsam spricht, immer eigentlich bemüht ist, zu einem Einverständnis zu kommen. Nicht immer gelingt das. Aber als Telos des Sprechens, des Miteinandersprechens ist das gegeben. Und das bedeutet eben die Möglichkeit, die man hat, über verschiedene Sprachen hinweg zu einem Einverständnis im Hinblick auf eine gemeinsame Welt zu kommen.

SPRECHERIN
1990, also im Alter von 90 Jahren, hält Gadamer an der Universität Heidelberg einen Vortrag über „Die Vielfalt der Sprachen und das Verstehen der Welt“, aufgezeichnet von der SWR-Tele-Akademie. Energisch vertritt er seine Philosophie der Verständigung mit anderen, die nur im Gespräch erfolgen kann –

O-TON GADAMER
CD Die Vielfalt der Sprachen
(18:35 – 19:10)
Sprache gehört in die Praxis, in das menschliche Miteinander und Zueinander. Und die Hermeneutik sagt, die Sprache gehört in das Gespräch. Das heißt, die Sprache ist überhaupt nur, was sie ist, wenn sie Verständigungsversuche, wenn sie Austausch und Rede und Gegenrede erfährt, wenn sie Antwort und Frage ist.

(29:50 – 30:19)
Sich in der Welt verstehen, hatte ich gesagt, das ist eigentlich das Thema. Und das heißt, sich miteinander zu verstehen. Und miteinander sich verstehen, das heißt den Anderen verstehen. Und das ist moralisch, nicht logisch, die schwerste menschliche Aufgabe überhaupt.

(31:25 – 31:39)
Wir müssen lernen zu sehen, dass der Andere eine primäre Grenzsetzung unserer Eigenliebe und unserer Egozentrik ist.

SPRECHERIN
Das Hören auf den Anderen ist ein Kernpunkt der Gadamerschen Hermeneutik. Hören heißt noch nicht zustimmen. Aber der Andere könnte Recht haben. Es bedeutet eine freiwillige geistige Selbstverarmung, sich gar nichts sagen zu lassen. Einen Verzicht auf all die zusätzlichen Erkenntnismöglichkeiten, die in den Fremdperspektiven liegen -

O-TON GADAMER
CD Die Vielfalt der Sprachen
(33:35 – 34:13)
Denn wer hört auf den Anderen, hört immer auf jemanden, der SEINEN Horizont hat. Das ist zwischen Ich und Du dieselbe Sache wie zwischen den Nationen oder zwischen den Kulturkreisen. Überall stehen wir vor diesem gleichen Problem. Wir müssen lernen, dass gerade im Hören auf den Anderen der eigentliche Weg sich öffnet, in dem wir Solidaritäten finden.

SPRECHERIN
Der aktuelle Bezug der Hermeneutik Gadamers ist kaum zu überhören. Jan-Ivar Lindén macht darauf aufmerksam, dass kulturelle Unterschiedlichkeit auch geschätzt und gewahrt werden sollte, wenn sie unser Verstehen bereichern soll –

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD1 Linden
(47:17 – 48:09)
Weil, wenn die kulturelle Diversität bedroht ist, hört ja die Möglichkeit, sich von unterschiedlichen Perspektiven aus zu verständigen, auf. Und das ist sicher heute eine aktuelle Frage. Erstens, wie wir uns mit anderen verständigen können sollen, aber auch wie wir sicherstellen, dass diese Diversität, die für hermeneutische Vielfalt steht, nicht plötzlich aufhört.

SPRECHERIN
Peter König betont einen anderen Aspekt. In dem Gadamer -Satz, dass die Geschichte nicht uns gehört, sondern wir der Geschichte, sieht er eine klare Absage an jeden Versuch, sich der Geschichte bemächtigen zu wollen. - Gadamers Philosophie des Verstehens ist unvereinbar mit fundamentalistischen Ansprüchen auf absolute Wahrheit. -

O-TON PETER KÖNIG
CD König.
(01:02:23 – 01:02:59 und 01:04:10 – 01:05:00)
Also dass wir der Geschichte gehören, und die Geschichte gehört nicht uns – was wäre die Alternative? Was wäre, wenn die Geschichte uns gehören würde? Das würde ja bedeuten, dass es einen Ort gibt, zu dem wir uns begeben könnten, von dem aus wir dann mit der Geschichte schalten und walten könnten, entscheiden könnten, was ist die Geschichte, die dann unsere Geschichte wäre. Und Gadamer hat bestritten, dass es einen solchen Ort gibt.
(…)
Deswegen gehören wir der Geschichte an. Wir sind in einer Bewegung, vielleicht hin auf der Suche eben nach einer Wahrheit, aber das ist eine Wahrheit, die nicht die absolute Wahrheit ist. Sondern das ist die Wahrheit, die sich einstellt im Einverständnis mit denen – mit denen ich das Einverständnis suche und suchen muss: mit meinen Mitmenschen. Da ist es eher dann, würd ich sagen, wenn es auch um eine ethische Dimension geht bei Gadamer, da ist es eher verderblich, wenn man der Meinung ist, man ist so viel anders, dass man die absolute Wahrheit, dass man über sie verfügt.

SPRECHERIN
Nicht zuletzt ist Gadamers Philosophie des Verstehens auch eine Sache der Lebensklugheit. Die grundsätzliche Offenheit für das Gespräch und die Fähigkeit, andere Meinungen als erkenntnisfördernd zu sehen, hat zu einem anregenden Austausch Gadamers auch mit seinen Kritikern geführt. Gadamer hat außerdem viele Schüler gefördert, die nicht auf seiner philosophischen Linie lagen. Das hat zur Ausbreitung seiner Hermeneutik nicht unwesentlich beigetragen. Unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg, als Rektor der Universität Leipzig, war Gadamer ein gesuchter Gesprächspartner zuerst der amerikanischen, dann der russischen Besatzungsmacht. Das lag zum Teil daran, dass er nie ein Mitglied der NSDAP war und politisch akzeptiert wurde. Aber vor allem durch sein diplomatisches Geschick erreichte er, dass der Universitätsbetrieb in Leipzig bestmöglich weitergehen konnte. Immer wieder kennzeichnend für Gadamer ist auch das Bestreben, Gelehrte aus der Emigration in das deutsche Universitätsleben zurückzuholen, so zum Beispiel Adorno nach Frankfurt – was Gadamer auch gelang -

O-TON-PETER KÖNIG
CD König
(07:22 – 08:01)
Und in gewisser Weise gilt das dann auch für Heidelberg. Er war Nachfolger von Jaspers, der weggegangen war nach Basel. Und er holte an das Philosophische Seminar, nach Heidelberg, Karl Löwith, also einen anderen Schüler von Heidegger, der eben auch ins Exil gehen musste, 1933 einen weiten Umweg machen musste über Japan nach Amerika, und das war auch eine Sache, die Gadamer bewusst betrieben hat.

SPRECHERIN
Ab 1949 war Gadamer am Philosophischen Seminar der Universität Heidelberg. Wie steht es um seine heutige Präsenz? Jan-Ivar Linden verweist auf die Geisteswissenschaften, in denen Gadamer nach wie vor eine große Rolle spielt. Auch im Zentrum für historische Ontologie wird die Hermeneutik diskutiert. Aber eine wirkliche Gadamer-Schule gibt es weder in Heidelberg noch sonst wo –

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
Lindén CD1
(49:15 – 49:33)
Weil Gadamer wollte ja immer, dass die Nachfolger etwas Eigenes machen. Was wiederum ganz wunderbar zeigt, wie wichtig diese persönlichen Aspekte des Philosophierens für ihn waren.

SPRECHERIN
Aber natürlich ist die Erinnerung an Gadamer immer noch in den nachfolgenden Gelehrtengenerationen lebendig.

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(00:06 – 00:41)
Ich bin von der Universität Heidelberg, unterrichte an der Universität Philosophie, habe auch in Heidelberg studiert, kannte also aus meiner Studienzeit Gadamer, er war damals schon emeritiert, als ich angefangen hab zu studieren, aber war in der Stadt immer noch präsent und an der Universität. Und hat im Sommer, im Sommersemester regelmäßig über lange Zeit nach seiner Emeritierung noch Vorlesungen gehalten.

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD1 Linden
(01:37 – 02:17)
In Heidelberg hab ich aber eher dann mit der nachfolgenden Generation gearbeitet, mit den Schülern von Gadamer, es gab ja eine neue Generation von Gadamer-Schülern in Heidelberg, Reiner Wiehl, Wolfgang Wieland und Hans Friedrich Fulda ist immer noch in Heidelberg tätig. Aber auch mit Gadamer war ich in Kontakt, er war aber schon ziemlich alt, als ich nach Heidelberg kam, 87 Jahre alt, aber bei Gadamer ist das ja nicht besonders viel.

SPRECHERIN:
Offenheit und Gesprächsbereitschaft machten Gadamer auch in der Stadt zu einer beliebten Person – über das Wirken an der Universität hinaus -

(05:35 – 05:58
Man konnte gar nicht umhin, ihm zu begegnen, ob das jetzt im Philosophischen Seminar war oder ob das in einem Wirtshaus war, also er war nicht allgegenwärtig, aber doch sehr sehr präsent in der Stadt.

SPRECHERIN
Hermeneutik gehört ins Gespräch, sagt Gadamer. Oft hat er bestätigt, dass nach den Lehrveranstaltungen, in einem kleinen Kreis bei einem Glase Wein, die besten philosophischen Diskussionen stattgefunden hätten –

O-TON JAN-IVAR LINDÉN
CD2 Linden
(29:15 – 29:23)
Zum hundertsten Geburtstag hab ich eine Flasche Calvados geschenkt, gerade deshalb.

SPRECHERIN
Selbstbesinnung durch Verständigung - diese hermeneutische Grundhaltung hat Gadamer auch lokal, in Heidelberg gelebt. Als einer der herausragenden Denker des 20 Jahrhunderts bleibt er zugleich ein internationales Phänomen -

O-TON PETER KÖNIG
CD König
(55:28 – 55:53)
Das gilt ja für kaum jemanden, den man da in Europa hätte, dass man sagen könnte, das gehört nur den Franzosen oder gehört nur den Deutschen, das war nie für die Geschichte der Philosophie so, dass die so national irgendwie beschränkt gewesen wäre. Das ist nicht das Ethos der Philosophie.

O-TON GADAMER
CD Die Vielfalt der Sprachen
(44:31 – 44:40
Bildung heißt, sich die Dinge vom Standpunkt eines Anderen ansehen können.

ABSAGE