Aus dem Buchprojekt "Philosophische Essays gegen geistigen Despotismus“

DIE LIZENZ ZUM LACHEN

oder warum Puritaner Spaßbremsen sind

1.) Wer ist ein Puritaner?

In modernen Wörterbüchern erscheint der „Puritaner“ kurz und bündig als „sittenstrenger Mensch“. Das klingt vage, verrät aber den heutigen Sprachgebrauch, der einen ganz bestimmten psychologischen Typus im Sinn hat. Der amerikanische Journalist und Schriftsteller H.L. Mencken (1880 – 1956) hat sozusagen den Prototyp des modernen Puritaners beschrieben: Der Puritaner sei ein Mensch, der ständig in der Angst lebt, dass irgendjemand irgendwo auf der Welt Spaß hat und der alles tun wird, um das zu unterbinden. – Der Spruch war ein Volltreffer und gehört zum Zitatenschatz der Weltliteratur. Tatsächlich hat Mencken die Definition des Puritaners entscheidend erweitert: Sicher ist er ein „sittenstrenger Mensch“, der sinnliche Freuden, Lachen und Spaß verabscheut. Das wirkliche Problem aber ist seine totalitäre und autoritäre Grundhaltung, die verlangt, dass alle anderen Menschen den gleichen Abscheu gegen Spaß empfinden müssen wie er selbst. Der sittenstrenge Mensch ruht also nicht eher, bis er alle Menschen zu sittenstrengen Menschen umgeschaffen hat – nach seinem eigenen Bilde. Sodass er „alles tun wird, um jeden Spaß auf der Welt zu unterbinden“, wie H.L. Mencken sagt. Die gigantische Anmaßung, im Alleinbesitz der Wahrheit zu sein und das Leben eines jeden Einzelnen regulieren zu wollen, gehört zur geistigen Grundausstattung des Puritaners.

Oder meine ich den Puritanismus als religiöse Bewegung, wenn ich vom Puritaner rede, also die historische Bedeutung des Wortes? „Purify the church!“ Reinigt die Kirche! Das war der Wahlspruch der protestantischen Reformer in Schottland und England, die sich im 16. Jahrhundert mit der Anglikanischen Kirche angelegt hatten, daraufhin verfolgt wurden und schließlich nach „Neuengland“ (Amerika) auswanderten. 1620 segelte die Mayflower über den Atlantik in die „Neue Welt“; an Bord die puritanischen Pilgerväter, bewaffnet mit Bibel und Schwert. Im 17. Jahrhundert bestimmten puritanische Kirchen den Pioniergeist der Siedler, ihre Lebensweise und ihre Gesetzgebung. Aber auch in Europa war der Puritanismus eine starke Bastion: hauptsächlich in England, Schottland, Holland, Frankreich und der Schweiz. Teilweise auch in Deutschland, Polen und Ungarn. Diese mächtige religiöse Bewegung stützte sich meist auf den Calvinismus, der eine ausgearbeitete Theologie und Dogmatik für den puritanischen Geist bereitstellte. (Johannes Calvin, Christianae religionis institutio (1536), zu Deutsch: Unterricht in der christlichen Religion.) - Diesen historischen Beiklang meine ich ebenfalls mit, wenn ich vom Puritaner spreche. Monotheistische Offenbarungsreligionen erheben Anspruch auf absolute Wahrheit und totale Lebensreglementierung. Und bis in den aktuellen Sprachgebrauch hinein hat sich dieser diktatorische Charakter des Puritaners auffällig erhalten. Inklusive strenger Sexualmoral, strenger Arbeitsmoral, strenger Geschlechterrollen. Das ist auch der Grund, warum ich vom Puritaner, nicht von der Puritanerin spreche. Es gab und gibt sicherlich auch Puritanerinnen. Aber der Puritanismus ist streng patriarchalisch. Bedenkt man, in welchem Ausmaß Frauen in puritanischen Gemeinden unterdrückt wurden, kann ich Puritaner nur Puritaner nennen; und selbst Puritanerinnen würde ich nur Puritaner nennen, weil sie die Emanzipationsgeschichte zurückdrehen und gleichsam Verrat am eigenen Geschlecht verüben.

Schon erhebt sich der vielstimmige Chor der Historiker: Hören Sie mal, so geht das nicht! Sie urteilen hier einseitig vom Standpunkt der Aufklärung und Vernunft. Das ist doch völlig unhistorisch! Die Kontrolle und Disziplinierung der Lebensweise war überlebensnotwendig. Die Siedler wollten mitten in der Wildnis eine Zivilisation aufbauen! Da kann man individuelle Befindlichkeiten nicht mit Samthandschuhen anfassen. Zudem waren weltliche und religiöse Gesetzgebung noch nicht so getrennt wie in modernen Demokratien. Die Religion, die Suche nach dem Seelenheil, die Frage nach dem Jenseits bestimmten das Denken in einem heute unvorstellbaren Ausmaß. Die puritanischen Gemeinden überlebten, gediehen und wuchsen. Verwaltung, Ökonomie, Justiz und öffentliche Moral funktionierten. Die Puritaner waren tüchtige, zähe und fleißige Leute, und übrigens keine Spaßbremsen, wie Sie hier behaupten: Wussten Sie, dass sogar die Pilgerväter auf der Mayflower einen Biervorrat im Laderaum hatten? Die Puritaner feierten gerne. Die haben sogar Thanksgiving erfunden! Sie gingen auch keineswegs in Sack und Asche einher, sie trugen bunte fröhliche Kleider. Auch die schönen Künste waren ihnen nicht fremd, sie haben erstaunliche Werke der Poesie und Malerei hervorgebracht. Also unterlassen Sie bitte das unhistorische Gerede vom sauertöpfischen und lebensfeindlichen Puritaner, wenn Sie Menschen wirklich „aufklären“ wollen.

Historische Fakten lasse ich gerne gelten. Nur die Interpretation ist ein Problem. Die ist zu beschönigend, gerade aus historischer Sicht. Der Puritanismus ist ja nicht als Survival-Religion im Wilden Westen entstanden, sondern aus der Reformation Martin Luthers hervorgegangen, die wiederum Vorläufer in Böhmen hatte. Wenn schon wild, dann stammt der Puritanismus aus dem Wilden Osten Deutschlands bzw. dem Wilden Westen Tschechiens. Und er hat sich in hochzivilisierten Ländern ebenso stark behauptet wie in den Wäldern der amerikanischen Kolonien. Was die Lebensart betrifft: Ich denke auch, dass die meisten Mitglieder der puritanischen Kirchen kreuzbrave Menschen waren, die gelegentlich feiern, ja sogar lachen konnten und einfach ihren allgemeinmenschlichen Bedürfnissen nachgingen, ob nun Bier, Barbecue oder Beischlaf. Es geht nur um die Frage, welche Ideen und Denkmodelle eben diese kreuzbraven Menschen dazu bringen, den Sünder erbarmungslos auszugrenzen und den Andersgläubigen mit tödlichem Hass zu verfolgen. Denn nichts zu lachen hatten bei den angeblich so bunten und lebensfreudigen Puritanern alle Abweichler von der strikt vorgegebenen Norm. Man lese nur einmal Nathaniel Hawthornes Roman The Scarlet Letter (1850) (dt. „Der scharlachrote Buchstabe“). – Ein Werk, das aufgrund seiner historisch akkuraten Darstellung der puritanischen Lebensweise zur amerikanischen Schullektüre und zur Weltliteratur zählt. Darin geht es um eine typische puritanische Gemeinde im 17 Jahrhundert in der Region Boston/Salem. Die Ehebrecherin Hester Prynne wird öffentlich an den Pranger gestellt. Auf ihrer Kleidung ist ein großes scharlachrotes „A“ aufgenäht (für „Adultery“ = Ehebruch). Für den Rest ihres Lebens muss sie diesen Buchstaben tragen, wann immer sie sich in der Öffentlichkeit zeigt. Das waren erwiesenermaßen Sitten und Gebräuche des amerikanischen Puritanismus. Die Hawthorne-Forschung hat sogar herausgefunden, dass der Autor längst nicht alle Register der Grausamkeit gezogen hat: Ehebrecherinnen mussten auf dem Gerüst eines Galgens sitzen, und zwar mit einem Strick um den Hals. So wurden sie öffentlich zur Schau gestellt bzw. ausgestellt. Dabei bekamen sie „nicht mehr“ als 40 Peitschenhiebe verpasst, wie das Gesetz gnädig vermerkt; allerdings mit dem Zusatz, es mögen sehr „heftige“ Peitschenhiebe sein. Anschließend wurde den Sünderinnen das „A“ gut sichtbar aufgenäht, mit dem sie tatsächlich bis ans Lebensende herumgehen mussten. Wenn sie Glück hatten. In einigen Fällen von Ehebruch wurde auch die Todesstrafe verhängt. Und immer über Frauen. Der Ururgroßvater von Nathaniel Hawthorne war übrigens als Richter an den berüchtigten Hexenprozessen von Salem im Jahre des Herrn 1692 beteiligt. – Es handelt sich also insgesamt um eine vormoderne und unaufgeklärte Glaubensdiktatur mit totalitärem Zugriff auf das Individuum. Deshalb schwingt diese historische Bedeutung für mich immer mit, wenn ich Puritaner sage. Er ist der Vertreter der „reinen“ Lehre - das lateinische Wort „puritas“ bedeutet „Reinheit“. Er ist der Belehrer der Unwissenden, die Gottes Schrift falsch interpretieren. Und er ist zugleich der Züchtiger aller Abweichler. Gottes Wort und Gottes Strafgericht in einer Person.

Eine wichtige Bedeutungsebene des Ausdrucks „Puritanismus“ sehe ich schließlich in den religionssoziologischen Erkenntnissen Max Webers (1864-1920): Er hat die Anschlussfähigkeit des asketischen Protestantismus an den Geist des modernen Kapitalismus entdeckt. Die Verbindbarkeit, ja innere Verbindung protestantischer Verhaltensmuster mit einem rational durchorganisierten Berufsleben und Betriebsleben. Der Grund für diese unheilige Allianz ist streng genommen theologischer Natur: Der Puritaner glaubt an die „Prädestination.“ Und damit hat er folgendes Gedankenkonstrukt unterschrieben: Gott hat noch vor der Erschaffung des Menschen insgeheim beschlossen, welche Exemplare zum Himmel aufsteigen und welche zur Hölle hinabfahren. Der Mensch gebärde sich, wie er wolle, tue Gutes und schaffe gute Werke, so viel er will. – Gottes Ratschluss bleibt ihm verborgen. Allein im Glauben, nicht in den Werken liegt die Erlösung und allein durch die freie „Gnadenwahl Gottes“ (Luther) kann die Seele ins Paradies gelangen. Der freie menschliche Wille ist eine Illusion. Der Mensch sowieso heillos verdorben. Und so bleibt nur die Hoffnung auf Gottes Erbarmen. – Wie leicht zu sehen ist, fehlt die „Vernunftidee“ des freien Willens (Kant) ebenso wie eine „Theorie der ethischen Gefühle“ (Adam Smith). Das sind Errungenschaften des 18. Jahrhunderts. Luther und Calvin schrieben im 16. Und die hätten sich wohl kaum für moralische Begründungen erwärmen können, die nicht ausdrücklich auf einer genau definierten Glaubensbasis ruhen. Eine Moral ohne Gott ist undenkbar. Durch individuelles Tun lässt sich Gott auch nicht beeinflussen oder gar bestechen.
Die Konsequenzen aus diesen völlig unbewiesenen Annahmen sind grausam: Aus der Prädestinationslehre entspringt die ständig peinigende Angst des puritanischen Menschen um sein Seelenheil. Das ständige Fragen, Bohren und Suchen nach dem aktuellen Gnadenstand. Das Gefühl, höchstens auf Bewährung gesegnet zu sein. Denn er kann ja nie sicher wissen, ob Gott ihn liebt und wirklich auserwählt hat. Also sucht er händeringend nach einem Ausweg und flüchtet in die „innerweltliche Askese“, wie Max Weber treffend sagt: Er begreift seinen Beruf als Berufung, als eine von Gott gestellte Aufgabe. Er arbeitet wie besessen, diszipliniert sich in jeder Minute seines Lebens. Wenn er Karriere und viel Geld macht, dann sind das erfreuliche Anzeichen eines wohlwollenden Gottes und des Gnadenstandes. Aber er kann sich niemals final sicher sein. Also muss er noch mehr Karriere und noch mehr Geld machen, darf sich nie ausruhen, genießen oder Gott einen guten Mann sein lassen. Weil er ja nicht weiß, ob dieser Gott wirklich gut ist. Gut zu ihm. So schuftet er weiter bis zum Umfallen, obwohl er längst schon angenehm von seinem Besitz leben könnte. Alles zur höheren Ehre Gottes, versteht sich. - Weit einflussreicher als die Prädestinationslehre war also ihr praktisches Resultat: die asketische Lebensweise des Puritanismus. Sie ließ sich nahtlos mit der rationalisierten und disziplinierten kapitalistischen Arbeitsweise verbinden. Sie passte perfekt zum rastlosen Vermehren und Anhäufen von Geld und Besitz als Selbstzweck. Diese Wirkungsmacht und Wandlungsfähigkeit von scheinbar veralteten Traditionen sollte man nie unterschätzen. Zwar haben heutige Angestellte meist keinen religiösen Bezug zu ihrer Arbeit. Aber sie haben oft unbewusst Kulturtechniken und mentale Einstellungen erlernt, die über Jahrhunderte hinweg ihre Strahlkraft bewahren. Aus dieser Sicht sind unsere heutigen Selbstoptimierer, Karrieristen und Workaholics durchweg innerweltliche Asketen. Durchtrainierte Sportler, die jede Minute des Tages verplanen und selbst die Freizeit als effizienzsteigerndes Aktivitäten-Pensum durchlaufen. Der Hedonismus der Wirtschaftswunder-Zeit erwies sich als vergänglich. Mit einer Beschleunigung, die an Verrücktheit grenzt, haben Digitalisierung und Turbo-Kapitalismus die Gemütlichkeit und auch das Gemüt selbst überschwemmt. Fast jedes Ereignis wird simultan in soziale Medien umgesetzt. Man ist überall und nirgends. Nur nicht im Hier und Jetzt. – Genau deshalb halte ich Max Webers Abhandlung „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, erstmals erschienen in den Jahren 1904/1905, für wahrhaft bahnbrechend: Wir lernen den „Idealtypus“ (Weber) des Puritaners in all seinen modernen Abwandlungen, Entstellungen, Verkleidungen, Schafspelzen und Narrenkappen heute viel besser erkennen.

Schon wieder erschallt die Stimme der Historiker: Das können Sie auch nicht machen! Mag ja sein, dass es sozialpsychologische Schnittstellen zwischen Puritanismus und Kapitalismus gibt. Geschenkt! Die Religion kann nichts dafür, wenn sie missbraucht wird. Ob für politische oder geschäftliche Zwecke. Das trifft nicht ihre ursprüngliche Spiritualität. – Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Warum eigentlich werden Religionen zu so vielen bösen Zwecken missbraucht? Das liegt eben auch am sehr hohen Grad ihrer Missbrauchbarkeit. Der Anspruch, allein im Besitz der Wahrheit über Gott, den Sinn des Lebens und den Weg ins Paradies zu sein, lockt Narzissten und Psychopathen jeder Spielart an. Welche Möglichkeiten der Selbstberauschung, der gottgleichen Machtausübung und Kontrolle über die Seelen anderer!

Nachdem ich meine Karten auf den Tisch gelegt habe, was genau ich unter einem Puritaner verstehe, komme ich nun zur philosophischen Kritik des Puritanismus.

2.) Warum der Puritaner den Tod liebt.

Wer das Licht der Welt erblickt, bekommt einen Klaps auf den Popo, schreit so laut er kann und ist von dem Moment an unwiderruflich zum Sterben verurteilt. -

"Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt er auch, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh: denn es ist alles eitel."
Prediger Salomo, 3, 19

Sagt der berühmte Prediger Salomo im Alten Testament, der auch den Ausruf: „Alles ist eitel und Haschen nach Wind!“ prägte. Der kleine, nur 12 Kapitel umfassende Text ist der biblische Kronzeuge für die „Vanitas“, - die Eitelkeit, Vergeblichkeit und Endlichkeit alles Irdischen. Und die Argumente des Predigers sind so schneidend wie die Sense des großen Schnitters: Gegen die unmittelbare Realität des Todes ist nun einmal kein Kraut gewachsen. – Doch warum bereitet dieser schreckliche Gedanke dem dogmatischen Puritaner so viel rhetorisches Wohlbehagen? Weil nur der Tod die Ungläubigen zu Tode erschreckt. Mensch bedenke, dass du sterblich bist. Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen. Lass ab von deinen sündigen Wegen, du Sterblicher, verachte alle Freuden der sinnlichen Lust, verachte am besten das Leben gleich selbst, denn am Ende ist das alles auf Sand gebaut und deine Seele schmachtet ewiglich in der Hölle. – Ein pessimistischer, wenn nicht lebensfeindlicher Grundton durchzieht die Sprache dogmatischer Eiferer in allen monotheistischen Religionen. Woher kommt das? -

Der Prediger Salomon wird ebenfalls nicht müde, der Menschheit die Nichtigkeit des Daseins drastisch vor Augen zu führen. „Was hat der Mensch von all seiner Mühe, die er hat unter der Sonne?“ (3,1) Dieser Grundsatzfrage folgend, nimmt der Prediger eine Reihe beliebter Sinnkonstruktionen auseinander: Die menschliche Geschichte etwa ist keine Entwicklung zum Besseren, kein steiniger Pfad ins Land Utopia, das wenigstens zukünftiges Glück verspricht: „Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt; die Erde bleibt aber ewiglich.“ (1,4) Im Gegensatz zur modernen Welt sieht der Prediger in allen Geschehnissen nur die ewige Wiederkunft des Gleichen, die vergebliche Liebesmüh alles Handelns: „Was ist’s, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist’s, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird; und geschieht nichts Neues unter der Sonne.“ (1,9) Töricht ist deshalb auch das Ringen um Ruhm, Ehre und Anerkennung der Nachwelt: „Man gedenkt nicht derer, die zuvor gewesen sind; also auch derer, so hernach kommen, wird man nicht gedenken bei denen, die darnach sein werden.“ (1,10) Gerechtigkeit? - Vergessen Sie’s: „Es ist eine Eitelkeit, die auf Erden geschieht: Es sind Gerechte, denen geht es, als hätten sie Werke der Gottlosen, - und sind Gottlose, denen geht es, als hätten sie Werke der Gerechten.“ (8,14) Schlimmer noch – beide, Gerechte wie Ungerechte, werden ohne Ansehen der Person hinweggerafft: „Das ist ein böses Ding unter allem, was unter der Sonne geschieht, dass es einem geht wie dem andern; daher auch das Herz des Menschen voll Arges wird, und Torheit ist in ihrem Herzen (…).“ (9, 3) Auch Reichtum und Güteranhäufung sind kein probates Mittel gegen die Vergeblichkeit alles Tuns. Man hat Arbeit und Mühe ohne Ende, zieht viele Mitesser an und das Herz kommt nicht einmal in der Nacht zur Ruhe. Am Ende aber gerät jeder Reichtum in die Hände zweifelhafter Erben und wird in alle Winde zerstreut: „Denn wer weiß, ob er weise oder toll sein wird. Und soll doch herrschen in aller meiner Arbeit, die ich weislich getan habe unter der Sonne.“ (2, 19) Ja nicht einmal Weisheit und Gelehrsamkeit helfen dem Menschen wirklich weiter: „Denn man gedenkt des Weisen nicht immerdar, ebenso wenig wie des Narren, und die künftigen Tage vergessen alles; und wie der Narr stirbt, also auch der Weise.“ (2,16) In der Praxis scheint Weisheit ohnehin mehr eine Last als eine Lust: „Denn wo viel Weisheit ist, da ist viel Grämens; und wer viel lernt, der muss viel leiden.“ (1,18) Das viele Studieren mache nur den Leib müde und des unseligen Büchermachens sei kein Ende. (12,12)

Nachdem der Prediger mit nihilistischer Sprachgewalt alles menschliche Streben zertrümmert hat, verfällt er - wen wundert’s? - in tiefe Depression: „Darum verdross mich zu leben; denn es gefiel mir übel, was unter der Sonne geschieht, dass alles eitel ist und Haschen nach Wind.“ (2,17) – An diesem Tiefpunkt setzt nun aber eine gedankliche Wende ein, die man als modernen Existenzialismus verstehen könnte: „So sah ich denn, dass nichts Besseres ist, als dass ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil. Denn wer will ihn dazu bringen, dass er sehe, was nach ihm geschehen wird?“ (3,22) Der Akzent liegt jetzt nicht mehr auf einem angestrebten Ziel, sondern im unmittelbaren Hier und Jetzt, das einzig und allein Realität verbürgt und unmittelbar ergriffen, ausgefüllt, gelebt werden muss. Damit verschieben sich auch die Wertsetzungen: Weisheit und Gerechtigkeit, die ersten und letzten Dinge überlasse man besser Gott. Im irdischen Hier und Jetzt aber gibt es praktische Verhaltensregeln, um die einzig sichere Gegenwart optimal nutzen zu können. „Fröhlichkeit in der Arbeit“ ist zum Glück nicht alles. Auch Essen und Trinken soll man genießen – und – man glaubt es nicht, zumindest nicht in einem Bibeltext – auch seinen Sexualpartner, jawohl, soll man durchaus genießen: „Wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden?“ (4,11) „Brauche das Leben mit deinem Weibe, das du lieb hast, solange du das eitle Leben hast, das dir Gott unter der Sonne gegeben hat.“ (9,9) Selbst ein Gläschen Wein kann übrigens nicht schaden, sagt der Prediger, und überhaupt solle man sich gütlich tun und fröhlich sein im Leben.

In der christlichen Tradition dienten diese Zitate zur Rechtfertigung sexueller Verfehlungen des Klerus, der bis in die Reformationszeit hinein unfassbar ausschweifend gelebt hat: vom wandernden Bettelmönch bis zum Prälaten, Erzbischof und Papst, aber auch in einer Vielzahl von Nonnen- und Mönchsklöstern. Der fressende, saufende und hurende Mönch war nicht umsonst eine volkstümliche Figur in Sagen und Schwänken, in humanistischen Satiren und kunstvollen Novellensammlungen. Dabei wurde der sexuell so einmalig liberale Bibeltext zwangsläufig zur Lieblingsautorität jedes Geistlichen, wenn er den Lockungen fleischlicher Wollust erlag.
Auch ist erstaunlich, wie der Prediger Salomon noch bis ins bürgerliche Zeitalter der Aufklärung gleichsam als Lizenz zum lustbetonten Leben gewirkt hat. -

"Es lebe die Weisheit und die Philosophie! Die Weisheit Salomons: guten Wein trinken, sich an erlesenen Speisen laben, mit schönen Frauen schlafen und auf weichen Daunenbetten ruhen – alles andere ist nichts als Eitelkeit."
Denis Diderot (1713-1784), Rameaus Neffe (1805 erstmals publiziert)

Natürlich ist die Versuchung unwiderstehlich, den biblischen Puritanismus mit seiner eigenen Autorität aufs Haupt zu schlagen. Außerdem enthält der Text des weisen Salomon tatsächlich ein zeitloses – und damit auch modernes - Modell der Lebenskunst: Wenn alles wirklich eitel und jedes Tun vergeblich ist, was bleibt dann eigentlich dem armen Sterblichen anderes übrig, als sich voll dem Sinnengenuss des Augenblicks hinzugeben? –

"Ich wenigstens weiß nicht, was als Gutes noch denkbar bleibt, wenn ich die Lust des Gaumens, der Liebe, des Gehörs und der schönen Form abziehe."
Epikur (ca. 300 v. Chr.)

Der Hedonismus, d.h. eine Lebensphilosophie, die das Lustprinzip als höchstes Gut anstrebt, hatte zu allen Zeiten zahlreiche Anhänger. Und zu allen Zeiten wurden die Jünger des Lustprinzips unversöhnlich bekämpft von den Vertretern des Realitätsprinzips und Pflichtprinzips, den Moralisten, Puritanern und gläubigen Dogmatikern. Hedonist und Puritaner – welche Sinnkonstruktionen bestimmen ihr Leben? - Der Hedonist ruht scheinbar entspannt in der Ekstase des Hier und Jetzt. Aber welches Ideal treibt eigentlich die Feinde der Lust an?

3.) Die Weltauffassung des Puritanismus

Zunächst die Fakten: Gehört der Prediger Salomon wirklich zur Partei der Hedonisten? In der abendländischen Schulbildung bekam er in Windeseile den Ruf eines fürchterlichen Pessimisten. Er galt und gilt als trauriger Greis, der bekanntlich die Eitelkeit aller Dinge gelehrt habe. Auch im Text selbst finden sich zahlreiche Belege für den Pessimismus, nicht nur für den Hedonismus. Aber das muss ja kein Widerspruch sein: Gerade das lustvolle Leben im Hier und Jetzt gewinnt seine ganze Intensität durch die Endlichkeit und Eitelkeit aller Dinge. Das ist die bekannte „existenzialistische“ Lesart –

"In seinem Jubel ist ein furchtbarer Ton: ist das volle Wissen um Vergänglichkeit und Tod. Es ist das Dunkel – welches seinem Glück diesen Glanz gibt. Es ist die Bitterkeit, die er nicht vergessen kann, welche seinem Glück diese Süße gibt."
Ludwig Marcuse, Philosophie des Glücks (1972), S. 90

Doch wird diese elegante dialektische Auflösung von Widersprüchen kaum einem Text gerecht, der aus dem 3. Jahrhundert vor Christus stammt. Sein Autor lebte nicht in der philosophischen Orientierungslosigkeit und Denkfreiheit unserer Gesellschaft, in einer Welt des „Absurden“ (Albert Camus), wo der Mensch im Angesicht der Sinnlosigkeit auf eigene Faust einen Sinn erschaffen muss. Im Gegenteil verstand sich der Autor des Prediger-Textes als führendes Mitglied der hoch entwickelten jüdischen Theologie: Er bezeichnete sich frech als „König Salomon“, den sagenhaft klugen Herrscher in Jerusalem, der wohl im 10. Jahrhundert vor Christus gelebt hat. Unter diesem Pseudonym veröffentlichte er den Text. Und er hat genügend Leser gefunden, die glaubten, es handle sich um eine originale Schrift aus dem Nachlass des Weisesten aller Weisen. Am Ende gelangte diese skrupellose Namensfälschung in den jüdischen Schriftenkanon und schaffte sogar den Sprung ins Alte Testament. Wohl selten hat ein theologischer PR-Gag derart Karriere gemacht. Andererseits muss man erst einmal so glänzend schreiben können, um glaubhaft mit einem Salomon verwechselt zu werden. Der Autor selbst ist übrigens bis heute unbekannt. 3. Jahrhundert vor Christus, mehr wissen wir nicht.

Zweifellos war er in der religiösen Kultur seiner Zeit tief verwurzelt. Dieser Prediger glaubt noch an seinen Gott. Und die Lust an Essen und Trinken, an Wein, Luxus und sinnlichem Verlangen, überhaupt jede Freude, Weisheit und Vernunft sind in seinen Augen ausdrücklich eine Gnade Gottes:

"Denn welchem Menschen Gott Reichtum und Güter gibt und die Gewalt, dass er davon isst und trinkt für sein Teil und fröhlich ist in seiner Arbeit, das ist eine Gottesgabe.
Denn er denkt nicht viel an die Tage seines Lebens, weil Gott sein Herz erfreut." (5, 18-19)

Neben der Gottgefälligkeit kennt der Prediger auch den Begriff der Sünde: Sie besteht in der hemmungslosen Gier nach weltlichem Besitz. Wer dem Herrn nicht gefällt, dem gibt er unsägliche „Mühe, dass er sammle und häufe, und es doch dem gegeben werde, der Gott gefällt.“ (2, 26) Eine durchaus kritische Theologie, die den weltweit entfesselten Kapitalismus unserer Tage als höllischen Sündenpfuhl entlarvt. Es gibt eben allzu viele, die „Gott nicht gefallen“. Und es geschieht wahrlich „viel Böses unter der Sonne“.

„Modern“ ist dieser Text aber vor allem dadurch, dass er sich nicht anmaßt, Gottes Walten und Wege zu verstehen. Eben deshalb sollen wir ja unser Dasein so fröhlich wie möglich verbringen, weil eine höhere Weisheit alles schon festgelegt hat. „Ein Jegliches hat seine Zeit“ (3, 2), lautet ein berühmtes Wort des Predigers. Vergeblich ist jeder Versuch, das Wann und Wo irdischer Geschehnisse zu ergründen. Also genieße dein Leben, solange du es hast und solange du kannst. Denn auch der Genuss ist dir bestimmt und zugeteilt von einer göttlichen Instanz.

Andererseits gibt es Hinweise im Text, die den dogmatischen Gottesglauben des Predigers hervorheben. Der Prediger verehrte den strengen, rein geistigen Gott des Alten Testamentes. Einen Gott, von dem man sich nicht einmal ein Bildnis, geschweige lüstern-sinnliche Vorstellungen machen durfte. Die Spur führt in Kapitel 7. Hier stehen Sätze, die jedem Hedonisten das Blut in den Adern gerinnen lassen. –

"Es ist besser, in das Klagehaus gehen, denn in das Trinkhaus; in jenem ist das Ende aller Menschen, und der Lebendige nimmt’s zu Herzen. (7,2)
Es ist Trauern besser als Lachen; denn durch Trauern wird das Herz gebessert." (7,3)

Der scheinbar so liberale Prediger ist eine Spaßbremse. Dass Trauern das Herz bessert, mag angehen. Denn wer ein großes Unglück erleidet, wird oft bestätigen, dass es das Beste in den Menschen zutage fördert, dass Anteilnahme und Hilfsbereitschaft in der Not tatsächlich wachsen. Aber muss man die Trauer um „das Ende aller Menschen“ auch ohne Not eigens aufsuchen und vertiefen? Und moralisch höher bewerten als einen unbeschwerten Moment der Fröhlichkeit? Hat nicht der Prediger selbst empfohlen, solche Glücksmomente ausdrücklich als Gottesgabe zu genießen? - Skandalös unverständlich ist vor allem die Abwertung des Lachens: Wie soll ich fröhlich sein in meiner Arbeit, mich gütlich tun an Essen und Trinken und Wein und Erotik – ohne dabei auch herzlich zu lachen?

Um diese Lustkiller-Sätze zu deuten, muss man aber anerkennen, dass sie immerhin im Text stehen. Fremdartig, unlogisch, auf keine Weise vermittelbar mit den heiteren Sprüchen, worin der Prediger die Lust besingt. Offenbar ist seine Weisheit ein widersprüchliches Konstrukt aus Pessimismus, Hedonismus und monotheistischem Puritanismus. Manche Gelehrten behaupten sogar, der Text sei viel zu ungleichartig, um von einem einzigen Autor zu stammen. Aber Widersprüche in Texten sind kein automatischer Beweis für mehrere Verfasser. Gegensätze können zwar nicht beide logisch wahr sein. Aber in der Psyche ein und desselben Menschen können Gegensätze bequem nebeneinander Platz finden. Und widersprüchliche Menschen schreiben widersprüchliche Texte. Dazu kommen die Widersprüche, die im Denken der Zeit selbst liegen und denen kein Autor vollständig entrinnen kann.
Oder war der undurchsichtige „Prediger Salomon“ (der sich als zweites Pseudonym auch noch den Herausgeber-Namen „Kohelet“ zulegte) nur ein betrügerischer Atheist, der klug genug war, gleich selbst einige puritanische Stellen in seinen Text einzuschmuggeln? Um der Verfolgung zu entgehen. Um seine hedonistische Philosophie unter dem Deckmantel der Strenggläubigkeit zu verkaufen. Ebenfalls vage Spekulationen, die den Text in seiner ganzen und widersprüchlichen Gestalt nicht wahrhaben und lesen wollen.

Vor allem unterschätzen diese Erklärungsversuche das intellektuelle Schwergewicht der jüdischen Theologie: Gott gilt als transzendenter Schöpfer der Welt. Als unkörperliches, durch keine Eigenschaft benennbares Wesen. Gott ist in Zeit und Raum, in der Vielheit sinnlicher Anschauung nicht zu begreifen. Nicht zu sehen und nicht anzufassen. Er ist vollkommen eins mit sich selbst - und Anfang wie Ende aller Dinge liegen in seinem Geist schon beschlossen. Einerseits steht er über aller sinnlichen Existenz, andererseits ist er das geistige Gesetz alles Existierenden. Deshalb ist der Monotheismus, der Glaube an den einen und einzigen Gott, ein so folgenschwerer Bruch mit der heidnisch-antiken Religiosität: Das Materielle taugt nicht länger als Darstellung und Vorstellung Gottes. Gott wird keimfreier Geist. Der von Gelächter widerhallende Olymp der Griechen und Römer wandelt sich zur abergläubischen Vielgötterei, wo jeder sinnliche Seinsbezirk flugs mit einem eigenen Gott versehen wird: Mars für den Krieger, Venus für die Liebe, Hermes für Kaufleute und Wegelagerer, Vulkan für Schmiede und Handwerker. Ein gut sortierter Supermarkt der Sinnlichkeit, der gehobenen geistigen Ansprüchen nicht länger genügt.

Einen übersinnlichen Gott hatte die Menschheit bis dahin noch nicht gedacht. Nur der altägyptische Pharao Echnaton (Amenophis IV) hatte im 14. Jahrhundert vor Christus schon ähnliche Vorstellungen entwickelt. Doch blieb das ein Intermezzo ohne ernsthafte Folgen für den ägyptischen Polytheismus. Erst die jüdische Theologie schuf die monotheistische Basis, auf der das spätere Christentum und auch der Islam gezielt aufbauen konnten. – Man erwäge die weltgeschichtliche Wirkung des Gedankens, dass Gott nicht mit den Sinnen, sondern nur mit höchster abstrakter Geistigkeit zu glauben sei. Ein allmächtiger Schöpfer, der wie durch einen Abgrund von seinem Geschöpf und allem Irdischen getrennt ist.

Der Puritanismus ist zunächst nichts weiter als die konsequente praktische Umsetzung der neuen Gottesidee: Die Liebe zur sinnlichen Lust muss bekämpft werden, weil sie das irdische Geschöpf höher stellt als den göttlichen Schöpfer. Jede „fleischliche“ Begierde ist grundsätzlich ein Abfallen von Gott. Denn nur Gott ist vollkommen, ewig und unwandelbar. Alles Geschaffene aber bleibt der Geburt und dem Tod unterworfen. Nichts weiter als ein flüchtiger Schatten. Es ist Sünde, daran sein Herz zu hängen, weil alles Heil einzig in Gott zu finden ist. Das Motto ist einfach und klar: Sei für dieses Leben tot, dann wirst du Unsterblichkeit im Paradies erlangen.
Die philosophische Nebenwirkung dieser Geisteshaltung ist allerdings der Dualismus, das heißt: Zwei völlig unvereinbare Prinzipien stehen einander schroff gegenüber -

"… dem guten Christus steht der böse Satan entgegen, die Welt des Geistes wird durch Christus, die Welt der Materie durch Satan repräsentiert; jenem gehört unsere Seele, diesem unser Leib; und die ganze Erscheinungswelt, die Natur, ist demnach ursprünglich böse, und Satan, der Fürst der Finsternis, will uns damit ins Verderben locken, und es gilt allen sinnlichen Freuden des Lebens zu entsagen, unseren Leib (…) zu peinigen, damit die Seele sich desto herrlicher emporschwinge in den lichten Himmel, in das strahlende Reich Christi."
Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)

Heine sieht im Leib-Seele-Konflikt sogar „die eigentliche Idee des Christentums“. Dafür spricht auch die philosophische Begründung der christlichen Glaubensdogmen: Die großen Kirchenväter des frühen Christentums, namentlich der Heilige Augustinus (354 – 430 n. Chr.), waren stark von der letzten philosophischen Denkbewegung der Spätantike beeinflusst – dem „Neuplatonismus“, der insbesondere durch Plotin (205 – 270 n. Chr.) direkt in Rom gelehrt und bekannt wurde: Plotin behauptete genau wie Platon, dass unsere Welt nur ein schattenhaftes Abbild eines Urbildes sei. Dieses Urbild ist die Idee des Guten. Das Gute liegt vor allem Sein und vor allem Denken. Es ist eine unteilbare Einheit. Und eben weil es glückselig in sich ruhe, ströme und pulsiere es gleichsam über sich selbst hinaus, weil das absolut Gute keine Begrenzung kennt. So entstehe der Geist aus der überfließenden Selbst-Betrachtung des Guten. Der Geist wiederum bordet über und strömt in die Seele aus, die Seele schließlich fließe über in die Natur und die materielle Welt. Plotin nennt diesen Prozess „Emanation“ – ein Ausstrahlen bzw. Ausströmen des Niedrigeren aus dem Höheren, letztlich aus dem einen und vollkommenen Gott:

"Stell dir eine Quelle vor, die keinen andern Ursprung hat, sich aber selber ganz den Strömen dargibt und dabei nicht verbraucht wird durch diese Ströme, sondern selber im Stillesein verharrt (…); oder einen gewaltigen Baum, dessen Lebenskraft den ganzen Baum durchläuft, sein Urgrund aber verharrt in sich und zerstreut sich nicht über das Ganze, da er gleichsam in der Wurzel seinen festen Sitz hat; so verleiht dieser Urgrund dem Baum sein ganzes Leben in all seiner vielfältigen Fülle, bleibt jedoch selbst an seiner Stelle, denn er ist nicht selber Vielheit, sondern Urgrund dieses vielfältigen Lebens."
Plotin (Enneaden, III, 8)

So vollendet harmonisch diese schöne mystische Erkenntnis sein mag – die lebenspraktischen Konsequenzen laufen stets auf eine rigorose Trennung von Gott und Materie hinaus. Die Materie ist die niedrigste Stufe der Existenz. Die armseligste aller „Emanationen“, eben weil sie die Grundlage aller sinnlich-individuellen, damit aber ewig unbeständigen und sterblichen Existenz ist. Der große Plotin soll sich ernsthaft geschämt haben, dass er einen Körper hat und auf so jämmerlicher Seinsstufe vegetieren müsse. Aber schon seit Platon (427 – 347 v. Chr.) gilt der Körper mindestens als Gefängnis, wenn nicht als Grab der Seele. Und wie ein Grab muss die Seele den Körper verlassen, um in die rein geistigen Gefilde des absolut Guten zurückzukehren. Für das monotheistische Gemüt entsteht damit die fatale Assoziation von fleischlicher Existenz mit der Ursünde und Erbsünde schlechthin.

Die Vorteile dieser puritanischen Sinnkonstruktion sind beträchtlich: Man wähnt sich im Besitz der einzigen und absoluten Wahrheit. Man panzert sich gegen das schmerzliche Werden und Vergehen aller irdischen Existenz und gewinnt die Ewigkeit. Als zusätzlichen Bonus erhält man eine Erklärung für das Sinnlose und „Böse unter der Sonne“, das dem skeptischen Prediger Salomon noch so rätselhaft erschien: Die Welt ist böse, weil die Materie schon an sich ein böses Prinzip darstellt. – Der geistige Netto-Gewinn, den ein Puritaner durch seinen Lustverzicht erwirbt, ist in Wirklichkeit maßlos unbescheiden.
Dafür bezahlt er einen entsprechend hohen Preis. Zunächst einmal psychologisch -

"Einst, wenn die Menschheit ihre völlige Gesundheit wieder erlangt, wenn der Friede zwischen Leib und Seele wieder hergestellt und sie wieder in ursprünglicher Harmonie sich durchdringen, dann wird man den künstlichen Hader, den das Christentum zwischen beiden gestiftet, kaum begreifen können. Die glücklicheren und schöneren Generationen, die (…) in einer Religion der Freude emporblühen, werden wehmütig lächeln über ihre armen Vorfahren, die sich aller Genüsse dieser schönen Erde trübsinnig enthielten, und durch Abtötung der warmen, farbigen Sinnlichkeit fast zu kalten Gespenstern verblichen sind."
Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)

Eine allgemeine „Lazarettluft“ durchziehe das christliche Mittelalter und selbst der moderne Mensch spüre immer noch „Krämpfe und Schwäche“ in den Gliedern, so Heine. Tatsächlich hat die Wiedereinsetzung der Sexualität in ihre natürlichen Rechte fast die gesamte Neuzeit beansprucht. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts musste eigens die Psychoanalyse erfunden werden, um den tiefen krankhaften Riss zwischen Geist und Materie überhaupt ins kulturelle Bewusstsein zu heben. Die Frauen – im männlichen Monotheismus der Inbegriff diabolischer Fleischlichkeit – mussten mühsam emanzipiert, Erotik als Lebensform und Kunstform schwer erkämpft werden. Heute gehört es zu den Binsenweisheiten der Yin und Yang-Esoteriker, dass Männliches wie Weibliches sich zu einem höheren Lebensganzen ergänzen und der Sexus zum schöpferischen Plan Gottes gehört. Doch welche innere Zerrissenheit hat der Mensch bis dahin durchlaufen? Aus psychologischer Sicht kann man sich nur wundern, zu welchem Ausmaß an Selbstquälerei der Puritaner fähig war und ist. Alles zur höheren Ehre Gottes, alles, um vor allem sich selbst für die Unsterblichkeit zu empfehlen.

Aber die psychologische Sicht interessiert den Puritaner nicht, auch wenn er bis zur Bewusstseinsspaltung die Sinnlichkeit in sich abtötet. Ihm winkt persönliche Unsterblichkeit im Paradies. Sein Tun hängt allein an seinem Glauben. An einem transzendenten Gottesbegriff. Philosophisch betrachtet gründet sich also sein ganzes Lebensmodell auf eine - Spekulation. Hier ist er auch am meisten angreifbar. Hier errichtet er die höchsten Barrikaden, häuft Dogmen auf Dogmen und fährt sein schwerstes Geschütz auf: die Angst vor der Hölle. Genau hier entspringt auch der unversöhnliche Hass des Puritaners auf den Hedonisten. Weil Hedonisten naturgemäß Skeptiker sind. Sie bezweifeln, dass diese Welt von einem Gott sinnvoll regiert wird. Und schon gar nicht wollen sie daran glauben, dass aus einer bloßen Mutmaßung irgendwelche Verhaltensregeln abzuleiten sind, die das einzig zuverlässige Hier und Jetzt miesepetrig beherrschen sollen –

"Eine tröstliche Philosophie behauptet im Einklang mit der Religion, die Abhängigkeit der Seele von den Sinnen und den Organen des Körpers sei nur zufällig und vorübergehend, und sie werde frei und glücklich sein, wenn der Tod des Leibes sie aus deren tyrannischer Herrschaft entlässt. Das klingt sehr schön, aber es ist, wenn man von der Religion absieht, keineswegs sicher. Da ich mich also erst nach meinem Lebensende in der vollkommenen Gewissheit wiegen darf, unsterblich zu sein, wird man mir verzeihen, wenn ich es nicht eilig habe, zur Erkenntnis dieser Wahrheit zu gelangen. Eine Erkenntnis, die das Leben kostet, ist zu teuer erkauft."
Giacomo Casanova (1725-1798), Aus meinem Leben (vollständig publiziert erst 1960)

Von der Religion absehen? Die Unsterblichkeit keineswegs sicher? – Tödliche Sätze für jeden Puritaner. Was, wenn er sich geirrt hat und so töricht war, sein ganzes Leben auf Sinnenfreuden zu verzichten, anschließend aber im eiskalten Nichts zergeht? Hinter dem Hedonismus lauert der Abgrund des Unglaubens. Will der Puritaner seine Erlösung nicht gefährden, muss er die Lust fanatisch verabscheuen und vollständig aus seinem Bewusstsein verbannen.

Den Hedonisten wiederum kümmert weder die irdische Zeit noch die himmlische Ewigkeit. Ihn kümmert überhaupt keine Zeit, weil er einzig die Lust des Augenblicks sucht und darin seinen eigentlichen Lebenssinn erfährt. Außerhalb seiner nur momentanen Entzückung ist er allerdings ohne geistigen Schutz gegen Leid und Vergänglichkeit, weil er der letztendlichen Sinnlosigkeit nichts entgegenzusetzen hat. Ganz anders der religiös schwer bewaffnete Puritaner, der vor allem im „Klaghaus“ zur Bestform aufläuft. Dem Hedonisten bleibt hier nur die schwache Haltung des Verneinens, Verdrängens, Leugnens. Oder die Flucht in eine heroische Moral ohne Glauben – was ihm aber, wie alle Moral, meist zu anstrengend ist. Oder er entflieht in eine ideale weltliche oder ästhetische Utopie, in eine irdische „Religion der Freude“ (Heine), die ganz ohne Religion aber auch schwer zu haben ist. Oder er tendiert zum Agnostizismus, dem sokratischen „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Denn glauben heißt ja nichts wissen. Wenn der Glaube schon Wissen wäre, wäre das Glauben überflüssig und Gott unwiderleglich beweisbar. Der dogmatisch Glaubende muss also ein Wissen behaupten, das er nicht hat. Wer aber von vornherein eingesteht, nichts zu wissen, der lässt immerhin die Möglichkeit zum Glauben offen. Und er darf sich auch dem Nihilisten überlegen dünken, weil der ja an das Nichts „glaubt“, also auch ein Wissen über das geistige Leben behauptet, dessen Innerstes sich unserem Erkennen entzieht. Theoretisch ist der Agnostizismus die stärkste Position. Praktisch aber leidet er an seiner bloß negativen Haltung: Angesichts von realen Schicksalsschlägen erweist sich der puritanisch Strenggläubige geistig zweifellos gestählter und gleichsam austrainierter. Die letzte Fluchtmöglichkeit des Hedonisten besteht allerdings darin, die Lust gleich selbst zur Religion zu erheben, die Lust als positive Ewigkeit, die Vergänglichkeit als negativen Bremsklotz auf dem Weg zur Erlösung zu begreifen. -

Weh spricht Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit-,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883-85)

Diese fast kindlich anmutenden Zeilen sind das Glaubensbekenntnis aller Hedonisten, Ästheten, Bohemiens, aller Erotomanen, Partylöwen, Abenteurer, Süchtigen, Künstler, überhaupt aller lustbetonten unbürgerlichen Existenzen. Einzig im Rausch finden sie Momente einer zeitlosen Vollkommenheit. Eine Befreiung von allen beschränkenden Ichgefühlen und dem unerbittlich nüchternen Dasein. Insofern ist der Rausch eine Offenbarung, weil er Zeit und Raum überwindet. Eine Offenbarung nicht des Himmels, sondern aus fleischlich-weltlicher Lust. Eine Erlösung mitten im Diesseits statt im Jenseits – ein größerer Affront gegen strenggläubige Religiosität ist kaum denkbar. –

Mich locken nicht die Himmelsauen
Im Paradies, im sel’gen Land;
Dort find ich keine schönre Frauen,
Als ich bereits auf Erden fand.
Kein Engel mit den feinsten Schwingen
Könnt’ mir ersetzen dort mein Weib;
Auf Wolken sitzend Psalmen singen,
Wär’ auch nicht just mein Zeitvertreib.
Heinrich Heine

Lustfeindlichkeit begründet sich natürlich nicht nur theologisch. Es gibt auch politische Puritaner. So behauptete Robespierre (1758 – 1794), der despotische Führer der Französischen Revolution, dass die Tugend das Laster mit der Guillotine bestrafen müsse. In dem Revolutionsdrama Dantons Tod (1835) hat Georg Büchner diesen mörderischen Tugendbold schonungslos demaskiert:

DANTON
Du hast kein Geld genommen, du hast keine Schulden gemacht, du hast bei keinem Weibe geschlafen, du hast immer einen anständigen Rock getragen und dich nie betrunken. Robespierre, du bist empörend rechtschaffen. Ich würde mich schämen, dreißig Jahre lang mit der nämlichen Moralphysiognomie zwischen Himmel und Erde herumzulaufen, bloß um des elenden Vergnügens willen, andre schlechter zu finden als mich. – Ist denn nichts in dir, was dir nicht manchmal ganz leise, heimlich sagte: du lügst, du lügst?
(Georg Büchner, Dantons Tod (1835), 1. Akt, 6. Szene)

Aber wie gesagt: Psychologische Selbstwahrnehmung liegt dem Puritaner nicht. Die leise und heimliche Stimme des Unbewussten könnte recht unschöne Motive ins Bewusstsein flüstern: Puritanismus wird ja leicht zum Schutzwall derer, die in diesem Leben nicht gut weggekommen sind. Man hasst die Genießenden „wie ein Eunuch die Männer“ (Büchner). Und weil sich der stets glaubensfeste Puritaner im Alleinbesitz der Wahrheit und rechten Lebensführung wähnt, will er keineswegs akzeptieren, dass seine spezielle Psyche wirklich speziell ist – das heißt eben nicht auf andere verbindlich übertragbar. Er ist der geschworene Todfeind des Individualismus, im Grunde antimodern und sowieso antipsychologisch. Die Erkenntnis, dass er selbst einmalig ist, dass seine Individualität also nur ihre eigene und spezielle Selbstbefriedigung sucht, dass auch er selbst dem verhassten Lustprinzip unterworfen ist - das ist der ewig wunde Punkt in seinem Selbstverständnis. Daran wird er niemals freiwillig rühren:

DANTON
Es gibt nur Epikuräer, und zwar grobe und feine, Christus war der feinste; das ist der einzige Unterschied, den ich zwischen den Menschen herausbringen kann. Jeder handelt seiner Natur gemäß, d.h. er tut, was ihm wohltut.
Georg Büchner, Dantons Tod, 1. Akt, 6. Szene

Büchner nimmt ein halbes Jahrhundert vor Nietzsche den „Willen zur Macht“ vorweg: Die psychologische Entlarvung aller überpersönlichen Weltanschauungen als Gier nach größtmöglichem, sehr persönlichem Selbstgenuss.

4.) Humaner Puritanismus oder der lachende Mystiker

Puritanismus als Lebenshaltung kommt nicht immer betont lustfeindlich daher. Die Abwendung der Psyche vom irdischen und materiellen Lustprinzip kann auch durch mystische Versenkung begründet sein. Durch die Verschmelzung der Seele mit dem göttlichen Urgrund aller Dinge. Namen wie Franz von Assisi, Meister Eckhart oder Theresa von Avila nennt auch der dogmatische Kirchenglaube mit Ehrfurcht und heiligt sie. Immer gab es und gibt es solche Ausnahmeerscheinungen der menschlichen Spezies, die mit „heiliger Gleichgültigkeit“ (Franz von Sales) durch dieses Leben gehen. Menschen, die ihr eigenes Ich und dessen Begierde in sich dauerhaft abtöten. Nicht aus verklemmter Libido oder intellektueller Eitelkeit. Sondern aus einem beinah preußisch klingenden Pflichtgefühl:

"Alle sollen begreifen, dass die wahre Liebe zu Gott nicht im Vergießen von Tränen zu finden ist, noch in jener Süße und Zärtlichkeit, die wir uns ersehnen, weil sie uns tröstet, sondern darin, dass wir Gott mit Gerechtigkeit, Seelenstärke und Demut dienen."
Theresa von Avila (zit. n. Huxley, S. 111)

Die unmittelbar erlebte, ekstatische Vereinigung mit dem göttlichen Sein ist einerseits das Urerlebnis jedes Mystikers. Andererseits betonen die wirklich großen Mystiker vor allem die moralische Konsequenz des Handelns, die aus diesen Erlebnissen hervorgeht. – Ein dauerhaft geübtes Verhalten der Selbstüberwindung, das auch noch in der esoterischen Verzückung die Gefahr egoistischer Selbstbefriedigung fürchtet:

"Der Wert der Liebe besteht nicht in überschwänglichen Gefühlen, sondern in der Abgeschiedenheit, in der Geduld während aller Prüfungen um Gottes willen, den wir lieben."
St. Johannes vom Kreuz (zit. n. Huxley, S. 111)

Theresa von Avila, die berühmte spanische Mystikerin aus dem 16. Jahrhundert, wagte einmal die Äußerung, dass niemand wissen könne, ob wir Gott lieben, die Liebe zum Nächsten aber erkenne man sehr wohl. Es geht um die klare Einsicht, dass Gott eine große Einheit ist, die alles durchdringt. Der Egoismus ist der Abfall von Gott, der Sündenfall schlechthin. Und am Egoismus, dem eigenen wie gesellschaftlichen, arbeitet sich der Mystiker lebenslänglich ab. Sein Platz ist nicht im Nirwana und Nirgendwo, sondern mitten in der sinnlichen Existenz selber. Genau an der Schnittstelle zwischen irdischer Begierde und geistiger Befreiung:

Verfolge nicht die äußeren Verwicklungen,
Weile nicht in der inneren Leere.
Sei heiter in der Einheit der Dinge,
Und die Zweiheit verschwindet von selbst.
Der dritte Patriarch des Zen (zit. n. Huxley, S. 98)

Heiter in der Einheit der Dinge zu leben ist ein Lebenskunststück, das nur wenigen beschieden ist. Doch Heiterkeit ist immerhin ein Lebensideal in Reichweite für Normalsterbliche. Etwas Ähnliches meinte noch das Bürgertum des 19. Jahrhunderts, wenn es vom „heiteren Darüberstehen“ sprach. Aber die großen Mystiker meinen eher ein unerschütterliches Darinstehen. Es gelingt ihnen, sich selbst sozusagen abzusterben, ihr Herz an nichts Irdisches zu hängen, damit sie die göttliche Einheit schon auf der Erde leben und praktizieren können. -

"Halte dich abgeschieden von allen Menschen, halte dich unberührt von allen sinnenhaften Bildern, befreie dich von allem, was Zufall, Verhaftetheit und Kummer zu bringen vermag, und richte dein Gemüt allezeit auf ein heiliges Schauen, in dem du Gott in deinem Herzen trägst (…)."
Meister Eckhart (1260 – 1327)

Trotz der himmelhohen Messlatte ist Mystik ein unbestreitbares Phänomen der Kulturgeschichte: ob im Neuplatonismus des christlich-abendländischen Mittelalters, ob im Brahmanismus, Buddhismus und Hinduismus Indiens, im Taoismus Chinas, im Zen-Buddhismus Japans oder in der Sufi-Weisheit des Islam. Und die großen Mystiker waren erfüllt von der Reinheit eines geistigen Prinzips, das sie in der Praxis erstaunlich effektiv umsetzten: Theresa von Avila gründete allein 17 katholisch reformierte Klöster. Hildegard von Bingen entwickelte fast im Alleingang die Pflanzen-Heilkunde. Buddha systematisierte die ungeheuerliche Vielzahl traditioneller indischer Meditationstechniken und Meister Eckhart war hochrangiger Kirchenpolitiker. Manche waren natürlich auch weltflüchtige Eremiten wie Lao Tse. Aber fast alle hatten sie ein auffälliges Merkmal: Humor –

"Dreißig Jahre lang ging ich auf der Suche nach Gott, und als ich am Ende dieser Zeit die Augen geöffnet hatte, entdeckte ich, dass er es war, der mich suchte."

Eine theologische Slapstick-Einlage von Bajezid Bestami (9. Jh. n. Chr., zit. n. Buber, S.12).

Auch sehen die Mystiker Gott vor allem in seiner Schöpfung verkörpert: in der Liebe zum Nächsten, auch in der Liebe zum Schönen und Wunderbaren in der Natur, im Geist und der Wissenschaft und der Fantasie des Menschen. Der Schöpfer ist sinnlich nicht zu begreifen, und auch nicht mit dem Verstand. Aber er ist anwesend in der sinnlichen Welt, muss geliebt und gesucht werden innerhalb seiner Schöpfung. Der dogmatische Puritaner dagegen trennt seinen Gott rigoros von allem Geschaffenen ab. Er braucht den monotheistisch weltfernen Gott, damit er eine exklusive Offenbarung und eine unmissverständliche Autorität hat. Er braucht das einzig richtige Glaubensbekenntnis, nicht unbedingt gute Werke, um eine sichere Eintrittskarte ins Paradies zu erringen. – Genau von diesem Typus des strenggläubigen Dogmatikers haben sich die Mystiker seit je distanziert. -

"O Gott, wenn ich Dich aus Angst vor der Hölle anbete, so lass mich in der Hölle verbrennen. Und wenn ich Dich in der Hoffnung auf das Paradies anbete, schließe mich aus dem Paradiese aus. Aber wenn ich Dich um Deinetwillen anbete, enthalte mir nicht Deine immerwährende Schönheit vor."
Rabi’a (8. Jh. n. Chr., zit. n. Huxley, S. 133)

Für Mystiker ist der Weg zu Gott kein Punktesammeln fürs Paradies. Der Weg ist die Bekämpfung des ewigen Egoismus, das Erkennen des Egoismus auch im Verhältnis zum Höchsten.

Trotz aller Unterschiede bleibt die Mystik aber eine grundsätzlich puritanische Lebensform. Sie bekennt sich zur Entwertung des sinnlichen Lebens als nichtiges Gut. Sinnliches Begehren bleibt die ewig böse Quelle des Egoismus. Meister Eckehart stellt kategorisch fest:

"Es kann keine leibliche oder fleischliche Lust geben ohne geistigen Schaden. Denn das Fleisch begehrt wider den Geist, und der Geist begehrt wider das Fleisch."
Meister Eckhart

Und wie der Puritaner beruft sich auch der Mystiker ständig auf die große Lebenstatsache der Vergänglichkeit. Sinnliche und kreatürliche Existenz bedeutet immer auch Leiden, bedeutet Krankheit, Alter, Tod. Der pessimistische Grundzug beherrscht sogar die lächelnde Weisheit Buddhas: Seine berühmten „vier heiligen Wahrheiten“ beginnen mit der schrecklich trockenen Feststellung: „Alles Leben ist Leiden“. Dieses Leiden hat eine Ursache: die Begierde. Also führt einzig die Aufhebung der Begierde zur Aufhebung des Leidens. Nur wer den unersättlichen Lebensdurst überwindet, kann die Kette der Wiedergeburten knacken. Derart gewappnet, schüttelt der gläubige Buddhist allen irdischen Staub von seinen Füßen und wandelt den heiligen Pfad Richtung Nirwana – das Wort bedeutet so viel wie das „Erlöschen“ der Lebensflamme. Bestimmte, gar dogmatische Gottesvorstellungen gibt es im ursprünglichen Buddhismus nicht. Wohl aber den logisch strengsten Puritanismus.

Worin sich der Mystiker vom Puritaner eindeutig unterscheidet, ist ein wesentlich entspannteres Verhältnis zur Transzendenz: Das Göttliche soll eine praktische Richtschnur für das Leben sein, ein Ideal, das Orientierung für fehlbare Menschen schafft. Der Geist wird zwar absolut gedacht, das praktische Leben aber kann in der Regel nur eine Annäherung an das Absolute sein. Wer dieses Ideal wirklich leben könne, fragt sich deshalb auch Meister Eckhart:

"Darauf antworte ich: Niemand, der heute in dieser Zeit lebt. Einzig darum ist es dir gesagt, damit du weißt, was das Höchste ist und wonach du trachten und verlangen sollst."
Meister Eckhart

Diese gelassene Mäßigung von Absolutheitsansprüchen ist dem dogmatischen Puritaner wesensfremd – genau wie das Lachen. Der Mystiker bringt es wenigstens zum heiteren Lächeln, weil er sich nicht anmaßt, Gott ganz allein und einzig richtig zu verstehen:

"Wenn sie nicht erleuchtet sind, sind Buddhas nicht anders als gewöhnliche Wesen. Wenn sie erleuchtet sind, werden gewöhnliche Wesen zu Buddhas."
Hui Neng (638 – 713 n Chr., zit. n. Huxley, S. 77)

5.) Lachen als Kunst der Vernichtung von Angst

Es ist zwar zum Lachen. Aber es gibt tiefernste Theorien über das Lachen. Dient der Witz dem Abreagieren von sexueller oder aggressiver Triebenergie, wie Sigmund Freud meinte? Oder bedeutet das Lachen nur ein Verpuffen von falschen Erwartungen, wie Immanuel Kant lehrte? Entsteht es vielleicht aus dem Missverhältnis zwischen abstraktem Begriff und sinnlicher Anschauung, wovon Arthur Schopenhauer überzeugt war? - Selbst die evolutionstheoretisch fundierte Verhaltensforschung bietet widersprüchliche Theorien an: Stammt das Lachen aus der Kampfbereitschaft des zähnefletschenden Urmenschen? Stärkt es die Kampfmoral der Gruppe, die durch das Auslachen des Gegners zusammengeschweißt wird? Oder signalisiert es im Gegenteil nur friedliche Absichten? Ist Lachen aber nicht auch ein Erziehungsmittel, das abweichendes Verhalten verhöhnt und durch Scham und Schande diszipliniert?

Offensichtlich führt jeder Versuch einer positiven Definition des Lachens nur zu Teilwahrheiten. Am Ende kommt es immer darauf an, wer lacht. Und worüber. Lachen ist grundsätzlich situationsbedingt. Sucht man eine Definition, dann am besten eine negative: Was immer Lachen bedeutet, in jedem Fall verstößt es gegen die stillschweigend angenommene Ordnung der Dinge. Lachen ist die Anarchie des Lebens, ein Rest an Gesetzlosigkeit, die sich durch kein System jemals ganz bändigen lässt. Schon der gewöhnliche Wortwitz liegt jeder Logik quer im Bauch. Selbst dort, wo Lachen als soziales Disziplinierungsmittel den Abweichler verhöhnt, ist es mindestens eine Reaktion auf einen bedrohlichen Ordnungsverstoß, ein Undenkbares, das sich wider alles Denken trotzdem ereignet hat. Das Lächerliche ist also das, was jederzeit sein kann, eben weil es nicht sein darf:

"Ein Held kann über einen Strohhalm stolpern! Ein Halbgott an einer Gräte ersticken!"
Friedrich Theodor Vischer, Auch Einer (1879)

Auch entlarvt das Lachen weit häufiger gerade die Ordnungshüter als unordentlich und deckt mit satirischem Wohlgefallen die Heuchelei gesellschaftlicher Konventionen auf. Um eine abschließende Definition zu riskieren: Lachen ist der lebendige Beweis dafür, dass kein Mensch und auch keine Wahrheit absolut vollkommen sind. -

"Nach der Lehre der Stoiker ist die Weisheit nichts anderes als die Führung durch die Vernunft, die Torheit dagegen gleich der Abhängigkeit vom Drang der Leidenschaften. Wie viel mehr Leidenschaften als Vernunft gab aber Jupiter den Menschen, damit das menschliche Leben nicht völlig traurig und finster würde?"
Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit (1509)

Die Welt steckt voller buntscheckiger Narren und Possenreißer, sagt Erasmus. Man kann sie anhand ihrer herrschenden Leidenschaften quer durch alle Stände erkennen. Überhaupt ist die Welt bemerkenswert unvernünftig. Kein Glück von Dauer. Kein Mensch ohne Fehler. – Ja selbst die Vernunft und ihre Erkenntnis sind keineswegs unfehlbar:

"Die das Glück des Menschen im Wesen der Dinge selbst suchen, sind wirklich nicht recht gescheit. Es kommt nur auf die Auffassungen an. Die menschlichen Verhältnisse sind nämlich so dunkel und verworren, dass klare Einsicht gar nicht möglich ist."
Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit (1509)

Die feindliche Einstellung zum Lachen resultiert aus der Anmaßung, genau diese „klare Einsicht“ zu besitzen, die jede Dunkelheit erleuchtet und jede Verwirrung auflöst. Der dogmatisch Gläubige konstruiert eine Realität mit ausnahmslos gültigen Gesetzen. Eine Welt, die keine Opposition, keine Ränder und Grauzonen, keine Gesetzlosigkeit, kein unbekanntes X kennt. Das Gesetz des allmächtigen Gottes muss haarscharf deckungsgleich mit der Wahrheit sein. Deshalb erstirbt im Angesicht Gottes zwangsläufig jedes Lachen. Eben weil keine Anarchie mehr vorstellbar ist, die das Wahre als unwahr oder auch nur teilwahr entlarven dürfte:

"Das Lachen ist die Schwäche, die Hinfälligkeit und Verderbtheit unseres Fleisches."
Umberto Eco, Der Name der Rose (1982), S. 602

Bruder Jorge von Burgos ist eine beeindruckende Romanfigur aus Umberto Ecos Der Name der Rose: „…ein greiser Mönch, gebeugt von der Last seiner Jahre und weiß wie der Schnee, nicht nur an Kopf und Händen, sondern auch im Gesicht und sogar in den Augen. Offensichtlich ein Blinder.“ (Eco, S. 105). Bruder Jorge verbreitet eine kalte, höhnische und grimmige Aura. Er versieht das Amt des obersten Bibliothekars in einer Benediktinerabtei irgendwo im Nordwesten Italiens. Seine erblindeten Augen wirken wie die eines Toten. Aber im Gedächtnis hat er das gesamte Wissen der riesigen Kloster-Bibliothek abgespeichert. Und nichts erregt so sehr seinen Zorn wie das Lachen. – „Es ist das Zeichen unserer Beschränktheit als Sünder.“ (S. 604) - Lachen muss dem Irdischen kategorisch einverleibt werden. Damit es nicht aufsteigen kann bis zum Himmlischen und Göttlichen, das natürlich absolut wahr ist, und keine denkbare und selbst undenkbare Lücke kennt, durch die auch nur ein Lächeln eindringen könnte. Bruder Jorge ist ein wahrer Meister puritanischer Disputierkunst.

Der Name der Rose kann nach meiner Leseerfahrung durchaus als Antwort auf das 7. Kapitel des „Prediger Salomo“ verstanden werden: Den bösen Hieb gegen das Lachen und die Bevorzugung der Trauer und des „Klaghauses“ konnte ich ihm nie verzeihen. Zu eng und unlösbar sind doch Humor und Humanität verschwistert. Wer das Lachen verbieten will, der kann ja auch nicht über sich selbst lachen. Solche Menschen haben keinerlei Fähigkeit, sich von ihren ein für allemal angenommenen Denkmustern zu lösen. Ich roch in diesen biblischen Textstellen etwas Teuflisches und Machtbesessenes - den geistigen Allwissenheits- und Allmachtsanspruch aller geistigen Terroristen. Und das widerfuhr mir ausgerechnet beim sinnlich heitersten und liberalsten aller Propheten. Nicht einmal ein Salomon zeigte sich also völlig immun gegen den Zeitgeist. Und seine Zeit war eindeutig religiös-fundamentalistisch. Zum Glück hat Literatur aber einen sehr langen Atem. Etwa 2300 Jahre später schreibt ein italienischer Gelehrter einen fulminanten Kriminalroman, der den dogmatischen Puritaner nicht nur als Lachfeind, sondern als Serienmörder und geistigen Despoten entlarvt. Wer wissen will, welche Sinnkonstruktionen die Apostel der absoluten Wahrheit aufbauen, der sollte Ecos Buch lesen: Wie in einem großen geistesgeschichtlichen Panorama offenbart sich der Charakter des totalitären Denkens.

Der Roman spielt im Jahr 1327, in der Grauzone zwischen Spätmittelalter und Neuzeit. Er fasst antikes, mittelalterliches und teilweise schon wissenschaftliches Denken faszinierend zusammen. So zitiert Bruder Jorge häufig die Ordensregel des heiligen Benedikt (480-547), die sich ausdrücklich gegen das Lachen richtet:

"Leichtfertige Späße aber und albernes oder zum Lachen reizendes Geschwätz verdammen wir allezeit und überall, und keinem Jünger erlauben wir, zu derlei Reden den Mund zu öffnen."
(Eco, S. 127)

Laut Eco beruft sich diese Vorschrift ausdrücklich auf die Autorität des Predigers Salomo. – Lachen galt im Mittelalter vor allem als Zeichen des Unglaubens: „Das Lachen schürt nur den Zweifel“ (Eco, S. 170), doziert auch Bruder Jorge: „Der lachende Narr sagt implizit: Deus non est.“ (S.170) Es ist kein Gott! Man versteht den Schrecken des dogmatischen Puritaners: Die Unvernunft des Lachens stellt die Vollkommenheit von Gottes Schöpfung und damit Gott selbst in Frage. Deshalb gilt Lachen grundsätzlich als teuflisch und sündhaft. Der heilige Kirchenvater Johannes Chrysostomus (ca. 344-407) schwor sogar Stein und Bein, dass Jesus Christus niemals gelacht habe. Tatsächlich liefert das Neue Testament auch keinen Beleg dafür. Vielmehr hat Christus nachweislich drei Mal geweint. Aber diese Unbedingtheit, womit der Puritaner das Lachen ablehnt, ist nur das Spiegelbild seiner eigenen Unbedingtheit. Nämlich des Wahns oder vielmehr Wahnsinns, im Besitz der einzig wahren Deutung des Universums und Gottes zu sein:

"Wer lacht, glaubt nicht an das, worüber er lacht, aber er hasst es auch nicht."
(Eco, S. 168)

Mit diesem Satz offenbart Bruder Jorge das fundamentalistische Menschenbild: Der Dogmatiker duldet keine Gleichgültigkeit gegenüber Glaube und Unglaube, Gut und Böse, Sünde und Erlösung. Der Hauptspaß seines Lebens besteht ja gerade darin, diktatorisch festzulegen, was genau Gottes Wille ist – und was nicht. Wer also die Ungläubigen nicht tüchtig genug hasst, liebt Gott immer noch zu wenig. Die eher versöhnliche und skeptische Humanität des Lachens stört die Interpretationshoheit und den fein abgestimmten Freund-Feind-Mechanismus des absoluten Denkens.

Der englische Franziskanermönch William von Baskerville wird zum entscheidenden Gegenspieler Jorges. Er ist wegen einer geheimen kirchenpolitischen Mission unterwegs. In Begleitung seines naiv-frommen Schülers Adson von Melk gelangt er in die Benediktinerabtei, wo sich prompt grauenhafte Morde ereignen. Bruder William wird mit den Ermittlungen beauftragt. Überhaupt trägt er unverkennbar Züge des Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Sein unbedarfter Gehilfe Adson spielt die Rolle des Watson, der über die Taten des scharfsinnigen Helden berichtet. William ist zunächst also der Detektiv, der Bruder Jorge als Mörder überführt.

Aber vor allem ist er das geistige Gegenbild des Mörders. William misstraut abstrakten Begriffen. Wahrheit muss ständig durch genaue Beobachtung von Erfahrung und Fakten ermittelt werden, man besitzt sie nicht einfach von vornherein. Dementsprechend human und bescheiden fällt sein Anspruch auf Erkenntnis aus:

"Niemand zwingt uns zu wissen, Adson. Wir müssen einfach. Auch um den Preis, nicht recht zu begreifen." (S. 575)
"Das Äußerste, was man tun kann, ist, besser hinzuschauen." (S.260)

Das Weltbild des Bruders Jorge sieht ganz anders aus. Mit den biblischen Schriften und deren Interpretation durch die Kirchenväter ist das menschliche Wissen ein für allemal vollendet und abgeschlossen: „Es gibt keinen Fortschritt, es gibt keine epochale Revolution in der Geschichte des Wissens, es gibt nur fortdauernde und erhabene Rekapitulation.“ (S. 509) Für die Feinde des Lachens ist die Welt kein Rätsel mehr. Die Offenbarung hat immer schon stattgefunden. Forschender Wissenstrieb wird zur sündigen Überheblichkeit des Geistes. „In Demut und aufmerksam“ (S.509) soll der Gläubige dem „Lauf der Geschichte lauschen“ (ebd.), soll ihm folgen und ihn vorhersagen. Der Fundamentalist führt Exklusivinterviews mit dem Weltgeist persönlich. Und trotz aller Demutshaltung heißt das: Ich allein bin der wahre und gottgleiche Deuter aller menschlichen Geschehnisse.

Dagegen ist Williams Verhältnis zu Gott wesentlich bescheidener. Auch der Allmächtige gleicht einem offenen und unberechenbaren Erkenntnisprozess. Es gibt keine menschlichen Begriffe und Lehrsätze, die ihn jemals festhalten oder gar einfangen könnten:

"… der bloße Gedanke, es könnte so etwas wie allgemeine Gesetze und eine feste Ordnung der Dinge geben, impliziert bereits, dass Gott ihr Gefangener wäre – Gott, der doch so absolut frei ist, dass er die ganze Welt, wenn er nur wollte und mit einem einzigen Akt seines Willens, verändern könnte!" (S. 264)

Der Respekt vor Gott gebietet, sich von fixen Ideen und unantastbaren Denkmustern lösen zu können. Damit gibt Bruder William auch dem Lachen einen weiten Spielraum, weil er dem Schöpfer dieser Welt jederzeit ein anarchistisches Potenzial zutraut. Genervt von den Fragen Adsons, ob denn Jesus wirklich nie gelacht habe, antwortet er: „Ich glaube, dass Christus nie gelacht hat, weil er in seiner Allwissenheit sicher schon wusste, was wir Christen alles anstellen würden.“ (S. 206) Übrigens ist Williams Gesicht von einer auffällig „heiteren Miene“ durchdrungen. Gelegentlich neigt er zu einem „maliziösen Lächeln“ und dem Laster der intellektuellen Eitelkeit. Aber seinem Gehilfen Adson vermittelt er gesunde Skepsis und Neugier sowie „einen aufrechten Gang“.

Es war ein genialer Schachzug Ecos, die gesamte Krimihandlung und die Motivation des Mörders an einem bis heute verschollenen Buch des Aristoteles festzumachen, genauer: dem zweiten Buch seiner Poetik, das von der Komödie und dem Lächerlichen als ein Mittel der Wahrheitsfindung handelt. Der Bibliothekar Jorge hat dieses Buch gefunden, verbirgt aber den Sensationsfund im geheimsten Winkel der Bibliothek. Er vergiftet sogar die einzelnen Buchseiten und tötet jeden, der seinem Geheimnis auf die Spur kommt. Schließlich galt Aristoteles im Mittelalter als Quelle aller natürlichen Vernunft. Als philosophus schlechthin, den sogar höchste Kirchengelehrte wie Boethius, Albertus Magnus und der heilige Thomas von Aquin Zeile für Zeile kommentiert hatten. Wenn dieses Buch also bekannt würde, könnten sich die Freunde des Lachens auf eine hohe christliche Autorität berufen. Im großen finalen Rededuell mit William von Baskerville zeichnet Jorge das Horrorszenarium –

"... dass im Lachen die höchste Vollendung des Menschen liege. (…) Doch das Gesetz verschafft sich Geltung mit Hilfe der Angst, deren wahrer Name Gottesfurcht ist. Und aus diesem Buch könnte leicht der luziferische Funke aufspringen, der die ganze Welt in einen neuen Brand stecken würde, und dann würde das Lachen zu einer neuen Kunst(…): zur Kunst der Vernichtung von Angst!" (Eco, S. 604)

Angst ist das Pfund, womit Fundamentalisten wuchern, im religiösen Falle die Angst vor dem Tod und der Hölle. Und nur der Alleinbesitz aller Wegweiser, die rettend ins Paradies führen, sichert die unumschränkte Herrschaft des Hirten über die Schafe.

Es ist beeindruckend, wie Umberto Eco am Befund der Lachfeindlichkeit das Psychogramm geistiger Despoten freilegt. „Ich bin nur ein Werkzeug gewesen“ (S. 599), so lautet gebetsmühlenhaft die Rechtfertigung derer, die im Zeichen einer absoluten Wahrheit töten. Und Bruder William erklärt seinem verblüfften Schüler Adson ausführlich, „… wie aus der Liebe zur Buße und aus dem Verlangen, die Welt vom Übel zu säubern, Bluttaten und Vernichtung hervorgehen können.“ (S. 284) Wie selbst fromme Menschen nur die „Gelüste ihrer Lenden in verwandelter Form stillen“. (S. 505) Wie sich „überzogene Lust an der Gerechtigkeit mit Machtlust paart“ (S. 505) Es gebe eben nicht nur die Wollust an Reichtum und fleischlicher Sünde. Sondern auch die Wollust an der Buße, am Tod, ja selbst an der Grausamkeit. Das vernichtende Urteil, das William von Baskerville Bruder Jorge ins Gesicht schleudert, verdammt den Geist der Lachfeinde als Ausgeburt des Bösen schlechthin:

"Du bist der Teufel! (…) Ja, du! Man hat dich belogen, der Teufel ist nicht der Fürst der Materie, der Teufel ist die Anmaßung des Geistes, der Glaube ohne ein Lächeln, die Wahrheit, die niemals vom Zweifel erfasst wird." (Eco, S. 607)

Wenn es aber richtig ist, dass Lachfeindlichkeit aus dem absoluten Wahrheitsanspruch machtbesessener Ideologen entspringt, dann berührt diese Einsicht auch die sonst so bewährte Lebenskunst des Puritanismus: Die Heilssuche im Ewigen und Unvergänglichen jenseits des Grabes ist nur scheinbar unbesiegbar. Die Abhärtung gegen alles Vergängliche nicht der Weisheit letzter Schluss. Die trübselige Bejahung des Todes nicht die einzige Antwort auf den Tod. Denn zum Schrecken aller „Brüder Jorges“ kann auch das Lachen den Tod überwinden: „Der lachende Bauer fürchtet sich nicht vor dem Tod, solange er lacht (…).“ (S. 604) – Weshalb Bruder Jorge den Lachenden schnellstmöglich wieder zum Ernst und zur Angst vor dem Tod zurückführen will. Sonst könnte ja jeder Bauer die kirchliche Autorität anzweifeln und womöglich eine soziale Revolution anzetteln.
Solange er lacht, fürchtet der Mensch den Tod nicht. Das liegt am Ekstatischen des Lachens, an der Befreiung von allen Regeln, Ordnungen, Denkmustern, dem Loslassen von allem Sinn, dem Genuss des höheren Sinns im Unsinn. Darin gleicht das Lachen der Ekstase des Mystikers, aber auch dem Rausch des Hedonisten: Es ist eine zeitweise Erlösung von allen irdischen Zwängen. Und zweifellos ist das Lachen die gesündeste Form der Ekstase: Es reduziert die Stresshormone Adrenalin und Kortisol und überflutet den Körper mit Glückshormonen wie Dopamin, Serotonin und Endorphin. Das Immunsystem wird durch entzündungshemmende Killerzellen gestärkt. Die Schmerzresistenz steigt um 30 Prozent. Die Lunge nimmt viermal so viel Sauerstoff auf wie gewöhnlich, das Herz-Kreislaufsystem und sogar die Verdauung arbeiten deutlich besser. 20 Sekunden Lachen entspricht dem Gesundheitseffekt von drei Minuten schnellem Rudern oder Dauerlaufen. – Statt im Park also schweißtreibend zu rennen, sollte man gemütlich auf einer Bank sitzen und die Jogger herzlich auslachen. Überhaupt bewegt man beim Lachen 17 Gesichtsmuskeln und weitere ca. 80 Muskeln am gesamten Körper. Ja – Lachen ist die geistvollste und sublimste aller Sportarten. Mittlerweile gibt es Lachseminare, Lachclubs, Lachkongresse, Lachtherapien, eine regelrechte Wissenschaft des Lachens - die Gelotologie (von gr. „gelos“, d.h. „Lachen“).

Wer das traurige Joch der Vergänglichkeit möglichst dauerhaft abwerfen will, sollte generell einen heiteren Sinn kultivieren. Der hedonistische Drogen- und Konsumrausch ist zwar eine Alternative, aber unfehlbar selbstzerstörerisch. Und der asketische Mystiker, der sich kopfüber in die göttliche All-Einheit stürzt, entfremdet sich der schönen und einzig konkreten sinnlichen Welt. Lachen ist nicht nur gesund – Lachen ist die einzige geistige Befreiung von allem Irdischen, die keine Verneinung des Lebens nötig hat. Auch keine höhere Begründung nötig hat. Ja gar keine Begründung nötig hat:

"… denn diese gute Eigenschaft belohnt sich augenblicklich selbst. Wer eben fröhlich ist, hat allemal Ursache, es zu sein: nämlich eben diese, dass er es ist. (…) Sie (die Heiterkeit, G.B.) allein ist gleichsam die bare Münze des Glückes und nicht, wie alles andere, bloß der Bankzettel; weil nur sie unmittelbar in der Gegenwart beglückt."
Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit (1851)

Natürlich bleibt das Leben erlösungsbedürftig. „Schwere Unglücksfälle“ (Schopenhauer) verdüstern die robusteste Heiterkeit. Auch der alte Satz des griechischen Philosophen Demokrit scheint unwiderlegbar: Das Leben sei für den Fühlenden eine Tragödie, für den Denkenden eine Komödie. In Wahrheit aber ist kein Mensch nur ein Denkender, keiner nur ein Fühlender. Wir sind tragikomische Mischwesen aus Denken und Fühlen. Es ist auch kein Zufall, dass man gerade dem Clown Melancholie nachsagt, dass Traurigkeit sogar das poetische Genie bedingt, wie Gelehrte von Aristoteles bis Goethe beteuern. Zuletzt aber ist wohl der Humor wesentlich flexibler im Umgang mit einer misslichen Welt -

"Was haben Sie denn gegen das Lachen? Kann man denn auch nicht lachend sehr ernsthaft sein? … Lachen erhält uns vernünftiger als der Verdruss."
Gotthold Ephraim Lessing, Minna von Barnhelm (1767)

Tiefe Trauer lässt keine Distanz zu, überwältigt uns total und verschlingt die ohnmächtige Psyche mit Haut und Haar. Ganz im Ernst befangen, verbietet sich jedes Lachen. Das Lachen dagegen kann sich auch den Ernst leisten, setzt aber ein Minimum an reflektiertem Abstand voraus. So weit der menschliche Wille und die Selbstkontrolle reichen, sollte man also der Komödie vor der Tragödie stets den Vorzug geben. Lachen wird durch Trauer tief und geistvoll. Trauern ohne Lachen aber heißt lebendig begraben sein. Friedrich Nietzsche ließ das Lachen durch seinen Propheten Zarathustra sogar „heilig“ sprechen. Lachen ist der große Trost im Diesseits, den sich das leidenste Tier – der Mensch – erfunden hat: „… vielleicht, dass ihr daraufhin, als Lachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt – und die Metaphysik voran!“ („Versuch einer Selbstkritik“ (1886)). Auch solle man kein „Ungeduldiger“ und „Unbedingter“ sein, mahnt Nietzsche, sondern „einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt“. – Bruder Jorge würde sich angesichts solcher Attacken bestimmt in Krämpfen winden. Sehr zu Unrecht, denn vielleicht liegt im Lachen sogar der einzige Grund verborgen, weshalb man noch an Gott glauben und sich mit seiner Schöpfung versöhnen könnte:

"Wenn Gott tot ist, wer lacht dann am Ende?"
Imre Kertész, Galeerentagebuch (1992)

Für die profane Alltagspraxis genügt mir die Einsicht des Kabarettisten Rolf Miller: „Man muss über Humor auch mal lachen können!“

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Zitierte Literatur:

-Will Durant: Weltreiche des Glaubens, Köln 1985. Naumann & Göbel
-Will und Ariel Durant: Das Zeitalter Voltaires, Köln 1985. Naumann & Göbel
-Meister Eckehart: Vom Wunder der Seele, Stuttgart 1979. Reclam
-Umberto Eco: Der Name der Rose, München 1986. dtv
-Erasmus von Rotterdam: Das Lob der Torheit, Stuttgart 1949. Reclam
-Nathaniel Hawthorne, The Scarlet Letter. New York 1988. W.W.Norton & Company
-Heinrich Heine: Sämtliche Werke, Augsburg 1998. Weltbild
-Aldous Huxley: Die ewige Philosophie, München 1977. Piper
-Imre Kertész: Galeerentagebuch 1993. Rowohlt
-G.E. Lessing: Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück, Stuttgart 1976. Reclam
-Friedrich Nietzsche: Werke, hrsg. v. Karl Schlechta, München 1969. Carl Hanser
-Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit, Zürich 1977. Diogenes
-Friedrich Theodor Vischer: Auch Einer. Eine Reisebekanntschaft, Frankfurt a.M. 1987. Insel Taschenbuch
-W. Wieland (Hg.): Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd I: Antike, Stuttgart 1978. Reclam