Zum Kant-Jahr 2024

Zu Ehren des 300. Geburtstages von Immanuel Kant teile ich einige Auszüge aus meinem Essay "Klarstellungen. Immanuel Kants Leben und Denken" einem philosophisch interessierten Publikum mit. Es handelt sich um ein laufendes Buchprojekt, das ich wegen familiärer Pflichten noch nicht abschließen konnte. Das ist in Ordnung. Pflicht schlägt Neigung, wie uns Kant so eindringlich lehrt. Dennoch will ich nicht das Vergnügen entbehren, diesem Denker, dem ich viel verdanke, meinen Respekt, aber auch meine Kritik zu zollen.

In dem großen Chor der Stimmen, die Kant zu Recht würdigen, kommentieren, interpretieren und kritisieren, kann mein Beitrag nur ein winziger sein. Aber auch das habe ich von Kant gelernt: Einen wirklichen Wahrheitsanspruch hat Vernunft nur dann, wenn sie die "Einstimmung freier Bürger" findet. Wir entscheiden am Ende nicht selbst, ob wir Recht haben oder nicht. Egal wie wichtig wir uns vorkommen und wie überzeugt wir von unserer Einsicht sein mögen. Vernunft ist unteilbares Gemeingut, nicht Privatbesitz. Sie muss "allgemein mitteilbar" sein, ja von höchster Allgemeinheit und Notwendigkeit. Deshalb richte ich mich mit folgendem Essay nicht nur an Akademiker und Kant-Spezialisten. Ich schließe sie aber auch nicht aus. Ich schreibe weder akademisch noch antiakademisch. Die Form des Essays, die einen subjektiven und literarischen Spielraum erlaubt, war deshalb passend: Der erste Teil befasst sich mit Kants Leben, mit seiner viel zu wenig bekannten Lebensphilosophie, aber auch mit seinen Vorurteilen gegenüber Fremdkulturen und Frauen. Abschließend geht es auch um Vorurteile gegen Kant selbst, speziell unsere Vorurteile im 21. Jahrhundert.

Im zweiten Teil geht es um die Philosophie Kants, um ihre theoretische Erörterung; kombiniert mit den eigenen Erfahrungen, die ich mit Kants Philosophie gemacht habe. Immerhin beschäftige ich mich mit diesem Philosophen seit 1979, also seit mittlerweile 45 Jahren. Nein, natürlich nicht durchgehend, aber doch immmer wiederkehrend. Die Grundgedanken seiner kritischen Philosophie haben mich aber tatsächlich dauerhaft begleitet und mich davor bewahrt, dem Allwissenheitsanspruch von Dogmatikern jemals in die Falle zu tappen. Auch die heiligen vier Apostel des "Absoluten", ob Fichte, Schelling, Hegel oder Marx, selbst die allerschlausten Soziologen wie Habermas, Horkheimer und Adorno, selbst naseweise Naturwissenschaftler, die ihre beschränkte Methode für den Universalschlüssel zum Ding an sich halten - sie alle prallten von mir ab, gesichert durch eine jede Anmaßung prüfende Firewall, die 1781 in Königsberg, genauer in Kants "Kritik der reinen Vernunft" installiert wurde.

Die kritische Besinnung auf die "Bedingung der Möglichkeit" einer jeden Theorie, ihre unaufhebbare Abhängigkeit vom methodischen Denkansatz, von ihrer Fragestellung, die immer nur ein begrenztes Spektrum von Antworten zulässt, schließlich die Unterscheidung von Gewissheit und Spekulation, von Wissen und Glauben, diese von Kant inspirierte erkenntnistheoretische Achtsamkeit hat mich einen toleranten Umgang mit Philosophie gelehrt: Ich frage nach der Methodik, die sie "a priori" konstituiert. Dann suche ich sie genau dort, also im Zentrum ihrer Stärke auf und bewundere die Leistungsfähigkeit dieses Denkens. Will mir die Philosophie aber einreden, dass sie einen direkten Zugang zu den Dingen an sich hat, und zwar so, als würde keinerlei methodische Annahme dazwischenstehen oder als würden wir die Wahrheit über das Ganze und Totale unserer Existenz unverstellt und unverhüllt erblicken - dann kostet mich das als Kantianer nur ein müdes Lächeln.
Das verfängt nicht, wenn die Theorie mehr leisten will, als sie leisten kann. Beispiel gefällig?

Nehmen wir Hegel: Seine Dialektik ist ein starkes, immer noch unübertroffenes Mittel, um Prozesse in ihrer Dynamik zu erfassen. Dialektik ist Prozessphilosophie. Niemand konnte geschichtliche Bewegungen genau in ihrem Bewegungsmoment grandioser erfassen und beschreiben als Hegel. Ein aktuelles, typisch dialektisches Exempel: Der erstarkende Rechtsradikalismus ruft durch diese Bewegung eine Gegenbewegung hervor, die er gar nicht erwartet, geschweige denn beabsichtigt hatte: die liberale und demokratische Mehrheit und Mitte der deutschen Gesellschaft, die eben durch den Rechtsruck plötzlich zu neuem Selbstbewusstsein erwacht. Es sind diese spannenden Momente, die den Beteiligten oft selbst verborgen sind, wo ein Bewegungsmoment ein gegenteiliges und widersprüchliches Moment hervorbringt, was dann zu neuen dynamischen Prozessen führt, etwa Zuspitzung des Konflikts, der weitere Konflikte hervortreibt, die schließlich zu einer Auflösung bzw. Versöhnung auf neuer Ebene führen, woraufhin wieder neue Konflikte ausbrechen etc. etc. etc. Wer Hegels Ästhetik liest, etwa die Entwicklungsstadien der Poesie und ihrer Gattungen, wer seine Philosophie der Geschichte verfolgt, die ein beeindruckendes Bewegungspanorama der Weltgeschichte entwirft, der wird erstaunt sein über die große Integrationskraft dieser Denkmethode, die speziell Hegel mit einer unfassbaren Gelehrsamkeit zum Leben erweckt. Doch will er mir erzählen, dass er nicht nur ein glänzender Prozessanalytiker, sondern zugleich ein Prozessprophet ist, der ganz genau weiß, dass dieser Prozess in einem ominösen Absoluten seinen Ursprung hat, dass dieses Absolute sich angeblich als Weltgeist im geschichtlichen Prozess entäußert, also in jedem konkreten Bewegungsmoment volle Präsenz hat und ganz am Ende aller Prozesse wieder in sich selbst zurückkehrt, also Anfang wie Ende aller Entwicklung, auch die Entwicklung selbst, im Absoluten beschlossen sind - da sage ich mit Kant: All diese Behauptungen überfliegen bei weitem die Bedingung der Möglichkeit aller Erfahrung, sind anhand von Erfahrung auch nicht überprüfbar. Damit weder beweisbar noch widerlegbar. Somit reine Spekulation. Hegel hat sich noch nicht einmal entblödet, seine Dialektik aus der katholischen Trinitätslehre abzuleiten. Und er sagt ganz offen, dass er mit philosophischen Begriffen die göttliche Vorsehung in der menschlichen Geschichte mit wissenschaftlicher Notwendigkeit (!) rechtfertigen will. Als Kantianer sage ich: Nichts als Hirngespinste und Blendwerke einer theologisch entgleisten Vernunft, die jede kritische Selbstbesinnung verweigert. Aber ich sage auch: Als Prozessanalytiker/Dialektiker sind Hegel wie Marx unübertroffen. Hegel schuf die Grundlagen für die moderne Geschichtsschreibung, Marx die Grundlagen für die moderne Soziologie. Es wäre töricht, die Größe dieser Leistungen zu ignorieren oder nicht daraus zu lernen. Wer also durch die Schule Kants gegangen ist, kann sogar dogmatisch und ideologisch ausgerichtete Philosophen mit großem Gewinn lesen. Was konstituiert dieses Denken? Was leistet und kann es? Wo übernimmt sich diese Denkungsart und verhebt sich an unbeweisbaren Spekulationen? Diese pragmatische und kritische Art des Umgangs mit Philosophie ist aus meiner Sicht ein wohltuend humanes, auf friedlichen Ausgleich bedachtes Erbe der Philosophie Kants.

Dafür bin ich ihm zutiefst dankbar.

Stuttgart, im Januar 2024
Günter Bachmann

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Zu den hier veröffentlichten "Klarstellungen"

Teil I Das Leben

Abschnitt 1: Der Mann nach der Uhr
Abschnitt 2: Ein Mann von Grundsätzen: Kant als Lebenskünstler
Abschnitt 3: Kants Vorurteile
Abschnitt 3.1: Denkmöglichkeiten der Epoche
Abschnitt 3.2: Denkmöglichkeiten der eigenen Philosophie

(Noch mehr zu Kant in der Rubrik "Zitate")

Klarstellungen

Immanuel Kants Leben und Denken
Ein Essay von Günter Bachmann

(c) 2024 Günter Bachann

Ich stehe auf, nicht, weil ich ausgeschlafen habe, sondern weil es 6 ist. Ich gehe zu Tische, nicht, weil mich hungert, nein, sondern weil es 12 ist. Ich lege mich nieder, nicht, weil ich schläfrig bin, sondern weil es 10 ist.
Theodor Gottlieb von Hippel, „Der Mann nach der Uhr, oder der ordentliche Mann“ (1765)

Ich fragte Goethe, welchen der neueren Philosophen er für den vorzüglichsten halte.
(…)
„Kant hat unstreitig am meisten genützt, indem er die Grenzen zog, wie weit der menschliche Geist zu dringen fähig sei, und daß er die unauflöslichen Probleme liegen ließ.“
Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (1836)

TEIL I
DAS LEBEN

1. Der Mann nach der Uhr

Immanuel Kant (1724 – 1804) gilt als der Prototyp des wunderlichen Professors. Jede Philosophiegeschichte berichtet über die peinlich genaue Ordnung und Pünktlichkeit seines Tagesablaufs. Besonders das schräge Verhältnis Kants zu seinem Diener Martin Lampe gehört längst zum humanistischen Allgemeinwissen. – Ein Zeitgenosse berichtet:

"Fünf Minuten vor fünf Uhr morgens, es mochte Sommer oder Winter sein, trat sein Diener Lampe in die Stube mit dem ernsten militärischen Zuruf: „Es ist Zeit!“ Unter keiner Bedingung, auch in dem seltenen Falle einer schlaflosen Nacht, zögerte Kant nur einen Augenblick, dem strengen Kommando den schnellsten Gehorsam zu leisten."
(Lebensbild, S. 307)

Die Absonderlichkeiten des Immanuel Kant sind vermutlich populärer als seine schwierige Philosophie. Jedenfalls haben die Diener-Anekdoten ihren Platz in der Geistesgeschichte redlich verdient, allein schon deshalb, weil sie in den bierernsten Ruhmeshallen der Philosophie als unsterbliches Gelächter widerhallen -

"In den mehr als dreißig Jahren, in denen Lampe wöchentlich zweimal die „Hartung‘schen Zeitungen“ geholt und wieder fortgetragen hatte, wobei er jedesmal, damit sie nicht mit den „Hamburger Zeitungen“ verwechselt würden, von Kant sie nennen hörte, hatte er ihren Namen nicht behalten können. Er nannte sie die „Hartmann‘sche Zeitung“. „Ei was, Hartmann’sche Zeitung!“, brummte Kant mit finsterer Stirn. Darauf sprach er sehr laut, affektvoll und deutlich: „Sag er Hartung’sche Zeitung!“ (…) der ehemalige Soldat (…) sagte im rauen Ton, in dem er einst „Wer da?“ gerufen, „Hartung’sche Zeitung!“, nannte sie aber das nächste Mal wieder falsch."
(Lebensbild, S. 360)

Dennoch muss es verwundern, weshalb die philosophische Überlieferung auch die vergleichsweise harmlosen Verrücktheiten Kants bis ins Detail bewahrt hat. Etwa sein eisernes Zusammenpressen der Lippen beim Spazierengehen. Und zwar aus der richtigen Überlegung, dass die kalte Luft durch konsequente Nasen-Atmung erwärmt wird, was wiederum Erkältungskrankheiten vorbeugt. Deshalb ging Kant auch ganz allein spazieren, denn das Sprechen war bei zusammengepressten Lippen unmöglich. - An heißen Sommertagen wiederum blieb Kant oft unvermittelt stehen und regte sich nicht mehr. Er hatte panische Angst vor Schweißausbrüchen, weshalb er den Spazierweg erst fortsetzte, wenn der Körper abgekühlt war. Diesmal aufgrund der zweifellos falschen Hypothese, wonach Transpiration seiner Gesundheit schade. Ja selbst das täglich geübte, höchst verwickelte Einschlafritual des Philosophen ist der Aufmerksamkeit der Geschichtsschreiber nicht entgangen:

"Beim Schlafengehen setzte er sich erst ins Bett, schwang sich mit Leichtigkeit hinein, zog den einen Zipfel der Decke über die eine Schulter unter dem Rücken durch bis zur anderen und durch eine besondere Geschicklichkeit auch den anderen unter sich und dann weiter bis auf den Leib. So eingepackt und gleichsam wie ein Cocon eingesponnen, erwartete er den Schlaf." (Lebensbild, S. 302)

Natürlich hatte Kant einen Prominentenstatus. Die trivialste Lebensäußerung wurde eifrig bemerkt, aufgeschrieben und verbreitet. Aber dass jede Marotte noch bis heute zitiert und hartnäckig erinnert wird, deutet auf eine spezielle Faszination am Verschrobenen, das im Leben dieses Philosophen liegt. Hier lohnt sich ein Blick auf das breite Spektrum der Interpretationen, die Kants Lebensweise immer wieder provoziert hat. Schon die Zeitgenossen, besonders die verheirateten Honoratioren der Stadt Königsberg, hatten eine Theorie parat: Kants Gebaren sei schlicht eine Konsequenz seines ewigen Junggesellentums:

"Ihm war es auch umso leichter, seinem ganzen Lebensgange eine so geordnete Richtung zu geben, da er nicht wie andere, und zwar die meisten, durch häusliche Verhältnisse und Familienverbindungen je darin unterbrochen oder durch Verwicklungen in das, was man Gesellschaftsleben nennt, (…) im mindesten behindert war."
(Lebensbild, S. 208)

Im 18. Jahrhundert gelten Pedanterie und Ordnungswahn keineswegs als negative Eigenschaften. Schon gar nicht in Ostpreußen: „Seinem ganzen Lebensgange eine so geordnete Richtung zu geben“, scheint im Gegenteil halb bewundernswert, halb beneidenswert. Der gebildete Bürger sehnt sich danach, fern von Geschäften und häuslichem Zwist nur den Freuden des Geistes leben zu dürfen. Aus diesem Blickwinkel wirkt Kants Leben wie eine kluge Stressvermeidungsstrategie des glücklichen Geistesarbeiters. - Aber erstens war Kant kein Eremit, sondern ein brillanter und gesuchter Gesellschafter. Und zweitens hat Kant mehr als einmal „Verwicklungen“ in gesellschaftliche Konflikte erlebt. So hat er bewusst schwere Nachteile für seine Karriere in Kauf genommen, als er sich in jungen Jahren mit seinem Doktorvater anlegte. Später stellte er sich mutig gegen die konservativen Adligen, Beamten, Militärs, Kaufleute und den Klerus Königsbergs, indem er die Ideen der Amerikanischen und Französischen Revolution verteidigte. Und noch im hohen Alter sah sich Kant wegen seiner furchtlosen Religionskritik mit einer scharfen Rüge des Königs von Preußen konfrontiert. Friedrich Wilhelm II erließ 1794 eigens eine Kabinettsorder: Kant habe sich der „Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums“ schuldig gemacht. „Bei fortgesetzter Renitenz“ müsse er mit „unfehlbar unangenehmen Verfügungen“ rechnen. Abgekanzelt wie ein Schuljunge, wollte Kant nicht mehr über religiöse Fragen öffentlich sprechen oder publizieren. Zu einem Zeitpunkt, da sein Ruhm wie eine neu aufgegangene Sonne bereits den ganzen europäischen Kontinent überstrahlte. Kurzum: Kant hat schwerere Kämpfe und Verwicklungen ausgefochten, als der brave Königsberger Familienvater wohl jemals riskiert hätte.

Andererseits gibt es sehr ernsthafte psychoanalytische Deutungen von Kants Leben. Die Brüder Hartmut und Gernot Böhme veröffentlichten 1983 ihr Kant-Buch mit dem Titel: „Das Andere der Vernunft“. Dieses „Andere der Vernunft“ ist die ganze mächtige Gefühls- und Triebwelt im menschlichen Bewusstsein. Die Natur und unsere leibliche Existenz. Die Phantasie und die Träume. Eine Welt, die sich keiner abstrakten Ordnung und Regel fügen will. Damit nun Vernunft absolut herrschen kann, muss sie das Andere der Vernunft systematisch verdrängen, brutal disziplinieren und unterdrücken. Demnach wäre Kant, der Cheftheoretiker der Vernunft, ein emotionales Opfer eben dieser Vernunft. Seine zwanghaft überregulierte Lebensweise entlarvt sich psychologisch als Selbstkasteiung im Dienste einer vergötterten Rationalität. - In die gleiche Richtung argumentiert auch die Soziologie der Frankfurter Schule. Kants Leben und Denken sind ein Sinnbild für die gewaltsame Unterjochung des Menschen durch Rationalität. Der Vernunftglaube der Aufklärung entpuppt sich als kapitalistisch motivierte Ausbeutungslogik, als „instrumentelle Vernunft“ (Max Horkheimer), die alles Lebendige zum zählbaren, messbaren und verwertbaren Objekt verdinglicht. Soziologie wie Psychologie betonen somit den repressiven Aspekt der Vernunft, ihre despotische Unterdrückung, Regulierung und Dressur der Gefühlswelt. Eine Kritik, die sich im Grunde nahtlos an den Feldzug der Romantiker gegen die Wissenschaftlichkeit und das materielle Nützlichkeitsdenken der Industrialisierung anschließt.

Dass man ausgerechnet die Gefühle vor der Vernunft schützen muss, wäre den großen Aufklärern nie in den Sinn gekommen. Kant, Voltaire oder Locke kämpften für die Befreiung der Vernunft vom aggressiven Gefühlsüberschwang des religiösen Fanatismus. Die längste Zeit in der Geschichte hat ja gerade das „Andere“ der Vernunft die Vernunft beherrscht. Von Paulus und den ersten Kirchenvätern bis zu Luthers Reformation diktierten Glaubenssätze, was Vernunft denken und nicht denken darf. Besonders die endlosen Metzeleien der europäischen Konfessionskriege im 16. und 17. Jahrhundert waren den Zeitgenossen Kants noch warnend im Gedächtnis. Hinzu kommt die politische und soziale Unterdrückung des Geistes, der Kampf gegen absolut herrschende Monarchen und feudale Fürsten, die kein Recht auf Meinungsfreiheit anerkannten; der Kampf für allgemeine Bildung, für die Würde und das Menschenrecht des Einzelnen, unabhängig von Stand oder Herkunft. Die Aufklärung ist ursprünglich eine Reaktion gegen Despotismus. Eine Art Notwehr der Vernunft, wenn die Unvernunft wieder einmal Lynchjustiz an jedem Andersdenkenden verüben will. Also lautet der entscheidende Grundsatz der Aufklärung: Nur die Vernunft selbst darf bestimmen, was vernünftig ist. Sonst bestimmen das nämlich andere: religiöse und politische Autoritäten aller Art:

"Nichts, was sich mit den klaren und selbstverständlichen Geboten der Vernunft nicht verträgt oder ihnen widerspricht, kann als Glaubenssatz geltend gemacht werden, bei welchem die Vernunft nichts zu sagen habe und dem man zustimmen müsse."
John Locke, Ein Versuch über den menschlichen Verstand (1690)

Sieht man das Wiedererstarken des religiösen Fanatismus, Terrorismus und politischen Radikalismus zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dann fragt man sich, ob überhaupt jemals genug Vernunft in der Welt war. Auch schafft Aufklärung keine unumkehrbaren Tatsachen. Im Gegenteil: Sobald die Aufklärung siegt, versiegt ihr Quell schon wieder. In Zeiten einer gefestigten Demokratie wird sie schnell vergessen oder nur noch historisch erinnert. Aufklärung muss sich vor allem an der Despotie reiben, um Funken zu sprühen. Fehlt die Despotie, dann schlummert die Aufklärung ein. Dann unerschätzt man schnell die Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit der Vernunft. Da legt man die Vernunft auf die Couch des Psychoanalytikers und therapiert sie mit Gefühlen. Oder man kritisiert soziologisch ihre Gewaltsamkeit in der äußeren wie inneren Ökonomie unseres marktkonformen Daseins. Das sind wichtige Einsichten. Aber was Aufklärung wirklich bedeutet, erfahren wir erst dann, wenn wir sie dringend wieder brauchen. So wie jetzt, wo die rassistisch-völkische Tyrannei und der Religionswahn wieder ihr blutiges Haupt erheben.

Kant ist ohnehin weit mehr als das Schreckgespenst einer seelenlosen Vernunftherrschaft. Man kann ihn genauso gut als Helden der Aufklärung und der Freiheit des Vernunftgebrauchs bewundern. Der Historiker Heinrich von Treitschke (1834 – 1896) erblickt in Kant sogar „die schlichte Größe eines einzig von der Idee erfüllten Lebens“ (Lebensbild, S.XII). Dieser idealisierende Standpunkt deutet Kants strenge Lebensregulierung als nur äußerliches Zeichen einer sehr großen geistigen Willenskraft. - Und hat nicht Kant selbst sehr präzise definiert:

"Bezwingung seiner Leidenschaften durch Grundsätze ist erhaben."
Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) (AA II, S. 215)

Aber vielleicht muss man gar kein schweres philosophisches Geschütz auffahren, um Kants seltsames Leben besser zu verstehen. Womöglich ist Kant nur ein lächerlicher Pedant. Ein Ausbund an preußischer Pflichterfüllung. Wer weiß – vielleicht sogar ein Spießer? Besonders Heinrich Heine (1797–1856) hat dieses Kant-Bild geschaffen, das bis heute nachwirkt. -

"Die Lebensgeschichte des Immanuel Kant ist schwer zu beschreiben. Denn er hatte weder Leben noch Geschichte. Er lebte ein mechanisch geordnetes, fast abstraktes Hagestolzenleben in einem stillen abgelegenen Gässchen zu Königsberg, einer alten Stadt an der nordöstlichsten Grenze Deutschlands. Ich glaube nicht, dass die große Uhr der dortigen Kathedrale leidenschaftsloser und regelmäßiger ihr äußeres Tagewerk vollbrachte wie ihr Landsmann Immanuel Kant. Aufstehn, Kaffeetrinken, Schreiben, Kollegienlesen, Essen, Spazierengehn, alles hatte seine bestimmte Zeit, und die Nachbarn wussten ganz genau, dass die Glocke halb vier sei, wenn Immanuel Kant in seinem grauen Leibrock, das spanische Röhrchen in der Hand, aus seiner Haustüre trat, und nach der kleinen Lindenallee wandelte, die man seinetwegen noch jetzt den Philosophengang nennt. Achtmal spazierte er dort auf und ab, in jeder Jahreszeit, und wenn das Wetter trübe war oder die grauen Wolken einen Regen verkündeten, sah man seinen Diener, den alten Lampe, ängstlich besorgt hinter ihm drein wandeln mit einem langen Regenschirm unter dem Arm, wie ein Bild der Vorsehung."
Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834)

Ein zuverlässiger Lacher in allen einführenden Kant-Vorträgen. Aber stimmt dieses Kant-Bild auch wirklich? - Die meisten Berichte über Kants Leben stammen aus der Zeit zwischen seinem 65. und 80. Lebensjahr. Und erst um die Vierzig hatte er angefangen, seinen Lebenswandel ernsthaft zu regulieren. Zuvor war er ein stadtbekannter Gesellschaftsmensch, den die Königsberger als den „eleganten Magister“ bezeichneten. Er spielte Billard, ja sogar Karten, was als gottlose Ausschweifung verpönt war, und führte überhaupt ein ziemlich regelloses Leben. Daneben verkehrte er in den höchsten Königsberger Kreisen des Adels, des Militärs und der Kaufleute. Nicht zu vergessen das akademische und intellektuelle Milieu, sein Umgang mit Hamann, Herder, von Hippel und anderen großartigen Schriftstellern. Außerdem war Kant nicht mit einem silbernen Löffel im Mund geboren. Der Sohn eines Riemermeisters musste sich als Hauslehrer, Bibliothekar und von den Zuhörern bezahlter Universitäts-Dozent über Wasser halten. Erst 1770 erhielt Kant eine ordentliche Professur in Königsberg, kurz vor dem 46. Geburtstag. Bis dahin lebte er hauptsächlich von seiner gesellschaftlichen und intellektuellen Attraktivität, die ihm längst schon höchste Anerkennung verschafft hatte. - Der Unterschied zwischen dem jungen und alten Kant darf also als gesicherte biografische Tatsache betrachtet werden:

"Alle Behauptungen über die fast mechanische Regelmäßigkeit, die Kants Leben beherrschte – seine Tischgesellschaften, seine Beziehung zu seinem Diener, seine seltsamen Ansichten in Alltagsfragen, all die Dinge, die zu einem unzertrennbaren Bestandteil des üblichen Kantbildes geworden sind -, registrieren in Wirklichkeit mehr die Zeichen seines fortgeschrittenen Alters und das Nachlassen seiner Kräfte, als dass sie den Charakter des Menschen enthüllen, der die Werke konzipierte und schrieb, für die er heute bekannt ist."
(Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie, München 2003, S. 29)

Laut Manfred Kühn ist Kants ängstlich durchorganisierte Lebensordnung hauptsächlich ein Schutzmechanismus gegen Altersschwäche. Ein Instinkt der Selbsterhaltung angesichts eines äußerst sensiblen Organismus. Kants Assistent Jachmann berichtet:

"Wie schwach seine Nerven waren, können Sie daraus entnehmen, dass ein Zeitungsblatt, so frisch und feucht wie es von der Presse kommt, ihm den Schnupfen zu erregen imstande war." (Lebensbild, S. 104)

Kant selbst hat oft betont, dass seine schwächliche Konstitution kein hohes Alter erwarten lasse. Nur mit eiserner Disziplin, Ordnung und Diätetik habe er sich das Leben regelrecht abgerungen. Er sei zwar nie richtig krank, aber auch nie richtig gesund. Unter gleichen Bedingungen wolle er sein Leben nicht noch einmal leben. Außerdem befasste sich Kant viel mit medizinischer Forschung, entwickelte eigene Hypothesen und sprach selbst in Gesellschaft ausgiebig über seine körperlichen Befindlichkeiten:

"Sein Körper war kaum 5 Fuß hoch; der Kopf im Verhältnis zu dem übrigen Körper sehr groß, die Brust sehr flach und beinahe eingebogen, der rechte Schulterknochen nach hinten etwas vorspringend. (…) Sein Knochenbau war äußerst schwach, schwächer aber noch seine Muskelkraft." (Lebensbild, S.104)

Es ist ein Wunder, dass Kant das 80. Lebensjahr erreichte. Und genau so hat er sein Alter auch verstanden: Als erstaunliches Resultat einer ständigen Willensleistung.

Andererseits ist die überlieferte Beschreibung Kants nicht einfach das Porträt eines Kranken: Er hatte trotz gewaltiger Denkerstirn ein angenehmes Gesicht, wirkte in jüngeren Jahren offenbar hübsch, hatte blonde Haare, eine gesunde frische Hautfarbe und vor allem durchdringende, strahlend leuchtende, blaue Augen. Auch glaube ich nicht, dass Kants Pedanterie im Wesentlichen nur krankheitsbedingt oder dem Alter geschuldet ist. Dass sein besessener Drang zu Grundsätzen und Regeln nichts mit seinem wahren Charakter und dem Charakter seiner Schriften zu tun haben soll. Dagegen sprechen allein schon die biographischen Fakten, namentlich Kants geistige Vitalität. Gerade seine bedeutenden Hauptwerke schrieb er ja erst in sehr fortgeschrittenem Alter, allen voran die Kritik der reinen Vernunft, erschienen 1781. Da war Kant schon im Vorruhestandsalter, nämlich 57 Jahre alt. Mit 64 veröffentlichte er die Kritik der praktischen Vernunft (1788), mit 66 die Kritik der Urteilskraft (1790). Und er war fast 70, als er seine Religionsphilosophie und über 70, als er den Gedanken des Völkerrechts und der Vereinten Nationen entwickelte. Die letzte von ihm selbst herausgegebene Schrift war die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht aus dem Jahr 1798. Danach versiegt Kants Produktivität als Schriftsteller. Liest man die zeitgenössischen Berichte, verfällt er die letzten 6 Lebensjahre in rapide fortschreitende Altersschwäche und Demenz. Aber bis dahin galt er stets als Konversationsgenie und keineswegs als langweiliger Schulfuchs. Er „heiterte durch sehr ausgebreitete Belesenheit, durch einen unerschöpflichen Vorrat von unterhaltenden und lustigen Anekdoten, die er ganz trocken (…) erzählte und durch eigenen echten Humor und treffende Repliken jede Gesellschaft auf.“ (Karl Vorländer) - Wenn das traditionelle Kant-Bild auch verzerrt, d.h. auf sein Alter reduziert ist, wäre es dennoch verfehlt, den wahren Kant nur beim jungen, gleichsam noch unordentlichen und unregulierten Kant zu suchen. Der berühmte Philosoph und Schriftsteller, als den wir Kant heute kennen und lesen, ist jedenfalls der alte und durchregulierte Kant. Er reifte erst in der zweiten Lebenshälfte, genau genommen sogar erst im letzten Lebensdrittel zu voller schriftstellerischer Größe heran.

Diese ungeheuerliche Produktivität im Alter lässt einen weiteren, sehr einfachen Schluss zu: Die extreme Lebensregulierung könnte leicht eine professionelle Deformation sein. Wer dazu berufen ist, über die „synthetische Einheit der Apperzeption“ oder die „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe“ zu philosophieren, ist für das praktische Leben so gut wie verloren. Die ewige Wiederkehr des immer gleichen Tagesablaufs gibt Kant vor allem die größtmögliche Freiheit zum abstrakten Denken. Er kann sich in seinem Hauswesen sozusagen blind bewegen, ohne an Ecken und Kanten zu stoßen. Nur diese lückenlose Ordnung ermöglicht die alltägliche Praxis bei gleichzeitig hochgradiger geistiger „Abwesenheit“. Unvermeidliche Störfaktoren wie Essen, Trinken, Bewegung, Schlafen und Sozialkontakte weist Kant einem genau definierten „Zeitfenster“ zu. Außerhalb dieser festgelegten Termine sind alle Zeitfenster rigoros geschlossen. Kant ist ein perfekter Zeitmanager. Aber was er sucht, ist nicht etwa eine klug abwägende Work-Life-Balance, sondern den bestmöglichen Schutz für seine abnorme denkerische Konzentration.

Schon ein zu laut krähender Hahn in der Nachbarschaft bringt ihn zur Verzweiflung. Er schreibt einen wütenden Protestbrief an die Stadt Königsberg, weil in einer nahe gelegenen Gefängnisanstalt die offenbar sehr reumütigen Insassen bei geöffnetem Fenster geistliche Lieder brüllen. Unser Philosoph ist tatsächlich sechs Mal umgezogen, ständig auf der Flucht vor unberechenbaren Lärmquellen. – Arthur Schopenhauer, ein Bewunderer und geistiger Schüler Kants, verteidigte diese Überempfindlichkeit energisch:

"Wie ein großer Diamant, in Stücke zerschnitten, an Wert nur noch ebenso vielen kleinen gleichkommt; oder wie ein Heer, wenn es zersprengt, d.h. in kleine Haufen aufgelöst ist, nichts mehr vermag; so vermag auch ein großer Geist nicht mehr, als ein gewöhnlicher, sobald er unterbrochen, gestört, zerstreut, abgelenkt wird; weil seine Überlegenheit dadurch bedingt ist, dass er alle seine Kräfte, wie ein Hohlspiegel alle seine Strahlen, auf einen Punkt und Gegenstand konzentriert; und hieran eben verhindert ihn die lärmende Unterbrechung. Darum also sind die eminenten Geister stets jeder Störung, Unterbrechung und Ablenkung, vor allem aber der gewaltsamen durch Lärm, so höchst abhold gewesen; während die übrigen dergleichen nicht sonderlich anficht."
Arthur Schopenhauer, Über Lärm und Geräusch (1851)

Das Ausmaß an Lärm, das einer erträgt, steht im umgekehrten Verhältnis zu seiner Intelligenz. Meint Schopenhauer. Und er verweist auf Kant, Goethe, Lichtenberg oder Lord Byron, die allesamt unter quälender Lärmphobie litten. So wissen wir von Goethe, dass er das ganze Nachbarhaus aufkaufen wollte, nur weil dessen Besitzer eine Renovierung plante. - Wunderliches Verhalten kann also schlicht die Folge abnormer geistiger Konzentrationsfähigkeit sein. Biographische Forschung ist zwar gut beraten, wenn sie „große“ Menschen menschlich und kritisch behandelt. Aber die Größe der großen Menschen darf dabei nicht ganz vergessen werden. Allzu leicht wird sie überdeckt von soziologischen, psychologischen, historischen Einordnungen. Dass Kant ein philosophisches Genie war, prägt selbstverständlich sein Leben, egal wie zerstreut und verschroben es scheinen mag. Verwunderlich sind nicht die Wunderlichkeiten des Immanuel Kant. Verwunderlich ist nur, dass dieser durch und durch theoretische Mensch mit dem praktischen Leben eigentlich ganz gut zurechtkam, zumal als junger, aber auch noch als alternder Gelehrter.

Professionelle Deformation – das betrifft nicht nur die abstrakte Eigenart des Kantischen Denkens. Genauso wichtig ist die fleißige Umsetzung seiner Ideen in konkrete schriftstellerische Arbeit. Betrachtet man Kant als Autor – und Schreiben war ihm das Wichtigste, wichtiger als die tägliche Tretmühle der Vorlesungen - dann ist sein Verhalten gar nicht so ungewöhnlich. Strenge Monotonie harmoniert bestens mit enorm gesteigerter Kreativität. Darin liegt ja überhaupt der lebenspraktische Sinn einer geregelten Ordnung: Wer sich diszipliniert an einen Tagesablauf hält, kann seine Energie zielgerichtet einsetzen. Besonders die großen Schriftsteller sind deshalb nicht selten große Langweiler. Sie haben nur ihre Arbeit im Kopf, leben entsprechend zurückgezogen, sind am liebsten völlig unsichtbar und ungestört. – Nicht nur Kant, auch Thomas Mann schrieb wie ein Beamter nach der Uhr. Goethe und Schopenhauer gleichfalls. Franz Kafka hätte am liebsten in einem schalldichten Bunker gelebt. Und Patrick Süskind sagt geradeheraus: „Ich will nichts erleben! Ich bin Schriftsteller!“ - Lässt man Schriftsteller unbehelligt, dann sind sie die Stubenhocker und Bücherwürmer, die sie nun einmal sind. Schreiben ist ein einsames, zeitintensives und extrem fokussiertes Geschäft. Und auch in diesem Fach haben die Götter vor den Ruhm sehr viel Fleiß gesetzt. Das aberwitzig langweilige, aber geistig so unfassbar produktive Leben des Immanuel Kant ist nicht wirklich die Ausnahme, es ist bloß die überspitzte Regel einer ganz großen Schriftstellerexistenz.

Der Interpret dieser Sonderling-Existenz kann es sich nun leicht machen und behaupten: Alle genannten Thesen, die komplizierten wie die einfachen, spielen vermutlich eine Rolle. Differenzierung ohne Bewertung ist trotzdem eine Vereinfachung des Problems. Wenn alles gleich gewichtet ist, dann fällt auch nichts mehr ins Gewicht. Deshalb bekenne ich: Entgegen der Darstellung Heines hatte Kant sehr wohl ein Leben. Ich tendiere sogar zur idealisierenden Ansicht. Denn entgegen der These der zunehmenden Altersschwäche war Kants verschrobene Existenz vor allem ein frei gewähltes und gewolltes Leben, das er philosophisch sehr genau durchdacht hatte. Überhaupt scheint mir die einfachste aller „einfachen“ Erklärungen von Kants merkwürdigem Leben die Liebe zur Weisheit, die Philosophie selbst zu sein.

(c) 2024 Günter Bachmann

2. Ein Mann von Grundsätzen: Kant als Lebenskünstler

Im Falle des älteren Kant, ungefähr ab 40, ist die hervorstechende Eigenheit seines Charakters leicht festzustellen. – Der Zeitzeuge und Kant-Biograph Ludwig Ernst Borowski schreibt:

"Das eigentlich Charakteristische bei Kant nach der Wahrnehmung aller, die ihn kannten, war ein stetes Bestreben, nach durchdachten und, wenigstens seiner Überzeugung nach, wohlbegründeten Grundsätzen in Allem zu verfahren; das Bestreben, bei allem – Größerem und Kleinerem, Wichtigerem und Unwichtigerem – sich gewisse Maximen aufzustellen, von denen immer ausgegangen, und zu denen immer zurückgekehrt werden musste. Diese Maximen verflochten sich nach und nach so innig mit seinem Selbst, dass, ohne ihrer eben jetzt sich deutlich bewusst zu sein, doch danach gehandelt wurde."
(Lebensbild, S. 208)

Wenn das Urteil der Zeitgenossen nicht trügt, dann hängt Kants Leben mit „wohlbegründeten“ Grundsätzen zusammen. Kant selbst hat diesen Zusammenhang ausdrücklich hergestellt - in einer kleinen Abhandlung mit dem barock verschnörkelten Titel: "Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein." (1798) Der Untertitel lautet: „Ein Antwortschreiben an Herrn Hofrat und Professor Hufeland.“ Christoph Wilhelm Hufeland (1762-1836) praktizierte als Arzt in Weimar, wo er berühmte Patienten behandelte. Wieland, Goethe und Herder lobten ihn in den höchsten Tönen. Außerdem war er ein herausragender medizinischer Wissenschaftler, der in Jena eine Professur bekleidete und am Ende sogar zum Leibarzt des Preußen-Königs Friedrich Wilhelm II aufstieg. 1796 war Hufeland mit seinem Buch Von der Kunst, das menschliche Leben zu verlängern hervorgetreten. Damit schuf er wichtige Grundlagen für die moderne Naturheilkunde und Makrobiotik. Vor allem entwickelte er den „ganzheitlichen“ Blick des Arztes auf den Menschen und sah in der Ernährung, in der Hygiene, aber auch in der geistigen und ethischen Einstellung eine Kraftquelle zur Vorbeugung gegen Krankheiten. – Kant, dem Hufeland eigens ein Exemplar geschenkt hatte, wollte diesem klugen und verdienstvollen Arzt antworten. -

"Sie verlangen von mir ein Urteil über Ihr „Bestreben, das Physische im Menschen moralisch zu behandeln: den ganzen, auch physischen Menschen als ein auf Moralität berechnetes Wesen darzustellen und die moralische Kultur als unentbehrlich zur physischen Vollendung der überall nur in der Anlage vorhandenen Menschennatur zu zeigen.“ (AA VII, S.97)

Kant stimmt Hufeland entschieden zu. In seiner Philosophie ist der Mensch ja ebenfalls ein „auf Moralität berechnetes Wesen“. Der sittliche Wille ist frei. Er kann sich selbst bestimmen und Gesetze geben. Laut Kant gibt es eine „Kausalität aus Freiheit“, d.h. eine rein intellektuelle Wirkungskraft, die unser praktisches Leben beeinflusst. Je nachdem, welche Lebensregeln (Maximen) wir wählen und annehmen, verändert sich auch unser Leben. Wie Kant das theoretisch begründet, erörtert der zweite Teil dieses Essays. Vorläufig halten wir fest, dass intellektuelle Beschlüsse die Kraft haben, auf die sonst ausschließlich von Naturgesetzen beherrschte Wirklichkeit einzuwirken. „… wobei die menschliche Vernunft wahrhafte Kausalität zeigt, und wo Ideen wirkende Ursachen (…) werden, nämlich im Sittlichen.“ (AA III, 248) Eben dies fasziniert Kant am Ansatz Hufelands: Die von ihm angestoßene ganzheitliche Medizin hat mit dem rätselhaften Einflussfaktor der Denkweise und Einstellung des Patienten zu tun. Wir wissen z. B. nicht genau, wie und in welchem Umfang, wir wissen nur, dass positives Denken vorbeugend (diätetisch) und heilend (therapeutisch) gegen Krankheiten wirken kann. Über psychologische und soziale Einflussfaktoren weiß die moderne Psychosomatik schon viel besser Bescheid. Angst z.B. geht an die Nieren, führt zum Adrenalinausstoß, lähmt die Magen-Darm Peristaltik und endet in Magenbeschwerden. Ein bekannter sozialer Faktor wiederum wäre die Lage der Schwarzen in den USA: Sie werden häufiger krank und leben kürzer als Weiße. - Aber wie weit bloße intellektuelle Gedanken und moralisch-praktische Grundsätze unser Leben wirklich verlängern, liegt bis heute im Dunkeln. Die Naturwissenschaft müsste den Einfluss rein geistiger Ideen auf die physische Realität ohnehin bestreiten: Denn mit welcher „Kausalität“, mit welcher Wirkungskraft soll ein angeblich freier Wille auf die Ursachen und Wirkungen körperlicher Prozesse einwirken? Doch genau darum geht es Kant – um den Nachweis „Von der Macht des Gemüts, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein.“

Was er damit meint, demonstriert Kant am eigenen Beispiel: „Ich habe wegen meiner flachen und engen Brust, die für die Bewegung des Herzens und der Lunge wenig Spielraum lässt, eine natürliche Anlage zur Hypochondrie, welche in früheren Jahren bis an den Überdruss des Lebens grenzte.“ (AA VII, S. 104) Hypochondrie war zwar eine beliebte Modekrankheit des 18. Jahrhunderts; aber in diesem Fall gab es wirklich Anlass zu Sorge. Es könnte ja bedrohliche organische Ursachen für die Brustbeklemmungen geben. Waren Herz und Lunge wirklich gesund? Derlei Fragen mögen den jungen „eleganten Magister“ Kant völlig zu Recht beunruhigt haben. - „Aber die Überlegung, dass die Ursache dieser Herzbeklemmung vielleicht bloß mechanisch und nicht zu heben sei, brachte es bald dahin, dass ich mich an sie gar nicht kehrte, und während dessen, dass ich mich in der Brust beklommen fühlte, im Kopf doch Ruhe und Heiterkeit herrschte.“ (ebd.) – Allein die „Überlegung“ schafft es, Panikattacken durch Brustbeklemmungen zu ignorieren und ungetrübte Heiterkeit im Kopf herzustellen. Zumindest schafft sie das bei Kant. Ihm genügt die vernünftige Einsicht, dass die Beklemmungen im Körperbau begründet und also mechanisch erklärbar sind. Logische Maxime: Überhaupt nicht daran kehren! - Kant gießt seine Einsichten sofort in dauerhafte Grundsätze, die er anschließend streng befolgt: Nur so können die „Maximen“ bis zur zweiten Natur verinnerlicht und praktisch wirksam werden. Aber der erste Anstoß bleibt eine rein intellektuelle Operation und ein daraus folgender Willensbeschluss. Nichts als ein „bloßer Vorsatz des Gemüts“. - Was seine „Anlage zur Hypochondrie“ betrifft, hat der Philosoph natürlich ebenfalls Grundsätze zur Hand. Erstens: Gibt es einen klaren Beweis für meine eingebildete Krankheit? Und zweitens: Selbst wenn die schlimmste Befürchtung wahr ist – so könnte ich absolut nichts gegen den Tatbestand der Sterblichkeit ausrichten. Kant hält es wortwörtlich für „eine Art Wahnsinn“, über Übel zu brüten, die uns zustoßen könnten, „ohne, wenn sie kämen, ihnen widerstehen zu können.“ (AA VII, S.104) Ein vernünftiger Mensch behandelt die Hypochondrie, „als ob sie ihn nichts anginge und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Geschäfte, die er zu tun hat.“ (ebd.) Überhaupt erfordert eine erfolgreiche Diätetik rücksichtslose Härte gegen sich selbst. Ertrage und entsage (sustine et abstine), das Leitmotiv des Stoizismus, wird für Kant am Ende zur Zentralmaxime aller diätetischen Maximen. –

"Der Stoizismus als Prinzip der Diätetik (sustine et abstine) gehört (…) nicht bloß zur praktischen Philosophie als Tugendlehre, sondern auch zu ihr als Heilkunde. Diese ist alsdann philosophisch, wenn bloß die Macht der Vernunft im Menschen, über seine sinnliche Gefühle durch einen sich selbst gegebenen Grundsatz Meister zu sein, die Lebensweise bestimmt." (AA, VII, 100f.)

Seine Sinnlichkeit und Neigungen durch die „Macht der Vernunft“ zu meistern, das klingt für moderne Ohren befremdlich, psychologisch wie soziologisch sogar bedenklich. Doch Kant spricht nicht im Sinne der Beherrschung, Verdrängung, Unterdrückung oder rationalen Ausbeutung der Natur. Sondern im Sinne der Selbstbeherrschung und Selbstdisziplin der antiken Tugendlehre. So ist für Kant die Hypochondrie vor allem eine mutlose Kapitulation des Geistes vor krankhaften Gefühlen. Eine Disziplinlosigkeit der Vernunft, die sich von Furcht beherrschen lässt. Im Grunde ein moralisches Fehlverhalten. Deshalb kann der Hypochonder nur durch sich selbst, und nicht durch den Arzt geheilt werden. Er bedarf einer „Diätetik seines Gedankenspiels“. Ja er ist das „gerade Widerspiel jenes Vermögens des Gemüts, über seine krankhaften Gefühle Meister zu sein.“ (AA VII, 103)

Zu Kants eigentlicher Moralphilosophie gibt es in dieser kleinen Schrift nur einen losen Bezug: Einzig die Freiheit und Autonomie unseres sittlichen Wollens und dessen rätselvolle Wirkkraft auf das Physische ragen deutlich hervor. Viel interessanter ist der persönliche, der direkt autobiografische Bezug. Nicht nur, weil Diätetik für Kants labile Gesundheit lebenswichtig war. Diätetik ist vor allem auf das Beobachten von Erfahrungen gegründet. Und das „Herumtappen“ im ungesicherten Erfahrungswissen behagte Kant überhaupt nicht. Da gibt es keine streng allgemeingültigen und unwiderlegbaren Erkenntnisse. Im schlimmsten Fall nur subjektive Eindrücke. Deshalb lamentiert der Theoretiker Kant gleich zu Beginn: „Ich sehe mich also genötigt, mein Ich laut werden zu lassen, was im dogmatischen Vortrage Unbescheidenheit verrät.“ (AA VII, 98) Aber wenn es um ein Thema von allgemeinem Interesse gehe (Diätetik ist immerhin „die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern“), dann sei es wohl erlaubt, andere „mit seinen Privatempfindungen zu unterhalten“. Tatsächlich hat Kant in keiner anderen zur Veröffentlichung bestimmten Schrift so unumwunden von sich selbst gesprochen wie in dieser. Viel Autobiografisches findet sich auch in seinen anthropologischen Texten. Aber dort ist es didaktisch verpackt und zum lehrsatzmäßigen („dogmatischen“) Vortrag verallgemeinert. Da wird kein Ich laut.

Mitgefühl wäre angebrachter als Satire, wenn man sieht, wie viel Achtsamkeit Kant tagtäglich aufbringen musste, um sein Leben diätetisch zu verlängern. So wäscht er sich auch im Winter die Füße in eiskaltem Wasser. Das verhindere die Erschlaffung der Blutgefäße im Alter, meint er. Überhaupt solle man Kopf und Füße kalt halten, gerade um Erkältungen zu vermeiden. Den Bauch dagegen solle man warm halten, um die Transportleistung der langen Gedärme zu verbessern. Der Schlaf solle nicht zu großzügig bemessen sein und immer zur gleichen Zeit erfolgen. Zu viel Schlaf, vor allem die Nickerchen und Mittagsschläfchen zwischendurch, zerschlagen die Nervenkraft. Schlafstörungen wiederum begegnet der Denker Kant mit radikaler Denkverweigerung, das heißt: Jeden logischen Gedanken bricht er sofort ab, lenkt den Blick auf Assoziationen, stiftet absichtlich Verwirrung in seinen Vorstellungen und versucht mit dichterischer Einbildungskraft Träume zu imitieren. Alles in der Hoffnung, darüber einzuschlafen. Gelingt das Manöver nicht, bekommt er Gichtanfälle und Krämpfe im Gehirn. Dann wechselt er die Taktik: Statt seine Gedanken in Traumassoziationen zu zerstreuen, konzentriert er sich jetzt mit größter Anstrengung auf ein unbedeutendes Thema. Dadurch gelingt ihm eine Abstumpfung von schmerzhaften Krämpfen, bis die Schläfrigkeit überwiegt. „… und dieses kann ich jederzeit bei wiederkommenden Anfällen dieser Art in den kleinen Unterbrechungen des Nachtschlafs mit gleich gutem Erfolg wiederholen.“ (AA VII, 106f.) So stolz er seine Erfolgsrezepte auch verkündet, so unübersehbar sind die zahllosen Kränklichkeiten: Welch ein Aufwand, um zu schlafen, ja um überhaupt zu leben. Essen und Trinken und Bewegung sind ebenfalls strengen Maximen unterworfen. Kant trennt sie radikal vom professionellen Denken. Während seiner berühmten Tischgesellschaften mochte er nicht über Logik und Metaphysik diskutieren, auch beim Spazierengehen verbot er sich, über Philosophie nachzudenken. Eine Marotte? Keineswegs: „… beim Essen oder Gehen sich zugleich angestrengt mit einem bestimmten Gedanken beschäftigen, Kopf und Magen oder Kopf und Füße mit zwei Arbeiten zugleich belästigen, davon bringt das eine Hypochondrie, das andere Schwindel hervor.“ (AA VII, 109) Jedenfalls bei Kant. Friedrich Nietzsche hingegen behauptete, dass man allen Gedanken, die beim Sitzen in der Studierstube kommen, stets misstrauen sollte. Nur wenn sie bei freier Bewegung kommen, taugen sie etwas. – Diätetik ist wie gesagt Erfahrungswissen und auch von individuellen Voraussetzungen abhängig. Bei Kant wird deutlich, dass die diätetischen Grundsätze ein Spiegelbild einer äußerst zerbrechlichen Existenz sind. Es ist leicht, sich darüber lustig zu machen, wenn man diesen Zusammenhang ignoriert. Zum Beispiel, wenn Kant im urkomisch trockenen Kanzleistil Regeln formuliert: „Von der Hebung und Verhütung krankhafter Zufälle durch den Vorsatz im Atemziehen.“ (AA, VII, 110) Die Lippen zusammenpressen und durch die Nase atmen! Wir haben oben gesehen, dass unser Philosoph mit diesem Mittel Erkältungen beim Wandeln in der kalten ostpreußischen Luft vorbeugen wollte. Aber das ist nur ein angenehmer Nebeneffekt. Der ernste Hintergrund sind massive Schlafstörungen durch chronische Hustenanfälle und Schnupfen, die Kant mit dieser Methode ebenfalls in den Griff bekommt.

Bleibt die Frage, warum sich Kant das eigentlich antut. Er betont den natürlichen Trieb zur Selbsterhaltung. Auch Philosophen möchten lange und möglichst gesund leben. Aufschlussreich ist seine These, warum die Jugend das Alter ehren solle. Nicht etwa, weil das Alter weise und erfahren sei. Oder weil die Schwäche der Alten mitfühlende Schonung verlange. Sondern nur deshalb, weil „… der Mann, welcher sich so lange erhalten hat, d.i. der Sterblichkeit (…) so lange hat ausweichen und gleichsam der Unsterblichkeit hat abgewinnen können, weil, sage ich, ein solcher Mann sich so lange lebend erhalten und zum Beispiel aufgestellt hat.“ (AA VII, 99) - Neben dem Selbsterhaltungstrieb, wenn man direkt nach dem Inhalt und Zweck seines Lebens fragt, überrascht es wenig, dass es für den Philosophen die Philosophie ist. Ein Umstand, den die Spötter gern übergehen. Heine und Co interessiert nur das Anekdotische, das Verschrobene, nicht das Philosophische an Kants Leben. Obwohl er wie kaum ein Zweiter sein Leben nach rein intellektuellen Beschlüssen geführt hat. Mit einer schrulligen Außenwirkung, wohl wahr! Dennoch: Philosophie ist für Kant bewusste Lebenskunst. Und selbstverständlich ist Philosophie für den Begründer einer noch nie dagewesenen „kritischen Philosophie“ auch ein schriftstellerisches Lebenswerk, ja eigentlich Lebensprojekt. Allein für sein Hauptwerk Die Kritik der reinen Vernunft (1781) leistet er über zehn Jahre lang konzeptionelle Vorarbeiten, bis er es niederschreibt. In der Vorrede zur zweiten Auflage (1787) klagt Kant, er habe keine Zeit mehr für eine verbesserte Darstellung der Kritik der reinen Vernunft. Auch ohne anschauliche Beispiele sei das theoretische Werk schon bedenklich umfangreich. Er überlasse dieses Geschäft geistreichen Männern mit elegantem Stil. Er aber, Kant, müsse jetzt weitereilen. -

"Da ich während dieser Arbeiten schon ziemlich tief ins Alter fortgerückt bin, (in diesem Monate ins 64. Jahr), so muß ich, wenn ich meinen Plan, die Metaphysik der Natur sowohl als der Sitten, als Bestätigung der Richtigkeit der Kritik der spekulativen sowohl als praktischen Vernunft, zu liefern, ausführen will, mit der Zeit sparsam verfahren (…)". (AA III, 25f.)

Auch deshalb tut sich Kant sein diätetisch durchreguliertes Leben an: Er will sein Leben so lange wie möglich geistig leistungsfähig erhalten, damit die Lebenszeit den Wettlauf mit dem philosophischen Gesamtwerk nicht verliert. – Kant hat diese Angst, dass er sein „Gedankengeschäft“ nicht zu Ende bringen könnte, wiederholt geäußert. Sie hat ihn das letzte Viertel seines Lebens dauerhaft umgetrieben. Also musste er seinen ohnehin dünnen Lebensfaden weit in die Länge ziehen. Er ist sozusagen für die Philosophie am Leben geblieben. Mehr Idealismus geht nicht. Ansonsten hatte er kaum ein Leben, hier hat Heine Recht. Aber er hatte die Philosophie.

Kants philosophische Lebenskunst erschöpft sich auch keineswegs in der stoischen Vernunftherrschaft über sinnliche Neigungen. Er geht vom selbstbestimmten und vernunftbegabten Individuum aus. Und es ist eine „Naturabsicht“, dass der Mensch von seiner Freiheit und von seinem eigenen Verstand auch Gebrauch machen soll. Alle Naturanlagen, auch die Vernunft des Menschen, sind dazu bestimmt, sich „vollständig und zweckmäßig auszuwickeln“ (AA VIII, 18). Für die Lebenskunst heißt das: Der Mensch braucht eine sinngebende Beschäftigung. Eine „Ausfüllung der Zeit“. Das mache glücklicher als der passive Genuss – „da man des Lebens mehr froh wird durch das, was man im freien Gebrauch desselben tut“. (AA, VII, 104). Als sinnvolle „Ausfüllung der Zeit“ empfiehlt Kant geistige Tätigkeiten. Besonders die Philosophie lobt er als universal anwendbares Heilmittel: „Übrigens ist das Philosophieren, ohne darum eben Philosoph zu sein, auch ein Mittel der Abwehrung mancher unangenehmer Gefühle und doch zugleich Agitation des Gemüts, welches in seine Beschäftigung ein Interesse bringt, das von äußern Zufälligkeiten unabhängig und eben darum, obgleich nur als Spiel, dennoch kräftig und inniglich ist und die Lebenskraft nicht stocken lässt.“ (AA, VII, 102) Im Prinzip kann diese Wirkung aber durch jede freie geistige Tätigkeit erlangt werden. Durch alles, was unsere Erkenntnis erweitert und woran wir ein unmittelbares Interesse nehmen. Sogar Mathematik, wenn sie nicht als „Werkzeug zu anderer Absicht“ betrieben werde, „genießt die Wohltätigkeit einer solchen Erregungsart seiner Kräfte in einem verjüngten und ohne Erschöpfung verlängerten Leben.“ (ebd.) Kant beschränkt sich aber nicht nur auf intellektuelle Vorlieben: – „… auch bloße Tändeleien in einem sorgenfreien Zustande leisten, als Surrogate, bei eingeschränkten Köpfen fast eben dasselbe, und die mit Nichtstun immer vollauf zu tun haben, werden gemeiniglich auch alt.“ (ebd.) Die „Ausfüllung der Zeit“ ist offenbar schon im 18. Jahrhundert ein modernes sozialpsychologisches Phänomen. Überhaupt ist dem Individualismus beim Zeitausfüllen keine Grenze gesetzt: Ein alter Mann sammelt Stutzuhren und will unbedingt, dass sie nicht etwa gleichzeitig, sondern hintereinander die Stunde schlagen, „… welches ihn und den Uhrmacher den Tag über genug beschäftigte und dem letztern zu verdienen gab. Ein anderer fand in der Abfütterung und Cur seiner Sangvögel hinreichende Beschäftigung, um die Zeit zwischen seiner eigenen Abfütterung und dem Schlaf auszufüllen.“ (AA VII, 102f.) - Fragt man nun über die Diätetik hinaus, welches Prinzip Kants Lebenskunst auf den Begriff bringt, also was genau der Sinn der Zeitausfüllung sein soll, ganz gleich auf welche Weise das geschieht – dann wird man in der kleinen Abhandlung wenig Auskunft finden. Hier geht es um medizinische Themen und was man vorbeugend tun kann, um ein hohes Alter zu erreichen. Warum man dieses Alter erreichen soll, das fragt sich auch Kant: „Dahin führt die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern: daß man endlich unter den Lebenden nur so geduldet wird, welches eben nicht die ergötzlichste Lage ist.“ (AA, VII, 114) Und er schließt mit dem offenen Zweifel, warum man sich den Genuss des Lebens schmälern soll, nur um ein „schwächliches Leben durch Entsagungen in ungewöhnliche Länge“ zu ziehen.

Man muss sich in Kants Anthropologie umsehen, um mehr über das inhaltlich tragende Motto seiner Lebenskunst herauszufinden. Dort schreibt er klipp und klar: Das Leben durch Taten verlängern! Vitam extendere factis! (AA, VII, 234) Darauf komme bei der Zeitausfüllung alles an:

"… das Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen, die einen großen beabsichtigten Zweck zur Folge haben (vitam extendere factis), ist das einzige sichere Mittel seines Lebens froh und dabei doch lebenssatt zu werden. Je mehr du gedacht, je mehr du getan hast, desto länger hast du (selbst in deiner eigenen Einbildung) gelebt. – Ein solcher Beschluss des Lebens geschieht nun mit Zufriedenheit."
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (AA, VII, 234)

Obwohl oft ignoriert, bietet Kant eine deutlich entwickelte Lebenskunst. Die anthropologische Begründung beruht auf dem ständigen Erregungszustand unserer Nerven und Empfindungen: „Sein Leben fühlen, sich vergnügen, ist also nichts anders als: sich kontinuierlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustande herauszugehen“ (AA VII, 233). Daraus erklärt sich das Verlangen nach ruheloser Geschäftigkeit und Abwechslung, die „drückende, ja ängstliche Beschwerlichkeit der langen Weile“ (ebd.), der hohe Stellenwert von „Zeitvertreib“ und Unterhaltung: „… weil, je schneller wir über die Zeit wegkommen, wir uns desto erquickter fühlen“ (ebd). Warum Kant trotzdem anstrengende geistige Beschäftigungen bevorzugt, hat wieder mit der philosophischen Begründung seiner Lebenskunst zu tun: Als vernunftbegabte Wesen, die aus Freiheit handeln können, kommen wir unserer naturgewollten Bestimmung viel näher, wenn wir auch unsererseits vernünftig und selbstbestimmt leben. Dieses Ziel der Vernunftautonomie ist durch bloße Vergnügungen nicht erreichbar, weil wir uns damit zum Spielball sinnlicher Anreize und zufälliger Glücksumstände degradieren. Vergnügen ist also kein absoluter Wert. Mehrfach hat Kant formuliert, dass wir auch gar nicht da sind, um glücklich zu sein. Es sei bedeutend wichtiger, so zu leben, dass man sich des Glücks „würdig“ erweise. Ohnehin sei Glück relativ und nie auf ein allgemeines Prinzip zu bringen. Erfülle lieber pünktlich deine Pflichten, entwickle deine Anlagen, benutze deinen eigenen Kopf. Und vergiss nicht: Sinnvolle Beschäftigung und Arbeit sind das Beste und Zuverlässigste, was dieses Leben zu bieten hat. – Eine zwar stocknüchterne Lebensphilosophie, die aber ohne religiöse Schwärmerei, dogmatischen Fanatismus und transzendente Spekulation auskommt. – Schon vor seiner kritischen Philosophie, in Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) erteilt Kant dem endlosen Streit um die Unsterblichkeit der Seele und die reale Existenz jenseitiger Welten eine deftige Abfuhr:

"Da aber unser Schicksal in der künftigen Welt vermutlich sehr darauf ankommen mag, wie wir unsern Posten in der gegenwärtigen verwaltet haben, so schließe ich mit demjenigen, was VOLTAIRE seinen ehrlichen CANDIDE, nach so viel unnützen Schulstreitigkeiten, zum Beschlusse sagen läßt: Lasst uns unser Glück besorgen, in den Garten gehen und arbeiten!"
Träume eines Geistersehers (AA II, 373)

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Anstatt mit Psychoanalyse, Soziologie und Satire eine weitere Attacke gegen „Rationalität“ zu reiten, sehe ich Kants Leben vor allem als philosophisches Leben. Dieser idealistische Standpunkt ist berechtigt, weil Kant seine Lebensphilosophie auch tatsächlich gelebt hat. Das kann man von den wenigsten Philosophen behaupten. Bei aller Verschrobenheit verdient es eine gute Portion Bewunderung, wie Kant jede seiner Lebensregungen dem Prinzip der Vernunftautonomie unterwirft. Wie er sein Leben lückenlos mit Maximen tapeziert. Wie fleißig und produktiv er bis ins hohe Alter an seiner Philosophie arbeitet, einem gewaltigen schriftstellerischen Lebenswerk, das er seiner Lebenszeit unbedingt abtrotzen will. -

"Sehr früh entwickelte sich einfach ein Lebensinteresse, das alles andere auslöschte: die Philosophie. Diesem Interesse war sein ganzes Dasein unterworfen. Leben hieß für ihn arbeiten; Arbeit war seine Hauptfreude."
Arsenij Gulyga, Immanuel Kant: Eine Biographie (1981)

Wäre ich gezwungen, eine eindeutige Bewertung von Kants Leben zu unterschreiben, so wäre es genau diese. Unter dem Vorbehalt, dass kein Leben ununterbrochen in ideeller Reinheit erstrahlt. Man darf bewundern, aber nicht kritiklos.

(c) 2024 Günter Bachmann

3) Kants Vorurteile

Betrachtet man Kants Formel "Das Leben durch Taten verlängern" etwas näher, dann springt sofort das kulturelle „Vorverständnis“ (Hans-Georg Gadamer) in die Augen: Der Ameisenfleiß der westlich-abendländischen Neuzeit gründet sich vorrangig auf durchrationalisierten Kapitalismus, protestantisch-puritanisches Arbeitsethos, auf fortschreitende Verwissenschaftlichung, Technisierung und Industrialisierung. Diese Kultur weiß bis heute nichts Besseres als besinnungslose Betriebsamkeit. Es fehlt jede meditative, kontemplative oder spirituelle Komponente. Aus buddhistischer Sicht zum Beispiel ist das „Ausfüllen der Zeit“ ein nutzloses Unterfangen, weil Zeit eine Illusion ist, die vom Pfad zur Erlösung ablenkt. Wer so töricht ist und sich auch noch durch „Taten“ in die Zeit verstricken lässt, der verfehlt seine geistige Bestimmung. Da braucht es dringend einen Neustart durch Reinkarnation. Aber man muss nicht einmal bis nach Indien schweifen: Alle sonnenverwöhnten Kulturen, auch die Südeuropas, setzen ganz andere Prioritäten als schweißtreibende Arbeit. Das Sozialleben und die Familie sind wichtiger. Freizeit schlägt Arbeitszeit. Kant schwebt also durchaus nicht als neutraler philosophischer Beobachter über allen menschlichen Kulturen. Vor allem das „Ausfüllen der Zeit durch planmäßig fortschreitende Beschäftigungen“ ist so deutsch bzw. preußisch, wie es deutscher und preußischer gar nicht sein kann: Die deutsche Kultur liebt den Plan. Je größer, geordneter, detaillierter und durchregulierter - desto deutscher ist der Plan. Überhaupt betont unser Philosoph die „Pünktlichkeit des Denkens“, eine drollige Formulierung, die er selbst geprägt hat. Und am Ende seiner berühmten Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft beschwört er den „Geist der Gründlichkeit“, der „in Deutschland noch nicht erstorben“ sei.

Kants gravierendes Unverständnis gegenüber anders gearteten Kulturen beweist auch eine eigenartige Textstelle in seiner Anthropologie. In dem Kapitel „Von der langen Weil und dem Kurzweil“, genau dort, wo er sein Motto „Das Leben durch Taten verlängern“ entwickelt: Den Trieb zur Zeitausfüllung und die Last der Langenweile fühlen angeblich „… alle, welche auf ihr Leben und auf die Zeit aufmerksam sind (cultivierte Menschen).“ (AA, VII, 233). „Kultiviert“ sein ist also gleichbedeutend mit ständiger Fixierung auf zeitausfüllende Aktivität. In einer Fußnote zu diesem „kultivierten Menschen“ folgt nun ein klares rassistisches Statement: „Der Caraibe ist durch seine angeborene Leblosigkeit von dieser Beschwerlichkeit frei. Er kann stundenlang mit seiner Angelrute sitzen, ohne etwas zu fangen; die Gedankenlosigkeit ist ein Mangel des Stachels der Tätigkeit, der immer einen Schmerz bei sich führt, und dessen jener überhoben ist.“ (ebd.) Aber Zeit ist keineswegs etwas, das zwanghaft „ausgefüllt“ werden muss. Auch nichts tun ist ein Tun. Ebenso abwegig ist die Vorstellung, dass ein „Mangel des Stachels der Tätigkeit“ die Ursache für Gedankenlosigkeit sei. Im Gegenteil ist Tätigkeit oft ein direktes Resultat der Gedankenlosigkeit, ein Betäubungsmittel, um dem Denken gerade auszuweichen. Oder bloße Routine, das heißt die Tätigkeit selbst führt zur Gedankenlosigkeit. Aus heutiger Sicht erscheint uns der „Caraibe“ zu Recht als bewundernswert. Der Sinn des Angelns besteht eben nicht nur darin, dass man etwas fängt. Es geht auch darum, die Fesseln der Zeit und das prosaische Nützlichkeitsdenken abzustreifen.

Fremdkulturen wie die Südseeinseln erscheinen Kant als geistig zurückgeblieben, das heißt also unterhalb der „Kultiviertheit“ des europäischen Bürgertums. In einigen seiner Schriften gibt es noch weitere rassistische Äußerungen. Darauf hat die postkoloniale Geschichtsschreibung zu Recht hingewiesen. Der nigerianische Philosoph Emmanuel Chukwudi Eze (1963 – 2007) gab schon 1995 („The Color of Reason”) den entscheidenden Anstoß zur Rassismusdebatte um Kant. Berüchtigt ist Kants Äußerung in einer Vorlesungsnachschrift über „Physische Geographie“ (1802): „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Theil der amerikanischen Völkerschaften.“ (AA IX; S. 316) Das erfüllt die Grunddefinition von Rassismus: Kant schließt von äußeren physischen Merkmalen auf kulturelle, moralische und intellektuelle Eigenschaften, die er hierarchisch bewertet. Nur die Weißen genügen der Messlatte einer vollkommenen Menschheit. Dass die Weißen die weniger kultivierten Nichtweißen im Sinne einer vollkommeneren Menschheit zivilisieren, beherrschen und ausbeuten müssen, ist übrigens die gängige Rechtfertigung des zeitgenössischen Kolonialismus. Übelster Sklavenhalter-Jargon findet sich bereits beim „vorkritischen“ Kant (damit ist die Zeit vor der Kritik der reinen Vernunft (1781) gemeint): In seinen "Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764) schreibt er: „Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege. (…) Die Schwarzen sind sehr eitel, aber auf Negerart und so plauderhaft, daß sie mit Prügeln müssen aus einander gejagt werden.“ (AA II, S. 253) In der Abhandlung "Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie" (1788) zitiert er mit Wohlgefallen einen angeblichen Zeugen, der über freigelassene Sklavinnen und Sklaven urteilt. Es gebe kein Beispiel dafür, „… dass irgendeiner ein Geschäfte treibe, was man eigentlich Arbeit nennen kann (…), um dafür Höker, elende Gastwirte, Livereibediente, auf den Fischzug oder Jagd ausgehende, mit einem Worte Umtreiber zu werden. Eben das findet man auch an den Zigeunern unter uns.“ (AA VIII, S. 174) Hier herrscht erneut die Kolonialherren-Logik: Die Sklaverei war im Grunde doch besser für die Freigelassenen. Da konnten sie sich wenigstens zu einem fleißigen und anständigen Menschen hinaufkultivieren. Auch besteht keinerlei Sensibilität für die soziale Ausgrenzung und Herabsetzung der Freigelassenen: Welche Berufe hätten sie denn wählen können – als eben die von Kant zitierten? Nur wenige Glückliche wurden als Kammerdiener beschäftigt. Aber unter den Armen, die ohnehin keine Aufstiegschancen hatten, standen die Freigelassenen nochmals eine Stufe tiefer. Deklassiert sogar unter den Deklassierten - Es ist also wahr. Es gibt den rassistischen Kant. Die zitierten Abhandlungen aus unterschiedlichen Schaffenszeiten des Philosophen sind Teil seines Gesamtwerks und damit auch seines Denkens. Sehr viel mehr Belege für Rassismus als die angeführten gibt es in dem riesigen Schriften-Korpus allerdings nicht. Auch nicht in den Hauptwerken Kants. Die holländische Philosophin und Kant-Spezialistin Pauline Kleingeld stellte fest, dass Kant nach 1790 den Gedanken der Rassenhierarchie fallen ließ. („Kant’s Second Thoughts On Race“ (2007)) Das ist richtig, abgesehen von einigen abfälligen Bemerkungen über den antriebslosen „Caraiben“ in der "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" (1798). Eine wichtige Beobachtung Kleingelds war außerdem, dass Kant 1785 eigens eine Abhandlung über Menschenrassen schrieb, worin er aber ebenfalls auf die kulturelle Einstufung von Hautfarben verzichtete. In "Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace" geht es um die Beschreibung von körperlichen Merkmalen und deren Zusammenhang mit klimatischen, geographischen und physiologischen Gesetzen. Ob die schwarze Hautfarbe etwas mit intensiver Sonneneinstrahlung zu tun hat, ist noch kein „Rassismus“, solange kulturelle Abwertungen unterbleiben: „Die Klasse der Weißen ist nicht als besondere Art in der Menschengattung von der der schwarzen unterschieden; und es gibt gar keine verschiedene Arten von Menschen.“ (AA, VIII, S. 99f.) Hier geht es Kant also um die Naturbeschreibung und Naturgeschichte, die genaue Beobachtung von Merkmalen und deren Erfassung, Klassifizierung und Einordnung in einem biologischen System. Das ist die gängige Methode der damaligen Naturforschung. Als vorbildlich galt die Arbeitsweise des berühmten Carl von Linné (1707 – 1778). Er inventarisierte Pflanzen und Tiere nach Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät. Mit seinem monumentalen Grundlagenwerk "Systema Naturae" (in zwölf Auflagen von 1735 bis 1768) und mit "Species Plantarum" (1753) begründete er die botanische und zoologische Fachsprache und verlieh allem, was da kreucht, fleucht, wächst und gedeiht einen wissenschaftlichen Namen. – In Kants "Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace" gibt es tatsächlich keine Rassenskala, keine kulturellen Werturteile, weil sich der Autor hier in den Grenzen der zeittypischen wissenschaftlichen Methode bewegt. Die wissenschaftsgeschichtlich bewusste Rassismusforschung hat das längst erkannt: „Hätten sich die Anthropologen darauf beschränkt, die Menschengruppen nach ihren physischen Merkmalen zu gliedern und daraus keine weiteren Schlüsse zu ziehen, wäre ihre Arbeit so harmlos wie die des Botanikers oder Zoologen und lediglich deren Fortsetzung gewesen.“ (Poliakov, Delacampagne, Girard 1992, S.20f.) Genau diese rote Linie aber hat Kant überschritten, wenn auch nicht in "Bestimmung des Begriffs einer Menschenrace", dafür aber in den oben genannten Schriften. Nur wer Kant nicht wirklich gelesen hat, verfällt auf die Idee, seinen Rassismus an seiner Rassen-Schrift festzumachen. (Georg Forsters Kritik an Kant behandle ich weiter unten.) Aber auch die nur beschreibende Rassentypologie hat man Kant vorgeworfen, besonders von Seiten der linken „Identitätspolitik“, die sich dem Schutz von diskriminierten sozialen Gruppen und dem Antirassismus verschrieben hat: Mit der Rassentypologie hätte Kant die theoretischen Kategorien bereitgestellt, auf denen sein eigener Rassismus, aber auch der spätere pseudowissenschaftliche Rassismus bequem aufbauen konnte. Das ist historisch schlicht falsch. Bereits der Großmeister der beschreibenden Naturkunde, Carl von Linné persönlich, führte in der 10. Auflage von "Systema Naturae" (1758) eine Rassentypologie nach Hautfarben ein. Angereichert mit moralisch-ästhetischen Wertungen wie „Temperament“ und „Körperhaltung“. – Die Schwarzen seien phlegmatisch und schlaff, die Gelben melancholisch und steif, die Roten cholerisch und aufrecht, die Weißen dagegen „sanguinisch“ (lebhaft, heiter) und muskulös. Kant hat zwar Vieles geleistet, aber der Erfinder der Rassentypologie ist er definitiv nicht. Und auch sachlich bleibt es ein Unterschied, die physiologische Eigenart verschiedener Menschheitsgruppen zu beschreiben oder sie kulturell zu bewerten bzw. abzuwerten. Die Bewertung baut auf der Beschreibung auf, das ist klar, von Linné bis heute. Das liegt aber nicht an der Beschreibung. Es ist das kulturelle Vorurteil im Kopf der Interpreten, das diese Verbindung herstellt. Auch ist zu bezweifeln, dass die Rassentypologie durch schrittweise historische Entwicklung zum scheinwissenschaftlichen, biologisch und genetisch argumentierenden Rassismus führt. Die Grenze zur Scheinwissenschaft ist ja von Anfang an, schon bei Linné und Kant, überschritten. Von Anfang an – leider bis heute – lebt das Vorurteil von der Überlegenheit der weißen Rasse. Es war immer schon vollumfänglich vorhanden, hat sich immer schon dem jeweiligen Stand der Wissenschaft neu angepasst. Die Gestalt des Vorurteils ist dem historischen Wandel unterworfen, das Vorurteil selbst aber scheint unverwüstlich.

So sollte man Kants rassistische Äußerungen wenigstens teilweise dem herrschenden Zeitgeist eines global entfesselten Kolonialismus zurechnen. Und ebenso dem maßlosen Eigendünkel der damaligen "christlichen" Kultur, speziell in den mächtigen traditionellen Amtskirchen. Sie zeigten gegen heidnische Fremdkulturen keinerlei Achtung oder Duldsamkeit. Ein kurioses Beispiel ist der Skandal um den Philosophen Christian Wolff (1679 – 1754). Dieser wagte es 1721 in einer Universitätsrede, die praktische Weisheit der Chinesen zu loben, ihre hohe Zivilisationsstufe, ihre perfekt funktionierende Verwaltung, ihre Philosophie und ihre altehrwürdige Geschichte. Sofort brach ein Sturm der Entrüstung über den Philosophen herein: Ein Volk ohne Christentum könne so etwas niemals leisten. Einzig und allein der christliche Glaube sei kultivierend und zivilisatorisch aufbauend. Lobreden auf heidnische Kulturen kämen der Gotteslästerung und dem Atheismus gleich. So beschließt denn Friedrich Wilhelm I, dass Wolff „… binnen 48 Stunden nach Empfang dieser Ordre die Stadt Halle und alle unsere übrige Königlichen Lande bei Strafe des Stranges räumen solle.“ (zit. n. Martus (2015), S. 282) Die Intoleranz des Christentums beeinflusste die Meinungsbildung in heute unvorstellbarem Ausmaß. Das belegt vor allem die Wirkungsgeschichte von Kants Philosophie selber: Den Durchbruch zur breiten Öffentlichkeit schaffte Kant nicht etwa mit seiner revolutionären Transzendentalphilosophie, sondern erst mit tatkräftiger Unterstützung eines Kollegen: Karl Leonhard Reinhold, Professor der Philosophie in Jena. Dieser schrieb von 1786 bis 1789 seine Briefe über die Kantische Philosophie, die Kant zu einem wirklich populären Namen machten. Reinhold hatte die geniale Idee, Kants Philosophie in der Auseinandersetzung mit christlichen Fragen zu präsentieren: Hat die Vernunft einen Anspruch auf Wahrheit, unabhängig vom Glauben? Was sagt Kant zum Dasein Gottes? Zu den Grundwahrheiten der Religion? Das waren die zentralen Fragestellungen, die Kants Zeitgenossen bewegten. Sonst wären Reinholds Briefe nie so durchschlagend erfolgreich gewesen.

Dieses zeitgenössische kulturelle Gesamt-Klima gilt es also zu berücksichtigen, wenn man aus heutiger Sicht das Etikett „Rassismus“ auf Kants Denken aufkleben will. Den Begriff „Rassismus“ gibt es erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um völkische Ideologien zu kennzeichnen. Denkmodelle, die auf Blut und Boden, auf biologistischem Sozialdarwinismus und nationalem Sendungsbewusstsein aufbauen. Dein Volk steht im Kampf ums Dasein mit anderen, natürlich minderwertigen und bösartigen Völkern, die man besiegen, unterjochen oder gleich ganz vernichten muss. - Das hat nichts mit der Zeit Kants zu tun. Wer herausfinden möchte, welchen Bezug diese Zeit zu unserer Gegenwart haben könnte, sollte seine aktuellen Begriffe und Denkweisen nicht unbesehen der Vergangenheit überstülpen. –

Was ihr den Geist der Zeiten heißt,
Das ist im Grund der Herren eigner Geist,
In dem die Zeiten sich bespiegeln.
Goethe, Faust I (1808)

Andererseits können wir gar nicht anders, als mit den Fragestellungen unserer eigenen Zeit die Texte aus der Vergangenheit zu lesen. Unsere Sensibilität für Rassismus und Ausgrenzung, unsere historisch gewachsene wie auch gegenwärtige Erfahrung mit religiös oder rassistisch-nationalistisch motiviertem Fanatismus können wir nicht ausblenden. Es ist genau diese Sensibilität unserer Jetztzeit, die überhaupt erst das rassistische Vorurteil in den Texten Kants wahrgenommen hat. Obwohl die betreffenden Textstellen seit dem 18. Jahrhundert unverändert dastehen, hat erst das Ende des 20. Jahrhunderts vollständig erfasst, dass es in Kants Denken einen hässlichen Makel gibt. – Der Sinn eines Textes besteht also nicht darin, dass man ihn historisch perfekt rekonstruiert. Dass man den Zeitgeist der jeweiligen Zeit scheinbar total objektiviert und „auf der Schädelstätte der Tatsachen thront“ (Heine). Im Gegenteil sind es die Fragestellungen unserer eigenen Zeit, die den Text erst produktiv machen. Hier entscheidet sich, warum uns bestimmte Themen ansprechen und andere nicht. Und ob wir Neues auch über unsere eigene Zeit erfahren, gerade weil wir unsere Begriffe und Denkweisen mit anderen Zeiten und Sitten konfrontieren. Hermeneutisch schulgerecht gesprochen, heißt das:

"Der wirkliche Sinn eines Textes, wie er den Interpreten anspricht, hängt eben nicht von dem Okkasionellen ab, das der Verfasser und sein ursprüngliches Publikum darstellen. Er geht zum mindesten nicht darin auf. Denn er ist immer auch durch die geschichtliche Situation des Interpreten mitbestimmt und damit durch das Ganze des objektiven Geschichtsganges."
Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, S. 301

Um Texte mit größerem Zeitenabstand „sinnvoll“ zu lesen, braucht es aber zweierlei: Selbstkritisches Bewusstsein und historische Sorgfalt. Man muss wissen, was man tut (und dass man es tut), wenn man gegenwärtige Denkkategorien, Gefühlslagen oder Weltauffassungen mit in den Text hineinträgt. Ohne diese selbstkritische Distanz wird die Lektüre nach vorgefassten Begriffen aus der Jetztzeit glattgebügelt. Man lässt sich nicht wirklich ein auf den Text und bekommt erst gar nicht mit, was er einem hätte sagen können. Historische Sorgfalt wiederum gewährleistet, dass man die Eigenart der heute fremden und fernen Zeit nicht unterschlägt, dass man Missverständnisse möglichst gering hält, dass man das Andere dieser anderen Zeit so genau wie möglich wahrnimmt. So konnte der gute Kant nicht einfach auf wikipedia surfen, um bestürzt festzustellen, dass der Begriff der Rasse wissenschaftlich unhaltbar ist. Die Molekularbiologie und Populationsgenetik hat längst nachgewiesen, dass die „erblichen Unterschiede zwischen verschiedenen Menschengruppen nur gering im Vergleich zur Varianz innerhalb dieser Gruppen“ sei. Genetisch betrachtet, ist der Mensch weit eher Individualist als Stammestier. Die Gruppen sind sich jedenfalls viel ähnlicher als die einzelnen Menschen, die in ihnen leben. Unterschiede wie Hautfarbe etc. fallen genetisch kaum ins Gewicht, sie regulieren Anpassungsbedingen an die Umwelt. Deshalb ist, schreibt wikipedia, „jeder typologische Ansatz zur Unterteilung der Menschheit ungeeignet.“ Die Anthropologie des 18. Jahrhunderts ist damit widerlegt. Aber der Blick zurück auf Kant belehrt uns, wie endlos lang und steinig der Weg ist, bis sich Vorurteile selbst innerhalb der Wissenschaft auflösen und wie sie gesellschaftlich bis heute unbeirrbar fortwirken, trotz aller Widerlegung. Durch historische Texte erfahren wir auch unsere eigene historische Bedingtheit, unsere eigenen zahlreichen Vorurteile, unsere eigene Endlichkeit nur umso intensiver.

Kant hegt noch weitere Vorurteile seiner Zeit, z.B. gegenüber Frauen und Kindern. Im obigen Diätetik-Aufsatz "Von der Macht des Gemüths etc." schreibt er doch tatsächlich, dass „Weiber und Kinder“ nicht einmal genug Willenskraft hätten, um ihre Gedanken erfolgreich von der Gicht abzulenken (AA VII, S.107). Die „Macht des Gemüts“ ist eben nur bei erwachsenen Männern dem „Podagra“ gewachsen. - Wer aber wirklich erfahren will, wie groß der Abstand unserer Zeit von Kants Zeithorizont ist, der beachte besonders seine Geschlechter-Auffassung. Frau und Mann werden nach den Kategorien des „Schönen“ und „Erhabenen“ gemodelt. Ein Blick in Rudolf Eislers Kant-Lexikon (1930) unter dem Stichwort „Frau“ lässt keinen Zweifel aufkommen, wie konventionell und klischeehaft Kant dachte: „Die Frau gehört zum ‚schönen‘, der Mann zum ‚edlen‘ Geschlecht. Das Gefühl für das Schöne überwiegt bei der Frau, das des Erhabenen beim Manne, worauf die Erziehung zu achten hat. Die Frau hat ebenso Verstand wie der Mann, es ist nur ein ‚schöner Verstand‘, der des Mannes soll ein ‚tiefer Verstand‘ sein.“ (Zit. n. textlog.de, Rudolf Eisler, Kant-Lexikon) – Deshalb soll sich der „schöne“ Verstand der Frauen von den tiefsinnigen Arbeiten der philosophischen Spekulation und ernsthafter wissenschaftlicher Arbeit fernhalten. Kant behauptet wortwörtlich: „Mühsames Lernen oder peinliches Grübeln, wenn es gleich ein Frauenzimmer darin hoch bringen sollte, vertilgen die Vorzüge, die ihrem Geschlecht eigentümlich sind.“ (ebd.) Heutige Frauen winden sich in Krämpfen, wenn sie ein derartiges Gerede von vorgestern anhören sollen. In Kants Zeit waren Frauen unmündig, genauer entmündigt. Sie brauchten tatsächlich einen männlichen Vormund, sei es Vater, Bruder oder Ehemann, wenn sie Geschäfte tätigen wollten. Erbe und Mitgift gingen in die absolute Verfügungsgewalt des Gatten über. Berufliche Ausbildung oder gar Universitäten waren ihnen verschlossen. Politisch hatten sie kein Stimmrecht. Ihre als „natürlich“ betrachteten Pflichten waren die Mutterschaft und Kindererziehung, die Aufsicht über das Hauswesen und Gesinde, vor allem aber das diensteifrige Umsorgen des Ehemanns, von dessen Status und Finanzen die Ehefrauen vollkommen abhängig waren. – Aus heutiger Sicht also das klassische bürgerliche Frauenbild, das die moderne Emanzipation verabscheut und bekämpft. Doch im 18. Jahrhundert war dieses Frauenbild gerade erst entstanden, ja eine regelrechte Innovation. Die langsame Herausbildung eines auf Handel beruhenden Bürgertums erfolgte zwar schon im 17. Jahrhundert. Aber erst im 18. Jahrhundert finden in Industrie, Handel und staatlicher Verwaltung eine durchgreifende Professionalisierung und Spezialisierung statt, die den „Mittelstand“ zu einer beruflich wie gesellschaftlich bedeutsamen Größe heranwachsen lassen. Vorbei die Zeiten der ständischen Agrarkultur, wo Frauen als versklavte Arbeitstiere schuften mussten. Im neuen Bildungs- und Besitzbürgertum war für die beglückten Gattinnen viel Raum für Muse, Dichtung, Musik, Lektüre. Ihr Zustand wurde als paradiesisch gepriesen, eben weil sie vom geschäftlichen Getriebe ausgenommen waren. Frauen galten aus mittelständischer Sicht sozusagen als die besseren Menschen, weil sie umfassender kultiviert seien und viel „natürlicher“ als männliche Fachidioten, die den materiellen Ressourcen außer Haus nachjagen müssen:

Der Mann muß hinaus
Ins feindliche Leben,
Muß wirken und streben
Und pflanzen und schaffen,
Erlisten, erraffen,
Muß wetten und wagen,
Das Glück zu erjagen
(…)
Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Die Mutter der Kinder,
Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise.

So fasst Friedrich Schiller im Lied von der Glocke (1799) das bürgerliche Geschlechterverhältnis zusammen, damals ein Idealbild, heute unfreiwillig satirisch wirkend, eine Parodie auf sich selber. Aber dieses Weltbild wirkte noch weit ins 19. Jahrhundert, genau betrachtet noch bis in die 1970er hinein. Im 18. Jahrhundert aber war es noch brandneu, überladen mit humanistischen Bildungsidealen, es drang bis in die höchsten Kreise der bürgerlichen Intellektuellen vor. – „Frauen sind das Element guter Sitten“, dichtete auch Goethe. Zu Kants Zeit hatte das (zweifellos diskriminierende) Frauenbild immerhin noch einen humanistischen Ansatz – die Perspektive des ganzen Menschen, der mehr ist als Rationalismus und Berufsarbeit, der frei ist zur allseitigen Bildung. Natürlich ist das grober Unfug: Man schloss Frauen von Universitäten aus, trotzdem galten sie als die vorbildlich gebildeten Menschen. Und die Frauen selbst waren begeisterte Leserinnen von Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), von dem sie sich bereitwillig einreden ließen, dass Frauen der unverdorbenen Natürlichkeit des wahren Menschseins viel näher stehen. Wie überhaupt in der neuen wohlhabenden bürgerlichen Mittelstandskultur die Leser hauptsächlich Leserinnen waren. Inzwischen ging die Sklavenarbeit bei Frauen aus der armen Unterschicht allerdings unvermindert fort.

Kants Frauenbild ist unspektakulär, ein Gemeinplatz unter den damals fortgeschrittenen Intellektuellen, der übliche Männer-Sprech seiner Zeit - und es gab fast nur Männer-Sprech. Frauenfeindlich im heutigen Sinn war Kant aber gewiss nicht. Davon zeugt seine vielfach überlieferte Beliebtheit bei der Damenwelt in Königsberg (eine andere kannte er nicht). Besonders im Austausch mit gebildeten Frauen glänzte Kant mit Witz und Galanterie. Kein Wunder – er betrachtete die Damen geradezu als Lehrmeisterinnen der guten Konversation, des anständigen Benehmens und überhaupt aller gesellschaftlichen Tugenden. Wenigstens kann man ihm zugutehalten, dass er das idealisierte Frauenbild seiner Zeit tatsächlich zum Leitbild seines Handelns gemacht hat:

Aus diesem vernünftigen Grunde riet er auch seinen jungen Freunden an, den Umgang mit gebildeten Frauenzimmern, so oft sich dazu nur Gelegenheit darböte, aufs sorgfältigste zu benutzen, weil dieses das einzige Mittel wäre, ihre Sitten zu verfeinern und zu veredeln. Ja er hielt die Benutzung dieses Bildungsmittels für ebenso notwendig als die Sorge für die Ausbildung des Geistes und für die Vermehrung von Kenntnissen und Geschicklichkeiten; er war daher der Meinung, dass ein junger Mann, der sich für die Welt ausbilden will, Gesellschaften gebildeter Damen so oft besuchen müsse, als nicht besondere höhere Pflichten es ihm verbieten. (Lebensbild, S. 42.)

Noch als junger Hauslehrer lernte Kant Caroline Charlotte Amalie Gräfin Keyserlingk (1727-1791) kennen. Sie brachte dem gesellschaftlich weit unter ihr stehenden, aber hochgebildeten Mann großen Respekt entgegen. Kant wiederum machte die Gräfin zu seiner gesellschaftlichen Mentorin. Auch zu Graf Heinrich Christian Keyserlingk entwickelte sich ein enges freundschaftliches Verhältnis. Über 30 Jahre lang ging Kant am Hofe des Grafen ein und aus, er hatte eine ständige Tischeinladung und nahm meist den Ehrenplatz neben der Gräfin ein. Er nannte sie die „Zierde ihres Geschlechts“. Tatsächlich entsprach sie Kants Frauenideal: Sie war eine begabte Malerin und Porträtzeichnerin - von ihr stammt das bekannte (und einzige) Bildnis Kants aus jungen Jahren. Sie glänzte außerdem mit Gesang und Lautenspiel, mit großer Belesenheit in französischer und deutscher Dichtung, mit gesellschaftlicher und kultureller Attraktivität. Kants Bewunderung war trotzdem inkonsequent: Gräfin Caroline beschäftigte sich auch mit der so „tiefen“ und „männlichen“ Philosophie. Sie übersetzte den Deutsch schreibenden Philosophen Christian Wolff ins Französische, ebenso den Literaturtheoretiker und Sprachforscher Johann Christoph Gottsched. Schlimmer noch und „unweiblicher“ war ihre profunde Gelehrsamkeit in den Naturwissenschaften. Caroline wurde sogar zum Ehrenmitglied der „Königlich-Preußischen Akademie der Künste und mechanischen Wissenschaften“ ernannt. – Nach Kants eigener Theorie hätten diese mühsamen intellektuellen Tätigkeiten doch alle weiblichen Vorzüge „vertilgen“ müssen. In Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (1764) witzelt er boshaft: „Ein Frauenzimmer, das den Kopf voll Griechisch hat, wie die Frau Darcier, oder über die Mechanik gründliche Streitigkeiten führt, wie die Marquisin von Chastelet, mag nur immerhin noch einen Bart dazu haben; denn dieser würde vielleicht die Miene des Tiefsinns noch kenntlicher ausdrücken, um welchen sie sich bewerben.“ (AA II, 229f.) – Was die Gräfin wohl im Innersten über dieses Macho-Gehabe ihres Freundes gedacht hat?

Ob Kant eine Affäre mit der Dame hatte? Die offenbar enge Beziehung erregte natürlich Aufmerksamkeit und Klatsch in Königsberg. Bürgertum und Adel waren noch rigoros getrennte Stände. Dass die Gräfin den Sohn eines Riemermeisters zu ihrem erklärten Liebling und Protegé erhob, spricht für ihre Vorurteilslosigkeit. Kant dankte ihr mit gesellschaftlicher Brillanz, die er unter ihrer Anleitung perfektionierte: „Kant bewegte sich damals ungezwungen in den Kreisen, die in Königsberg die High Society darstellten: adlige Offiziere, reiche Kaufleute und der Hof des Grafen.“ (Kühn, S. 140). Hier hat es ein Bürgerlicher aus eigener Kraft und mit eigenen geistigen Gaben nach ganz oben geschafft. Natürlich wurde er argwöhnisch beäugt, es fehlte nicht an giftigen Neidern mit Standesdünkel. Eben deshalb spricht es sehr für Kants untadelhaftes Verhalten, dass es keinerlei Belege für ein Liebesverhältnis zur Gräfin gibt. Manfred Kühn schreibt in seiner ausgezeichnet recherchierten Kant-Biografie: „Es gab natürlich nie eine romantische Beziehung. Die gesellschaftliche Distanz zwischen Kant und der Gräfin war einfach zu groß, als dass auch nur ein derartiger Gedanke hätte aufkommen können.“ (Kühn, S. 141). - Kant und Sex ist ohnehin ein arger Optimismus. Nichts in seinem Leben deutet wirklich darauf hin. Das Wenige, was wir wissen, ist erschreckend harmlos. Da sind einige Briefe von Jugendfreundinnen, mit denen Kant ein platonisches, ja eigentlich pädagogisches Verhältnis gepflegt hatte. Sie bedanken sich für seine „gütige Anweisung“ (Kühn, S.142). Auch die gescheiterten Heiratsversuche Kants sind dokumentiert: Eine „gut gezogene sanfte und schöne auswärtige Witwe, die hier Anverwandte besuchte“, erregt Kants Interesse. Er berechnet emsig „Einnahme und Ausgabe; und schob die Entschließung einen Tag nach dem andern auf.“ Die schöne Witwe besucht inzwischen anderswo Verwandte und heiratet prompt einen anderen. Ein anderes Mal fasst Kant ein „hübsches westfälisches Mädchen“ ins Auge. Wieder beginnt er zu rechnen und zu überlegen, ja er erwägt immer noch, einen Antrag zu machen, als das hübsche Mädchen längst wieder ins heimische Westfalen abgereist ist. (Siehe Kühn, S. 142f.) Darüber hinaus hat Kant nie wieder einen Heiratsversuch unternommen. Das klägliche Scheitern malt das Bild vom unbeholfenen, zerstreuten und spießigen Professor natürlich noch weiter aus. Was soll man auch von einem Philosophen halten, der die Ehe so hölzern definiert wie Kant: „... die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften.“ (AA VI, S. 277) Auch mit der Definition von Sex erregt Kant bis heute Gelächter: „Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale) ist der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht (usus membrorum et facultatum sexualium alterius).“ (Ebd.) Dabei unterscheidet Kant einen „natürlichen Gebrauch“ der Sexualität von einem „unnatürlichen Gebrauch“; und der natürliche Gebrauch kann nur zwischen Frau und Mann stattfinden, „wodurch seines Gleichen erzeugt werden kann“. Gleichgeschlechtliche Beziehungen sind demnach „unnatürlich“ und stehen mit der Sodomie auf ein und derselben Stufe. Neben dem rassistischen Kant gibt es also auch noch den homophoben Kant. Überhaupt sei der Sex nur im Rahmen eines vertraglich gesicherten Ehestandes der Menschenwürde angemessen. Der sonst so unerschrockene Religionskritiker wagt nicht einmal die geringste Abweichung von der christlichen Sexualmoral. Die Gleichsetzung von Ehe mit „Besitz von Geschlechtseigenschaften“ und von Sex mit „Gebrauch“ der entsprechenden Glieder erinnert weit mehr an die Mechanik Issac Newtons als an Erotik. Ganz abgesehen vom kapitalistischen Besitzdenken, vom Buchhalter-Habitus und dem ständigen ängstlichen Nachrechnen, das Kant mit der Ehefrage verbindet. Er sprach sich auch eindeutig gegen Liebesheiraten aus, Ökonomie und Vernunft seien wichtiger. Im Übrigen beschränkte Kant wohl seine Verehrung und Idealisierung der Frauen auf sehr gebildete, gesellschaftlich meist hochstehende Damen: „Er hatte gewiss alle Achtung für das weibliche Geschlecht und schätzte viele talentvolle und kenntnisreiche Damen als seine Freundinnen“ (Lebensbild, S. 116). Mit allen anderen aber diskutierte er ausgiebig über Kochkunst oder konventionelle eheliche Pflichten, tatsächlich wie der schlimmste Spießer. Im Freundeskreis scherzte man, dass Kant nach der Kritik der reinen Vernunft jetzt wohl eine Kritik der Kochkunst schreibe. Das verrät viel über Kants im Grunde diskriminierendes Frauenbild: „Der Inhalt der großen Wissenschaft des Frauenzimmers ist (…) der Mensch und unter den Menschen der Mann. Ihre Weltweisheit ist nicht Vernünfteln, sondern Empfinden.“ (AA II, S. 230)

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So abgeschmackt uns Kants Frauenbild heute vorkommt und so christlich-orthodox seine Sexualmoral auch immer gewesen sein mag, die historische Sorgfalt gewährt mildernde Umstände: Kants staubtrockene Definitionen von Ehe und Sex stammen aus seiner Rechtsphilosophie. Juristische Sprache ist nicht überbordend poetisch. Es wäre also grundverkehrt, die Definitionen nur als Ausdruck eines kalten Gemüts zu verstehen. Das Gesetz kann nicht die romantische Liebe regeln, wohl aber Eheverträge und Besitzverhältnisse. Bis hin zum verbrieften Recht auf Sex in der gesetzlich geschlossenen Ehe, worauf Kant ausdrücklich hinweist. Als er seine Rechtsphilosophie publizierte (in Die Metaphysik der Sitten (1797)), war er außerdem ein schon betagter kränkelnder Mann. Keine vorteilhafte Position, um einen Preisgesang auf Ehe und Sex anzustimmen. Zumal Kant in beiden Fällen über keinerlei Sachkenntnis verfügte. Wie gesagt wissen wir zwar nicht ganz sicher, ob Kant jemals einen realen „empirischen“ Geschlechtsverkehr hatte. Das 18. Jahrhundert darf man aber nicht unterschätzen. Es hat Figuren wie Giacomo Casanova (1725 – 1798) und den Marquis de Sade (1740 – 1814) hervorgebracht. Die sexuelle Libertinage besonders des Adels war berüchtigt. Der adelige Wüstling, der völlig abhängigen Dienstmädchen nachstellt, notfalls bis zur Vergewaltigung, muss eine geradezu volkstümliche Vorstellung gewesen sein. Das beweist der große europaweite Erfolg des Romanschriftstellers Samuel Richardson (1689 – 1761), der mit Pamela (1740) genau dieses Motiv aufgegriffen hat. Die Sittenlosigkeit der Zeit spiegelte sich aber vor allem in der weit verbreiteten Prostitution wider. Befördert vor allem durch das Elend der sehr großen weiblichen Unterschicht. Und durch Reiche und Mächtige, die deren Existenznot und Entrechtung gnadenlos ausnutzten. Das pietistische Königsberg war nun gewiss kein Ort zügelloser Ausschweifung. Doch gab es in der Hauptstadt Ostpreußens stets ein ansehnliches Militärkontingent von 5000 bis 8000 Soldaten. Und die hatten ihren Sold und ihre Bedürfnisse. Auch während der Besetzung Königsbergs durch russische Truppen (1758-1762) herrschten ziemlich lockere Sitten. – Wir wissen dennoch nicht, ob Kant von käuflichen Möglichkeiten Gebrauch machte oder ob irgendeine Jugendfreundin den „eleganten Magister“ die Wonnen sinnlicher Liebe erfahren ließ. (Im Epilog „Hatte Kant einen Dreier?“ komme ich darauf zurück.) Selbst Kants Zeitgenossen verzweifelten an der Aufgabe, irgendeinen Beweis zu finden. Kants Sekretär und Assistent Reinhold Bernhard Jachmann (1767 – 1843) berichtet: „Gern möchte ich Sie jetzt von Kants Liebe unterhalten, aber ich kann stattdessen Ihnen bloß mein herzliches Bedauern mitteilen, dass von diesem so charakterisierenden Gefühl aus dem Leben des Weltweisen nie etwas zu meiner Kenntnis gekommen ist.“ (Lebensbild, S.64) – An die Stelle der Fakten treten küchenpsychologische Spekulationen: Das warmherzige „Temperament“ Kants, seine Empfänglichkeit für das Schöne und Erhabene, seine gefühlvollen Freundschaften lassen „beinahe mit völliger Gewissheit“ (ebd.) den Schluss zu, dass Kant auch erotische Erfahrungen gemacht haben müsse. Selbst Karl Vorländer will in seiner kenntnisreichen und verdienstvollen Biografie Immanuel Kant. Der Mann und das Werk (1924) nicht wahrhaben, dass der ästhetisch so empfängliche Kant zeitlebens ohne sexuellen Verkehr geblieben sein soll. Nun – es ist ja noch nie vorgekommen, dass hochbegabte Nerds wie Kant bei Frauen nicht zum Zuge kommen? Besonders wenn sie wie Kant erst im Alter von 46 Jahren eine sichere Professorenstellung erlangen. Für Kants Ehelosigkeit ist die ökonomische Basis eines Intellektuellen aus dem niedrigen, kinderreichen und ärmlichen Bürgerstand äußerst wichtig: „Damit stand er nicht allein. So mancher deutsche Gelehrte im 18. Jahrhundert musste dasselbe Schicksal ertragen und ein Junggesellenleben führen, weil er für eine Frau und Kinder einfach nicht hätte sorgen können. Manche fanden reiche Witwen, die sie ernähren konnten, aber das waren Ausnahmen.“ (Kühn, S.143f.) Genau wie Kant mussten sich die meisten Gelehrten und schöngeistigen Schriftsteller als schlecht bezahlte Hauslehrer, freiberufliche Privatdozenten, Bibliothekare oder auch als arme Landgeistliche über Wasser halten. Mit Vermögen und Verbindungen im Rücken taten sich die Söhne aus wohlhabendem Adel oder reichem Kaufmannsstand erheblich leichter. Kant aber musste viele materielle Lebenshärten durchlaufen. Als Student versetzte er seine Kleider und verkaufte am Ende sogar seine Büchersammlung, wenn Hunger und Geldmangel zu groß wurden. Auch seine Herkunft hat er nie vergessen. Im Gegenteil war er stolz auf den Handwerkerstand seiner Eltern. Moralisch betrachtet hätte seine Erziehung gar nicht besser sein können, betonte er bis ins hohe Alter (siehe Kühn, S. 59). Trotzdem muss es eine bittere Erfahrung gewesen sein, besonders für den jungen Kant, nicht bürgerlich solide heiraten zu können, keine Familie oder einen ordentlichen Hausstand gründen zu können. – Vorausgesetzt, er hatte die Absicht dazu. Aber selbst ohne Absicht ist es für einen jungen Menschen deprimierend, aus ökonomischen Gründen nicht einmal darüber nachdenken zu dürfen. Nur mündlich, aber übereinstimmend überliefert ist ein halb komischer, halb tragischer Spruch von Kant, der sein Verhältnis zu Frauen biografisch auf den Punkt bringt: „Als ich eine Frau habe brauchen können, konnte ich keine ernähren. Und als ich eine ernähren konnte, habe ich keine mehr brauchen können.“

Leider wissen wir nicht, was der junge Kant über Frauen wirklich dachte. Erst rückblickend, mit 40, äußert sich Kant deutlich und zusammenhängend zum Thema Geschlechtsliebe. (Im „Dritten Abschnitt“ seiner „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“.) Grundsätzlich vertritt er einen realistischen, auch psychologisch durchdachten Standpunkt: „Die Natur verfolgt ihre große Absicht, und alle Feinigkeiten, die sich hinzugesellen, sie mögen nun so weit davon abzustehen scheinen, wie sie wollen, sind nur Verbrämungen und entlehnen ihren Reiz doch am Ende aus eben derselben Quelle.“ (AA II, S. 235) Dabei unterscheidet Kant in der Herangehensweise der Männer (Frauen werden nur passiv, bestenfalls kokettierend gedacht) den „gesunden und derben Geschmack“ vom „feinen Geschmack“. Der gesunde und derbe Geschmack „… wird durch die Reize des Anstandes, der Gesichtszüge, der Augen etc. etc. an einem Frauenzimmer wenig angefochten, und indem er eigentlich nur aufs Geschlecht geht, so sieht er mehrenteils die Delicatesse anderer als leere Tändelei an.“ (AA, II, S. 335). Das sei gewiss kein feiner, aber dennoch nicht verächtlicher Geschmack: „Denn der größte Teil der Menschen befolgt vermittelst desselben die große Ordnung der Natur auf eine sehr einfältige und sichere Art.“ (AA II, S.335) Kant kann Ironie. Die kritische Distanz lässt leicht erraten, dass er sich natürlich zur Partei des „feinen Geschmacks“ zählt. Dieser lässt sich nicht allein vom Geschlechtstrieb bestimmen. Ein „proportionierlicher“ Körperbau und regelmäßige Gesichtszüge sind „… lauter Schönheiten, die auch an einem Blumenstrauße gefallen und einen kalten Beifall erwerben“ (AA, II, S. 236). Und unser Philosoph beklagt sich ausführlich über „dergleichen schöne Geschöpfe“, die „leichtlich in den Fehler der Aufgeblasenheit verfallen durch das Bewusstsein der schönen Figur, die ihnen ihr Spiegel zeigt, und aus einem Mangel feinerer Empfindungen; da sie dann alles gegen sich kaltsinnig machen, den Schmeichler ausgenommen, der auf Absichten ausgeht und Ränke schmiedet.“ (AA II, S. 237) Er spricht zwar aus der Sicht eines abgebrühten Gesellschaftsmenschen, aber vielleicht auch aus eigener Erfahrung mit Schönheiten, die ihm, dem kleinen, verwachsenen und mittellosen Gelehrten, der außer Geist nichts zu bieten hat, die kalte Schulter gezeigt haben. Der autobiografische Bezug wird noch deutlicher, wenn Kant über die Glücksaussichten nachsinnt, die den derben Geschmack eindeutig begünstigen. Der führe nämlich geradlinig „zum großen Zwecke der Natur“ und mache „ohne Umschweife glücklich“, solange der Trieb nicht in „Ausschweifung und Lüderlichkeit“ ausarte. Ein „sehr „verfeinigter Geschmack“ dagegen kann zwar „einer ungestümen Neigung die Wildheit“ nehmen, kann den Trieb ins Sittsame und Anständige sublimieren – aber dieses feine Empfinden „verfehlt gemeinglich die große Endabsicht der Natur“, weil es durch seine Idealisierung mehr einfordert, als die Natur wirklich leisten kann. Und so „pflegt sie (die Natur, GB) die Person von so delicater Empfindung sehr selten glücklich zu machen.“ (A II, S.238) Deshalb bleibt der „sehr verfeinigte Geschmack“ in einer „grüblerischen“ Haltung. Seine verliebte Neigung verziert er mit allen edlen und schönen Eigenschaften, „welche die Natur selten in einem Menschen vereinigt und noch seltner demjenigen zuführt, der sie schätzen kann und der vielleicht eines solchen Besitzes würdig sein würde. Daher entspringt der Aufschub und endlich die völlige Entsagung auf die eheliche Verbindung.“ (AA II, S. 239) Das ist ein glattes Geständnis: Kant fühlt sich im Verhältnis zu Frauen todunglücklich. Er ist auch nicht der erste deutsche Schriftsteller, der seine ärmliche ökonomische Situation mit den höheren Weihen der Empfindung und des Geschmacks schönredet. Kant beschwört sogar die Autorität der „Naturabsicht“, die leider den derben Geschmack bevorzugt. Wenn es überhaupt Frauen gibt, die dem hohen Ideal nahekommen, dann muss die philosophische Einsicht hinnehmen, dass sie sich der Natur gemäß für den derben Bewerber entscheiden. Also nicht für Bewerber wie Kant. - Doch die Überkompensation der Realität durch Idealität bleibt nur ein Teilaspekt von Kants Ehelosigkeit. In der zweiten Lebenshälfte hätte er durchaus heiraten können, es war finanziell machbar und der Philosoph wurde immer bekannter, ja berühmt. Aber laut eigener Aussage brauchte er jetzt keine Frau mehr, obwohl er eine hätte „ernähren“ können. Aber warum eigentlich brauchte er keine? Gerade Kant hätte doch eine fürsorglich pflegende Ehefrau und Köchin sehr gut brauchen können. Meines Erachtens blieb er vor allem deshalb Junggeselle, um möglichst ungestört seiner Arbeit nachzugehen. Wir haben oben schon geschildert, wie die braven Königsberger Familienväter Kant genau diese Motivation unterstellten, ja ihn um seine freie Gelehrtenexistenz tatsächlich beneideten. Und wir erinnern uns: Kant wollte der restlichen Lebenszeit unbedingt noch die Vollendung seines philosophischen Werks abringen. Jede noch verbleibende Kraft konzentrierte sich ausschließlich darauf. Die Philosophie wurde zu seiner einzigen Braut. In der ersten Lebenshälfte vielleicht unfreiwillig, aufgrund ökonomischer Zwänge. Danach aber wollte und konnte er von dieser einzigen Geliebten nicht mehr lassen. Es ist keineswegs das angeblich unerreichbare Frauenideal, es ist vielmehr Kants existenziell ernsthaftes philosophisches Ideal, das letztlich das Fehlen einer ehelichen Verbindung herbeigeführt hat. Aus Sicht des vom eigenen Werk besessenen Workaholics war eine bezahlte Köchin und Dienerschaft schlicht zeitsparender und nervenschonender als eine Aufmerksamkeit heischende Ehefrau. Man sollte sich Kant auch nicht einseitig als einen tragisch vereinsamten Junggesellen vorstellen. Im Gegenteil genoss er das Alleinsein bewusst als Vorzug. Als Institution hat er die Ehe zwar nie angegriffen. Aber er behauptete unmissverständlich, „… dass unverehelichte alte Männer mehrenteils länger ein jugendliches Aussehen erhalten, als verehelichte. Sollten wohl die letztern an ihren härteren Gesichtszügen den Zustand eines getragenen Jochs verraten?“ (zit. n. Weischedel, S. 182)

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Zu Kants Frauenbild gehört noch sein liebevolles Verhältnis zur Mutter, die ihm sicherlich viel Sympathie für das weibliche Geschlecht und die weibliche Sicht der Dinge eingeflößt hat. Anna Regina Kant (1697 – 1737), geborene Reuter, war die Tochter eines Königsberger Riemermeisters. 1715 heiratete sie den aus Tilsit stammenden Johann Georg Kant (1683 – 1746), der sich, ebenfalls als Riemermeister, in Königsberg niederließ. Der kleine Handwerksbetrieb stellte Geschirre für Kutschen, Pferde oder Schlitten her; auch für die Ausstattung der Kutschen waren die „Riemer“ zuständig. Irrigerweise wird in manchen Kant-Darstellungen sein Vater als „Sattlermeister“ bezeichnet: Die Sattler-Zunft stand aber in Konkurrenz zur Riemer-Zunft, weil sich deren Gerätschaften und Arbeitsprozesse ziemlich ähnelten. Johann Georg Kant musste noch erleben, wie ihm die Sattler immer mehr Kunden wegschnappten und sein Gewerbe schrittweise überflüssig machten. Lassen wir also den armen Riemern den Ruhm, dass der große Philosoph einer der Ihren ist. - Für das Verständnis Kants ist es wichtig, wie sehr seine Eltern in dieser Handwerkstradition verwurzelt sind: Pünktliche Pflichterfüllung, Ehrlichkeit und harte Arbeitsmoral wurden ihm täglich vorgelebt. Verbunden mit dem Bewusstsein der Unabhängigkeit und einem stolzen Bürgersinn. Kant lobt besonders, dass seine Eltern in seiner Gegenwart nie etwas Unwürdiges getan oder ein unanständiges Wort gebraucht hätten. Kultivierend für das Innenleben Kants war aber vor allem die undogmatische, auf moralische Rechtschaffenheit und zarte Empfindsamkeit gegründete Religiosität der Mutter. Ehregott Andreas Christoph Wasianski (1755 – 1831), ein ehemaliger Schüler und Assistent, später der Testamentsvollstrecker Kants, sagt über Kants Mutter:

"Sie hatte ihre Anlagen selbst nicht vernachlässigt und besaß eine Art von Bildung, die sie wahrscheinlich sich selbst gegeben hatte. Sie schrieb, nach dem Wenigen zu urteilen, was ich als Familiennachrichten von ihrer Hand aufgezeichnet sah, ziemlich orthographisch. Für ihren Stand und ihr Zeitalter war das viel und selten. (…)
Sie wusste bei ihrem Erziehungsgeschäft Annehmlichkeit mit Nutzen zu verbinden, ging mit ihrem Manelchen (so verstümmelte mütterliche Zärtlichkeit den Namen Immanuel (…)) oft ins Freie, sie machte ihn auf die Gegenstände in der Natur und manche Erscheinungen in derselben aufmerksam, lehrte ihn manche nützlichen Kräuter kennen, erzählte ihm sogar vom Bau des Himmels so viel, als sie selbst wusste und bewunderte seinen Scharfsinn und seine Fassungskraft." (Lebensbild, S. 342f.)

Hier herrscht der Durst nach Wissen und Bildung, ein offener Zugang zu Welt und Natur. Zwar fühlten sich die Kants (wie der Königsberger Handwerker-Stand insgesamt) der protestantischen Bewegung des Pietismus zugehörig. Aber die Erziehung im Elternhaus wird nicht vom Katechismus oder Glaubensformeln bestimmt. „Nach Kants Urteil war seine Mutter eine Frau von großem, natürlichem Verstande, den ihr Sohn als mütterliches Erbteil von ihr erhielt, einem edlen Herzen und einer echten, durchaus nicht schwärmerischen Religiosität.“ (Lebensbild, S. 342) – Es ist gewiss, dass er von keiner gefühlskalten Mutter tyrannisiert oder seelisch verbogen wurde. Auch pflegten beide Elternteile einen respektvollen Umgang miteinander. Es gibt demnach keinen stichhaltigen Grund, warum Kant ein negatives Bild von Frauen oder dem Geschlechterverhältnis hätte entwickeln sollen: „Johann Georg und Anna Regina waren gute Eltern. Sie kümmerten sich um ihre Kinder, so gut sie konnten. Wenn es etwas gibt, das wir von Kants Jugend wissen, dann dies, dass er ein behütetes Leben führte.“ (Kühn, S. 48) - Als Immanuel Kant am 22. April 1724 geboren wurde, war er das vierte von insgesamt 9 Kindern. Vier davon verstarben früh, zwei vor, zwei nach Kants Geburt. Kinderreichtum bei gleichzeitig hoher Kindersterblichkeit war im 18. Jahrhundert nicht ungewöhnlich. Das Leben für Handwerkerfamilien, die zum „niederen Bürgerstand“ zählten, war gelinde gesagt aufreibend. So verlor Kant seine Mutter schon im Alter von 13 und mit 22 den Vater. Die Lebensverhältnisse eigneten sich nicht für theologische Spekulationen oder ethische Theorien. Allein das praktische moralische Verhalten zählte. Verstöße gegen Anstand und Rechtschaffenheit kosteten nicht nur den guten Ruf, sondern auch das Geschäft und damit die materielle Lebensgrundlage. Die arbeitsreiche Alltagspraxis offenbarte schnell und schonungslos, ob ein Mensch Charakter und echtes Christentum in sich trug. Noch bis ins Alter und bis hinein in seine reife Religionsphilosophie hat Kant an dieser Grundeinstellung festgehalten –

"Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes."
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) (AA VI, S. 170)

Vom Religionswahn blieb Kant im Elternhaus verschont. Die Erinnerung an die heimische Erziehung ist durchweg positiv. Ganz anders erging es Kant mit der Schule. Wohl auf Anraten des Theologen und Schulreformers Franz Albert Schulz (1692 – 1763) kam der hochbegabte Kant im Alter von 8 Jahren auf das Collegium Fridericianum, ein stramm pietistisches Gymnasium, das vor allem auf ein Theologiestudium vorbereiten sollte. Diese Schule, 1701 gegründet und vom König unter persönlichen Schutz gestellt, war eine sehr angesehene Bildungseinrichtung, aus der hohe Amtsträger in der lutherischen Kirche oder der staatlichen Verwaltung hervorgingen. Für Kant war die Aufnahme im Collegium Fridericianum zweifellos eine seltene Möglichkeit zum sozialen Aufstieg. Von 1732 bis 1740, also auch die entscheidenden Pubertätsjahre, war er dort Schüler. Der Schriftsteller und Staatsmann Theodor Gottlieb von Hippel (1741 – 1796), selbst ein ehemaliger Schüler am Collegium Fridericianum und mit Kant zeitlebens befreundet, hat uns überliefert, was der Philosoph über seine Schulzeit dachte: „Herr Kant, der diese Drangsale der Jugend auch in vollem Maße empfunden hatte, (…) pflegte zu sagen, dass ihn Schrecken und Bangigkeit überfiele, wenn er an jene Jugendsklaverei zurückdachte.“ (Zit. n. Kühn, S. 63) Dabei habe Kant sogar noch Glück gehabt, meinte Hippel: Da er in Königsberg seinen Wohnsitz hatte, durfte er außerhalb der Schulzeiten nach Hause. Und so pendelte der Junge tagtäglich zwischen zwei Welten hin und her - der „echten“ mütterlichen Religiosität zu Hause und dem Religionswahn in der Schule. Ein Mitschüler Kants bezeichnete das Collegium in einem Brief an den Philosophen sogar als „strenge Zucht der Fanatiker“. (Kühn, ibd.) Was Kant dort vermisste, war wohl in erster Linie geistige Freiheit, aber auch Freiheit von Zwängen überhaupt. In seiner Pädagogik (herausgegeben 1803) schreibt er:

"Eine Religion, die den Menschen finster macht, ist falsch; denn er muss Gott mit frohem Herzen und nicht aus Zwang dienen. Das fröhliche Herz muss nicht immer strenge im Schulzwange gehalten werden, denn in diesem Falle wird es bald niedergeschlagen. Wenn es Freiheit hat, so erholt es sich wieder. (…) Viele Leute denken, ihre Jugendjahre seien die besten und die angenehmsten ihres Lebens gewesen. Aber dem ist wohl nicht so. Es sind die beschwerlichsten Jahre, weil man da sehr unter der Zucht ist; selten einen eigentlichen Freund und noch seltener Freiheit haben kann." (AA IX, S. 485)

Das wirft kein gutes Licht auf das Collegium Fridericianum, das hier sicherlich mitgemeint ist. Man kann auch erahnen, wie einsam sich Kant als Schüler fühlte, wie drückend die „Zucht“ auf ihm lastete. Weit schlimmer noch mochten die Konsequenzen des Religionswahns für Kants Verhältnis zu Frauen und zur sinnlichen Liebe sein: Auf einer Schule, wo der religiöse Eifer den Inhalt des Unterrichts und die Disziplinierung der Schüler bestimmt, gibt es keinen Spielraum für sinnliche Vergnügungen, die der Pietismus rundweg als Teufelswerk verdammt. Nein, man lernte lieber Luthers „Kleinen Katechismus“ und „Großen Katechismus“ auswendig. Man lernte eigens Hebräisch und Altgriechisch, um das Alte und Neue Testament im Original zu lesen. Selbst der Geschichtsunterricht befasste sich nur mit dem Alten und Neuen Testament. Im Übrigen paukte man Latein bis zum Umfallen. Alles im Rahmen einer 6-Tage-Woche, von 7:00 bis 16:00 Uhr. Danach umfangreiche Hausaufgaben bis in den späten Abend. Und am Sonntagmorgen Gottesdienst mit anschließendem Religionsunterricht. In Wirklichkeit also eine 7-Tage-Woche. Da freie Zeit nur auf sündige Gedanken bringt, war also dafür gesorgt, dass die Schüler erst gar keine Freizeit hatten. Selbst die Ferien wurden auf wenige Tage begrenzt: Ostern, Pfingsten, Weihnachten, das war’s. Damit nicht genug: Die pietistische Pädagogik forderte ganz offiziell, dass „der natürliche Eigenwille“ der Schüler wortwörtlich zu „brechen“ sei, dass die „Beugung des Willens unter den Gehorsam“ höchste Priorität genieße. (Vgl. Kühn, S. 70f.) Dieses Ziel sollte weniger durch Prügelstrafe, die es auch gab, sondern vielmehr durch die Verlegung des Prügelstocks ins eigene Bewusstsein erreicht werden. So musste Kant vor jeder Teilnahme am Abendmahl einen Bericht verfassen, der „über den Zustande seiner Seele“ (ebd.) genaue Auskunft gab. Dieser Bericht wurde dann mit den internen Berichten der Lehrkräfte abgeglichen. Waren die Abweichungen zu groß, wurde man vom Abendmahl ausgeschlossen und erhielt Strafarbeiten. Eine totale Überwachung und Kontrolle des Innenlebens also, ständig mit Blick auf die verschiedenen Stadien der religiösen Erleuchtung: Nach der Willensbrechung nämlich folgt der „Bußkampf“ und schließlich der „Durchbruch“ zu einer radikalen Bekehrung, die nur durch Gottes Gnade zu erringen ist. Die logische Konsequenz war Heuchelei, indem die Schüler lernten, genau diejenigen religiösen Empfindungen vorzugaukeln, die von ihnen erwartet wurden. So hat es der späte Kant gesehen. Er selbst hat wohl keine Erweckungsgefühle vorgespielt, was den Bekehrungsdruck auf ihn erhöht hat. Als Philosoph war er rückblickend empört, dass der Pietismus den freien Willen und die sittliche Autonomie des Individuums leugnet. Ein Mensch, der sich zum Guten wendet, braucht keinen übersinnlichen Gnadenakt Gottes, sondern selbstgewählte vernünftige Grundsätze, die er praktisch befolgen muss. Man könne den Menschen „nicht von allem Selbsttun lossprechen“ und behaupten, dass eine Bekehrung etwas sei, „wozu der Mensch aus eigenen Kräften nicht gelangen kann.“ (AA VII, S.56) Auch erregt es Kants Zorn, mit welcher Arroganz dogmatischer Fanatismus auftritt, nämlich „die phantastische und bei allem Schein der Demut stolze Anmaßung sich als übernatürlich-begünstigte Kinder des Himmels auszuzeichnen.“ (AA VII, S. 57.) –– Kants gesamte Schulzeit und Pubertät standen somit unter dem Einfluss einer sinnenfeindlichen Theologie, was wiederum erklären könnte, warum er später im Leben Frauen so übertrieben idealisierte, sinnlich aber auf Distanz blieb. Warum er später nur platonisch-pädagogische, am Ende also körperlich distanzierte Verhältnisse zum weiblichen Geschlecht kultivierte. - Seinen Kopf allerdings wusste Kant schon als Schüler zu retten: Er entfloh dem religiösen Druck ins Reich der antiken römischen Dichtung. Lukrez, Horaz, Seneca oder Vergil öffneten ihm eine andere Welt. Sie waren sein einziges wirkliches Vergnügen. Und weil er ein überragender Lateiner und überhaupt ein guter Schüler war, wurde er wohl selten zur Zielscheibe von Bestrafungen. Überliefert ist nur, dass er ein einziges Mal seine Bücher vergessen hatte, wofür er bestraft wurde. Intellektuell jedenfalls ließ er sich vom religiösen Einfluss nicht „brechen“. Aber wie der heranwachsende Junge seelisch klargekommen ist, welch schädliche Konsequenzen der Religionswahn für die Entwicklung einer gesunden Libido hatte, bleibt eine bedenkenswerte Frage. Oben sahen wir, wie nicht nur Kant, sondern die Mehrzahl der Intellektuellen des 18. Jahrhunderts zur Idealisierung der Frauen neigte. Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass sie als pubertierende Jünglinge schlicht zu wenig Kenntnis des anderen Geschlechts hatten. Was man begehrt und nicht kennt – das idealisiert man. Sie waren am Ende Gefangene eines Bildungssystems, eben weil dieses System Frauen ausgrenzte. Nicht von Ungefähr schließt Kant-Biograf Manfred Kühn sein Kapitel über Kants Schuljahre mit folgendem Zusatz:

"Man sollte noch hinzufügen, dass in Kants Jugend Männer und Frauen in Königsberg ein voneinander abgesondertes Leben führten und die Atmosphäre ziemlich prüde war. So war selbst ‚schwanger‘ ein Wort, das junge Frauen nicht gebrauchen konnten oder sollten, und vorn oder hinten einen großen Halsausschnitt zu zeigen war streng verboten. Die Schulbildung war besonders in der Handwerkerklasse auf Männer beschränkt. Für Mädchen war es ungewöhnlich, dass sie über die elementaren Grundlagen des Lesens, Schreibens und Rechnens hinaus eine nennenswerte Schulbildung erhielten. Das Ensemble „Kinder, Küche, Kirche“ definierte tatsächlich weitgehend das Leben von Frauen. Dementsprechend hatte Kant wie fast alle seine Zeitgenossen in seiner Jugend wenig Gelegenheit zu gesellschaftlichem Umgang mit dem anderen Geschlecht."
Manfred Kühn, Kant. Eine Biographie, S. 74

Nach dem Collegium Fridericianum immatrikuliert sich Kant im September 1740 an der Universität Königsberg. - Ebenfalls eine reine Männerdomäne, wo er seine restlichen Jünglingsjahre verbringt.

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Mit etwas Mühe um historische Sorgfalt entpuppt sich Kant zwar nicht als Frauenfeind. Seine Ansichten über Frauen sind trotzdem erschreckend fantasielos, ein billiger Abklatsch der diskriminierenden Vorurteile seiner Epoche. Ähnliches gilt für Kants rassistische Äußerungen. Hassreden gegen Fremdkulturen hat er nicht gehalten. Trotzdem hat er die unerträgliche Überheblichkeit der weißen Europäer kritiklos übernommen und damit indirekt der Sklaverei und kolonialen Ausbeutung das Wort geredet. – Man könnte jetzt die Akten schließen, sich zurücklehnen und Kants Vorurteile mit dem Zeitgeist entschuldigen:

"Die Menschen sind als Organe ihres Jahrhunderts anzusehen, die sich meist unbewusst bewegen."
Goethe, Maximen und Reflexionen (1833 publiziert)

Keine Erkenntnis könnte plausibler sein, als dass der Mensch ein Kind seiner Zeit ist. Nach Hegel wäre sogar die Philosophie selber nur „ihre Zeit in Gedanken erfasst“. Aber weitreichend zutreffende Einsichten sind noch lange keine absoluten Wahrheiten. Was folgt eigentlich daraus, wenn der Mensch tatsächlich „organisch“ - also total integriert - in seiner Zeit aufgeht? Die Konsequenz ist eine vollständige Immunisierung gegen Kritik aus späteren Epochen. Jeder „große Mensch“ erhält sofort einen vom Zeitgeist autorisierten Freibrief für intellektuelle und moralische Entgleisungen aller Art -

"Die größten Menschen hängen immer mit ihrem Jahrhundert durch eine Schwachheit zusammen."
Goethe, Maximen und Reflexionen (1833 publiziert)

Historische Betrachtungen neigen schon von sich aus eher zur Nachsicht: Je mehr wir in die ökonomischen, sozialen, religiösen, psychologischen und politischen Bedingungen seiner Zeit vorstoßen, desto entschuldbarer, ja unvermeidlicher erscheinen uns Kants intellektuelle Tiefflüge. Alles verstehen heißt alles verzeihen, so sagt es ein schönes Sprichwort. Um nicht in diese Falle zu tappen, gibt es drei einfache Mittel: Hat es, erstens, in und vor der Zeit Kants schon Ansichten gegeben, die der Frauendiskriminierung und dem rassistischen Denken klar widersprechen? Lag es sozusagen in den Denkmöglichkeiten der Epoche, die eigenen Vorurteile in Frage zu stellen? Zweitens: Lag es in den Denkmöglichkeiten Kants selber, es viel besser wissen zu können, wenn er es hätte wissen wollen? Und drittens: Gibt es einen Bezug der Epoche Kants zu unserer Zeit, einen Bezug, der uns etwas angeht und uns berechtigt, Kant hart zu kritisieren? Diese Fragestellungen haben gemeinsam, dass sie eine Epoche eben nicht als einheitliche, hermetisch geschlossene Welt betrachten, über die kein Individuum auch nur einen Fingerbreit hinausgelangen kann.

(c) 2024 Günter Bachmann

3.1.Denkmöglichkeiten der Epoche

Was die Denkmöglichkeiten von Kants Epoche betrifft, wird schnell klar, dass die Idee der Gleichberechtigung von Frau und Mann im 18. Jahrhundert zumindest bekannt war. Schon im Spätmittelalter und der Renaissance gab es Diskussionen über die Stellung der Frau in der Gesellschaft. Fairerweise muss man zugeben, dass es dort mehr um die Zementierung der Ungleichheit der Geschlechter ging. Eine Ungleichheit, die theologisch wie juristisch als gottgewollte Geschlechterhierarchie erst einmal gerechtfertigt werden musste. Dennoch war der Weg zu einer rational geführten Streitfrage eröffnet worden. Auch erhoben sich erstmals weibliche Gegenstimmen: Christine de Pizan (1364 – 1429) schrieb das vermutlich erste feministische Werk der europäischen Literaturgeschichte: „Das Buch von der Stadt der Frauen“ (Le Livre de la Cité des Dames (um 1405)). Noch deutlicher und zeitlich näher findet man Stimmen für die Frauenemanzipation im französischen Rationalismus des 17. Jahrhunderts: „Die Vernunft hat kein Geschlecht!“, schrieb Francois Poullain de la Barre (1647 – 1723). Dieser Philosoph folgte entschlossen seinem Lehrer René Descartes (1596 – 1650): Die Welt besteht aus zwei strikt getrennten „Substanzen“: der ausgedehnten körperlichen Substanz (res extensa) und der rein denkenden geistigen Substanz (res cogitans). Beide folgen ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Und das Rätsel, wie Geist und Körper aufeinander einwirken können, wenn sie doch völlig unterschiedlichen Seinsweisen angehören, hat bei Generationen von Philosophen enorme Kopfverrenkungen verursacht. F.P. de la Barre aber nutzt diesen Gegensatz zwischen Denken und Körper, um die Gleichberechtigung der Frauen massiv einzufordern: Geschlechtsunterschiede gehören eindeutig zur „ausgedehnten“ körperlichen Substanz. Diese Kategorien sind aber nicht auf das unkörperliche geistige Denken anwendbar. „Die Vernunft hat kein Geschlecht“ heißt also im Klartext: Frauen können jede Position in einer zivilisierten Gesellschaft genauso vernünftig und genauso gut ausüben wie Männer. Die Geschlechtsunterschiede werden nur durch männlich dominierte Gesellschaften und deren Erziehungssystem verursacht. In mehreren Abhandlungen (z.B. De L’Égalité des deux sexes (1673)) forderte er die absolute Gleichstellung der Geschlechter. Aber zu seiner eigenen Verblüffung erregte er mit seinen damals unerhört radikalen Forderungen keinerlei Aufmerksamkeit. - Die Zeitspanne zwischen dem 14. und 17 Jahrhundert hat aber immerhin die ersten zarten Blüten der Frauenemanzipation hervorgebracht, und zwar auf französischem Boden, von dem sie sich dann über ganz Europa verbreiteten. (Ende des 19. Jahrhunderts erfanden die Historiker für diese ersten Gehversuche des Feminismus die Bezeichnung „Querelle des femmes“.) Auch die Zeit Kants verblieb weitgehend auf diesem kargen Diskussionsstand. Die Gleichberechtigung der Frau war kein in die Breite der Gesellschaft wirkendes Thema – auch nicht in der neu entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. Das änderte sich allerdings schlagartig mit der Französischen Revolution und der Deklaration der Menschenrechte im Jahr 1789. Das neue Ideal der Gleichheit und Freiheit des Individuums verlieh der Frauenemanzipation einen entscheidenden Schub: „Die Frau wird frei geboren und bleibt dem Manne gleich in allen Rechten“, schrieb 1791 die Revolutionärin und Schriftstellerin Olympe de Gouges (1748 – 1793) im ersten Artikel ihrer „Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin“. Man habe zwar die Standesschranken abgeschafft, aber das Gleichheitsprinzip gelte wohl nur für Männer. Tatsächlich legte de Gouges ihre „Déclaration des droits de la Femme“ dem Nationalkonvent vor, um die politische und rechtliche Gleichstellung der Frauen durchzusetzen. Damit scheiterte sie, machte aber die Forderung nach konkreten Frauenrechten zu einer gesellschaftlich bedeutsamen Diskussion. Auch der kulturelle und literarische Diskurs über Frauenrechte gewann plötzlich mehr Resonanz. Die englische Schriftstellerin Mary Wollstonecraft (1759 – 1797) schrieb 1792 "A Vindication oft the Rights of Woman" („Verteidigung der Rechte der Frau“), einen Bestseller, der europaweit Beachtung fand. Fest steht: Erst nach der Französischen Revolution treten immer mehr Frauenrechtlerinnen auf, die wirklich gehört werden. Besonders heftig attackiert wurde das Bildungssystem, das Frauen auf den häuslichen Wirkungskreis begrenzte und ihre Teilhabe am Berufsleben ausschloss. Genau jenes Bildungssystem also, das Kant mit seinen Idealen vom „Schönen“ und „Erhabenen“ ästhetisch verbrämte und als angebliche Naturabsicht rechtfertigte. Dabei war doch gerade Kant ein glühender Verfechter der Französischen Revolution: „Auf die Zeitungen war er in manchen kritischen Zeitpunkten so begierig, dass er der Post wohl meilenweit entgegengegangen wäre, und man konnte ihn mit nichts mehr erfreuen als mit einer authentischen Privatnachricht.“ (Lebensbild, S. 88) Dass der sehr gut vernetzte und informierte Kant von den Gleichheitsforderungen der Frauen etwas mitbekommen haben muss, ist sehr wahrscheinlich. Ganz sicher aber hat er vom oben erwähnten Theodor Gottlieb Hippel (seit 1790 „von“ Hippel) erfahren, wie die Französische Revolution auch das Frauenbild revolutionieren muss: „Frankreich, wo jetzt alles gleich ist, ließ unser Geschlecht unangetastet“, sagt Hippel in seiner Abhandlung Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (1792). Bei der „weltgepriesenen allgemeinen Gleichheit“ habe man ein ganzes Geschlecht vernachlässigt:

"Lasst uns auf den Zeitpunkt uns freuen, wo der Tag der Erlösung für das schöne Geschlecht anbrechen wird, wenn man Menschen, die zu gleichen Rechten berufen sind, nicht mehr in der Ausübung derselben behindert."
Hippel, Über die bürgerliche Verbesserung der Weiber (S. 12)

Hippel war ein früher und herausragender Wegbereiter der Frauenemanzipation. In der dritten Auflage seines Buches "Über die Ehe" (1793) legte er nochmals nach und entwarf ein gleichberechtigtes, partnerschaftliches, sich gegenseitig unterstützendes Geschlechterverhältnis. – Alles zu einer Zeit, da Kant zwar gealtert, aber geistig immer noch wach und produktiv war. Hippel war auch regelmäßiger Gast bei Kants berühmten Tischgesellschaften. Ja Kant selbst bezeichnete ihn als „meinen vertrauten Freund“ (AA, XII, S. 361). Diese Tafelrunden waren reine Männergesellschaften, die sich ungezwungen über alle gesellschaftlichen Themen austauschten. Mit Sicherheit auch über Frauen, denn welche reine Männergesellschaft spricht nicht über sie? Zwar wurde nie direkt über Hippels Bücher gesprochen – weil Hippel nur anonym schrieb und seine Autorschaft unbedingt geheim halten wollte. Doch war es in Kants Umfeld sonnenklar, wer der Verfasser des „Buchs über die Ehe“ (AA XII, S. 360) war. Kant erläutert: „Daraus ist auch erklärlich, wie dieser mein vertrauter Freund in unserm engen Umgange doch über seine Schriftstellerei (Autorschaft, GB) in jenen Büchern nie ein Wort fallen lassen, ich selber aber aus gewöhnlicher Delikatesse ihn nie auf diese Materie habe bringen mögen.“ (XII, S. 361) Hippel wollte nicht als Schriftsteller bekannt sein. Immerhin war er der Oberbürgermeister Königsbergs, der Hauptstadt Ostpreußens, und nur dem König unterstellt. Dazu war er Direktor des königlichen Kriminalgerichts und Polizeidirektor. Friedrich der Große persönlich hatte den glänzenden Juristen von Anfang an gefördert. Hippel schrieb jedoch als Dichter eine satirisch spitze Feder und vertrat so fortschrittliche und revolutionäre Ansichten, dass er heftige politische Anfeindungen befürchtete, wenn er als Autor aufflog. – Übrigens hätte er sich auch als Dichter locker einen rühmlichen Namen machen können. Er schrieb erfolgreiche Lustspiele und tat sich besonders mit dem vierbändigen Romanwerk "Lebensläufe nach aufsteigender Linie" (1778- 1781) hervor. Im zweiten Teil parodierte er sogar Kant, bei dem er Philosophie studiert hatte. Hippel, geboren 1741, gehört also zur Kant schon nachfolgenden Generation – genau wie die neuen Frauenrechtlerinnen, die nach 1789 über Frauenemanzipation publizierten. Hat Kant demnach Hippels Frauenbild als neumodischen Unfug der Jungen abgetan? Wir wissen es nicht. Jedenfalls ist Kant nie über das Frauenbild hinausgelangt, mit dem er sozialisiert wurde, auch nicht in seinen späten, im Nachlass befindlichen „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen“ (AA, Band XX). Obwohl er Hippel so nahestand, hat er nichts Weitergehendes über Frauen denken können und ragt in diesem Punkt tatsächlich keinen Millimeter über das Zeitalter vor der Revolution hinaus. Und selbst diese vorrevolutionäre Zeit hatte bereits Erkenntnisse, die zukünftiger waren als das Frauenbild Kants. Überhaupt ist der auffällige Unterschied zwischen Kant und Hippel sozialpsychologisch höchst interessant: Genau wie Kant ist Hippel in Ostpreußen geboren, in Gerdauen, etwa 70 Kilometer von Königsberg entfernt. Wie Kant wuchs er in einem pietistischen Elternhaus auf. Sein Vater gehörte als Dorfschullehrer ebenfalls dem niederen Bürgerstand an. Und wie Kant besuchte er das Collegium Fridericianum und die Universität Königsberg und hielt sich als Hauslehrer über Wasser. Dennoch – welch unterschiedliche Denkweisen über Frauen! Sozialpsychologische Erklärungsmodelle haben Grenzen. Die Umstände sind das eine, das sittlich autonome und freie Individuum das andere. Jedenfalls laut Kant. Umso weniger können wir ihn von der Verantwortung für seine selbstverschuldeten Vorurteile freisprechen.

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Ein ähnliches Bild zeichnet sich beim rassistischen Denken ab. Schon im 17. Jahrhundert formierte sich scharfer Protest gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel, bevorzugt in den puritanischen Kirchen Nordamerikas: Quäker, Baptisten, Mennoniten, Methodisten etc. erklärten entschieden, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. Der Baptist Roger Williams schaffte 1652 in der Kolonie Rhode Island die Sklaverei sogar vorübergehend ab. Erst 1787 setzte dann ein breites Bündnis aus puritanischen Bewegungen ein offizielles kirchliches Verbot durch. Auch in Europa ist in den protestantischen Strömungen abseits der lutherischen Amtskirche die Sklaverei verpönt. Allerdings erst im 18. Jahrhundert, also gut ein Jahrhundert später als in Nordamerika. Besonders die mächtige Bewegung des Evangelikalismus, der sich auf den deutschen Pietismus, den englischen Methodismus und diverse Erweckungsbewegungen gründete, inspirierte und unterstützte die europäische Anti-Sklaverei-Bewegung. Als Thomas Clarkson und Granville Sharp 1787 in London ihre „Gesellschaft zur Abschaffung der Sklaverei“ („Abolitionisten“) gründeten, wurden sie mehrheitlich von Quäkern unterstützt. Der berühmte politische Vorkämpfer für die Anti-Sklaverei-Bewegung, der britische Abgeordnete William Wilberforce (1759 – 1833), hatte sogar selbst ein „Erweckungserlebnis“ und arbeitete mit Methodisten und Quäkern zusammen. 1792 erreichte er einen formellen Parlamentsbeschluss gegen Sklaverei im Unterhaus. Erst 1807, nach zahllosen Anläufen, schafft er es, das gesamte Parlament zu überzeugen und den britischen Sklavenhandel abzuschaffen („Slave Trade Act“).

Ungeachtet der Herablassung gegenüber heidnischen Fremdkulturen kann es Kant nicht verborgen geblieben sein, dass in vielen christlichen Glaubensgemeinschaften keine rassistische Hierarchie für das Seelenheil akzeptiert wurde. Zumal der Pietismus beharrte auf der innerlichen Beziehung jeder Einzelseele zu Gott. Gerade in dieser Individualität und Innerlichkeit liegt ein absoluter Wert, der für alle gläubigen Christen gilt. Wir können heute zwar nicht mehr in den Unterricht am Collegium Fridericianum hineinhören; aber es ist unwahrscheinlich, dass Kant in dieser vorbildlichen Pietisten-Schule seine rassistischen Vorurteile erlernt hat.

Grundsätzlich sind Fragen des Rassismus und des Sklavenhandels genau wie die Frauenrechte erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein gesellschaftsweites Thema. Auch hier markiert die Französische Revolution eine Zeitenwende. Ja erst 1833 entscheidet sich England für die Abschaffung der Sklaverei im gesamten britischen Kolonialreich („Slavery Abolition Act“). Die Frauen bekommen gar erst Mitte des 19 Jahrhunderts institutionell verankerte Rechte auf Bildung, allerdings keinen Zugang zu Universitäten. Aber es gibt auch Unterschiede in der Frauen- und Rassendiskussion: Die Informationslage vor der Französischen Revolution war bei den Frauenrechten dünner. Die Sklaverei dagegen wurde schon im Zuge der Amerikanischen Revolution zu einem beachteten Thema. Spätestens seit der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten im Jahr 1776. Kant, ein offener Parteigänger der Amerikanischen Revolution, hat diese Entwicklungen genau verfolgt. Wenn alle Menschen gleich erschaffen sind und das Recht auf Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück haben – dann braucht es keinen Kant, um zu erkennen, dass Sklaverei und rassistische Vorurteile mit diesen Grundsätzen absolut unvereinbar sind. Aber nicht einmal die nordamerikanischen Kolonien selber waren logisch konsequent: Zunächst galt ihre neue Verfassung nur für frei und gleich geborene Weiße ohne jede Einschränkung. Nicht so für Schwarze, Sklaven und Frauen. Der Protest gegen Sklaverei entflammte dennoch von Anfang an. Unmöglich, dass Kant dieses Thema nicht gesehen hat. Aber sehr gut möglich, dass er keine Konsequenzen aus seinem Wissen gezogen hat, dass er es bequemer fand, die Vorurteile seiner Zeit zu teilen. Das gleiche Muster gilt für sein Frauenbild.

Ebenfalls deutlich vor der Französischen Revolution gab es schon eine Reihe sehr erfolgreicher Bücher, die gegen die Sklaverei, ja gegen die gesamte Kolonialpolitik Europas gerichtet waren. Der französische Schriftsteller Guillaume-Thomas Raynal (1713 – 1796) veröffentlichte 1770 seine „Histoire des deux Indes“, die Geschichte zweier Indien. Das größte Skandalbuch seiner Zeit, weil es mit seiner Kolonialismus-Kritik genau ins Herz dieser Zeit traf. Sofort nach Erscheinen wurde das Werk in Frankreich verboten. 1781 wurde die dritte Auflage in Paris vom Henker verbrannt. Raynal war auf der Flucht und fand Asyl bei Friedrich dem Großen. Der größte Skandal war freilich der Buchinhalt: Hier erfuhren die schockierten Europäer zum ersten Mal, wie die elenden Lebensbedingungen eines schwarzen Sklaven auf einer Plantage wirklich aussahen. Wie die von Profitgier und Ausbeutung getriebene koloniale Eroberung die Kultur und damit die Identität der Ureinwohner auslöschte. Nicht nur in den „zwei Indien“. (Im Sprachgebrauch der Zeit gab es „Ostindien“, womit man ganz Ostasien meinte und „Westindien“, womit man die Karibik und Lateinamerika bezeichnete.) Am Ende umfasste das auf 10 Bände angewachsene Monumentalwerk eine Beschreibung Asiens, Afrikas und ganz Amerikas, also eine Enzyklopädie all dessen, was Europäer entdeckt, erobert und kolonial einverleibt hatten. Diese 10 Schwarten sollen ein internationaler Top-Bestseller gewesen sein? Heute unvorstellbar, aber damals war „Die Geschichte zweier Indien“ unter den Gebildeten Europas ein literarisches Großereignis, das die öffentliche Diskussion maßgeblich beeinflusste. Kant musste von diesem Buch gehört haben, musste über die Themen und Standpunkte mindestens informiert sein. Ob er etwas davon gelesen hat, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass er das Werk nirgendwo in seinen Schriften erwähnt. - Das Gleiche gilt für Georg Forsters „A Voyage Round The World“ (1777). Eine kleinere Schwarte von nur 1200 Seiten in 2 Bänden, aber ebenfalls in ganz Europa gelesen: Die "Reise um die Welt" (von Georg Forster selbst schon 1778 ins Deutsche übersetzt) ist ein Bericht von der zweiten Weltumsegelung des berühmten Captain James Cook (1728 – 1779): Am 13. Juli 1772 war der erst 17-jährige Georg Forster an Bord der "Resolution", als sie vom Hafen Plymouth absegelte. Mitten hinein in eine abenteuerliche Expedition, die drei volle Jahre dauern sollte. Er war als Zeichner und wissenschaftlicher Assistent seines Vaters Reinhold Forster mitgekommen. Dieser, ein angesehener Geograph und Naturforscher, war von der britischen Admiralität zur wissenschaftlichen Begleitung der Weltumsegelung berufen worden. Zuerst durchpflügten sie mit Captain Cook den Südatlantik bis zum Kap der guten Hoffnung, von dort aus ging es in hohe südliche Breitengrade weiter, hinein ins Südpolarmeer, ja sogar jenseits des südlichen Polarkreises, was noch nie zuvor einem Seefahrer gelungen war. Alles nur zu dem Zweck, um eine Theorie zu prüfen: Einige Seefahrer und Forscher hatten das seit der Antike kursierende Gerücht aufgewärmt, es gebe um den Südpol herum ein unbekanntes, sehr fruchtbares, womöglich bewohntes Land. England witterte eine neue Kolonie und wollte endgültige Klarheit. Cook erfüllte gewissenhaft seinen Auftrag und umsegelte in östlicher Richtung den gesamten Globus, immer möglichst nah am Südpol entlang, Ergebnis: Es gibt keinen bewohnbaren Südkontinent, keine „Terra Australis“, kein fruchtbares Paradies. Nur Eis. - Allein schon die ungeheuerlichen Strapazen durch monatelang andauernde Stürme, dazu die noch nie gesehene Landschaft erweckten das Interesse einer großen Leserschaft. Noch mehr aber die anschließende Erkundung der Südsee mit ihren unbekannten, von der europäischen Zivilisation bis dahin kaum berührten Inseln und Völkerstämmen. Cook lief zuerst die Südküste Neuseelands an und erkundete nach und nach die polynesischen Inseln, unter anderem Tahiti, die Tonga-Inseln und die Osterinsel. Die beiden Forsters entdeckten Hunderte neue Pflanzen- und Tierarten. Besonders Georg Forster trieb intensiv vergleichende Landeskunde und Völkerkunde. Er interessierte sich für die religiösen Bräuche und Sitten der Stämme, für die Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse ihres Zusammenlebens, ihre klimatischen, technischen und landwirtschaftlichen Bedingungen. Sein späterer Bericht, die Reise um die Welt, begründet damit eine neue Art der Reiseliteratur, die wissenschaftlich mit Daten und Fakten argumentiert und der modernen Ethnologie den Boden bereitete. Dabei gilt es, die eigenen kulturellen Vorurteile selbstkritisch zurückzustellen. Einfühlungsvermögen und Mitempfinden zu entwickeln. So erlernt Georg Forster die polynesische Sprache und dringt damit in die Denkweise und Vorstellungswelt der verschiedenen Stämme ein. „Alle Völker der Erde haben gleiche Ansprüche auf meinen guten Willen“ (Forster (2021), S. 18), sagt Forster: „Zugleich war ich mir bewußt, daß ich verschiedene Rechte mit jedem einzelnen Menschen gemein habe; und also sind meine Bemerkungen mit beständiger Rücksicht aufs allgemeine Beste gemacht worden, und mein Lob und mein Tadel sind unabhängig von National-Vorurteilen, wie sie auch Namen haben mögen.“ (Ebd.) Der blutjunge, aber hochbegabte Forster zieht die logische Konsequenz aus den Menschenrechten der Freiheit und Gleichheit. Kant und die Mehrzahl seiner Zeitgenossen waren unfähig oder unwillig, diese Ideen auf Indianer, Asiaten, Afrikaner oder Südsee-Insulaner auszudehnen. Diese – auch kantische – Arroganz gegenüber den „Negern“, „Kaffern“ und „Hottentotten“ (nicht nur Kant, auch Forster benutzt diese damals üblichen Bezeichnungen) wurde von der "Reise um die Welt" auf den Kehrichthaufen der Geschichte gefegt. Mit der Trumpfkarte unmittelbarer Erfahrung behauptet der von allen Intellektuellen Europas wohl am weitesten gereiste Autor, dass die Europäer keineswegs etwas Besonderes sind. Das ist die unausgesprochene Tendenz des Buches, wie Forster rückblickend bestätigt, nämlich, „…dass die Natur des Menschen zwar überall klimatisch verschieden, aber im Ganzen, sowohl der Organisation nach, als in Beziehung auf die Triebe und den Gang ihrer Entwickelung, spezifisch dieselbe ist.“ (Georg Forster (2008), S.93) Forster denkt nicht daran, aus körperlichen Merkmalen moralische und geistige Überlegenheit oder Unterlegenheit abzuleiten. Hierin liegt der große Gegensatz zu Kant. Und eben nicht in der Auseinandersetzung Forsters mit Kants Abhandlung "Bestimmung des Begriffs einer Menschenrasse". Letztere war 1785 in der schöngeistigen Monats-Zeitschrift Teutscher Merkur erschienen. Ebendort veröffentlichte Forster 1786 eine ausführliche Kritik, betitelt mit: "Noch etwas über die Menschenrassen". Dabei ging es jedoch nicht um Rassismus im heutigen Sinn: Der Streit ging um wissenschaftstheoretische Fragen. Forster meinte, Philosophen wie Kant würden von vornherein abstrakte und systematische Kategorien in die Beobachtung der Natur hineintragen. Deshalb sei ihre Sicht auf die Erfahrung blind für alles, was nicht zur spekulativen Idee passt. Außerdem bestritt Forster Kants These, dass die Menschheit einen gemeinsamen Ursprung in nur einem Stamm habe und sich anschließend durch Migration auf der Erde verbreitet habe. Forster nahm unterschiedliche regionale Schöpfungen für „Neger“ und „Weiße“ an, weil „Neger“ anatomisch gar zu verschieden von allen Menschengruppen seien und dem Affengeschlecht weit näher stünden. (Auch bei Forster ist nicht alles Gold, was glänzt.) Kant wiederum glaubte, dass sich der ursprüngliche Menschen-Stamm durch langfristigen Klimaeinfluss in vier Rassen mit unterschiedlichen Hautfarben (gelbe, rote, schwarze und weiße Menschen) entwickelt habe. – Um es noch einmal klar zu sagen: Mit Rassismus im Sinne von Diskriminierung hatte diese Diskussion nichts zu tun. Weder in Kants Rassenschrift noch in der Kritik Forsters. Gleich im Anschluss an seine steile These von der regionalen Sonderschöpfung des „Negers“ und dessen anatomischer Affenähnlichkeit verwahrt sich Forster dagegen, diese anatomische Mutmaßung als Rechtfertigung für Sklaverei einzusetzen: Mensch bleibt immer ganz Mensch, egal wo und wie er geschaffen wurde. Das Problem der Menschheit bestehe nicht in unterschiedlichen Hautfarben, sondern in der Unfreiheit: „Wo ist das Land, wie stark es auch sei, das entartete Europäer hindern kann, über ihre weißen Mitmenschen ebenso despotisch wie über Neger zu herrschen?“ (Teutscher Merkur 1786, IV, S. 164) Das war ans Publikum gerichtet, nicht gegen Kants Rassen-Schrift. Diese hatte kulturelle oder politische Bewertungen der Rassenfrage tatsächlich ausgeklammert. - Doch Kant reagierte nun seinerseits kritisch auf die Kritik Forsters und publizierte 1788, wieder im Teutschen Merkur, eigens eine philosophische Abhandlung gegen die Attacken Forsters: "Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie". Darin kontert er brillant die naive philosophische Vorstellung des Empirikers Georg Forster: Beobachtung und Erfahrung sind nicht einfach Sinnesdaten, die in unseren Geist ganz objektiv eindringen und Erkenntnisse aus dem theoretischen Nichts hervorzaubern. Wir bringen immer schon naturgesetzliche Annahmen und methodische Voraussetzungen mit, die wissenschaftliche Forschung erst ermöglichen: „So ist wohl ungezweifelt gewiss, daß durch bloßes empirisches Herumtappen ohne ein leitendes Prinzip, wonach man zu suchen habe, nichts Zweckmäßiges jemals würde gefunden werden; denn Erfahrung methodisch anstellen, heißt allein beobachten.“ (AA, VIII, S.161) Nach dieser Grundsatzerklärung wendet sich Kant Forster zu und beweist, dass dieser selbst nicht ohne Theorien auskommt: „Folgt doch Herr F. selbst der Leitung des Linnéischen Prinzips der Beharrlichkeit des Charakters der Befruchtungsteile an Gewächsen, ohne welches die systematische Naturbeschreibung des Pflanzenreichs nicht so rühmlich würde geordnet und erweitert worden sein. Dass manche so unvorsichtig sind, ihre Ideen in die Beobachtung selbst hineinzutragen (…), ist leider sehr wahr (…); allein dieser Missbrauch kann die Gültigkeit der Regel doch nicht aufheben.“ (Ebd.) – Ebenfalls siegreich blieb Kant in der Frage nach dem Ursprung des Menschengeschlechts. Ein einheitlicher Menschenstamm war eine klügere Idee als regional unabhängige Spezialschöpfungen. Heute ist das wissenschaftlich sehr gut untermauert. Ursprünglich sind Menschen Migranten. Getrieben durch Klima- und Erdkatastrophen, durch Ressourcenknappheit, kriegerische Konflikte oder aus schierer Abenteuerlust. Darauf wurden sie in weit entfernten „Weltgegenden“, wie Kant sagt, ansässig und bildeten dort ihre klimabedingten Besonderheiten aus. - Ansonsten aber ist der wissenschaftliche Stand der Diskussion hoffnungslos veraltet. Kant wie Forster fabulieren von „Keimen“, in denen durch die gütige Hand des Schöpfers schon alle „Anlagen“ vorgebildet sind. Es gibt noch keine Einsicht in die Dynamik von Mutation und Selektion, von spontaner, wirklich neuer oder gar zufallsgetriebener Entwicklung. Man hatte einen vagen Begriff von der Vererbbarkeit von Eigenschaften, keine Genetik. – Doch am Ende von "Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie" – als der Disput mit Forster zugunsten Kants eigentlich schon entschieden ist – überschreitet Kant die rote Linie zur kulturellen Bewertung der Rassen. Eifrig um den Nachweis bemüht, dass bereits entwickelte Rasseneigenschaften sich auch bei Vertauschung des Klimas nicht ändern (ein schwarzes Paar und dessen Nachkommen bleiben fortan auch in Lappland schwarz), zieht er den Schluss auf die Kultur und Arbeitsmoral. Das heißt, dass der „Caraibe“ nun einmal faul ist, weil er die paradiesischen Lebensverhältnisse in der sonnigen Heimat offensichtlich auch geistig verinnerlicht hat: „Und wo haben Indier oder Neger sich in nördlichen Gegenden auszubreiten gesucht? – Die aber dahin vertrieben sind, haben in ihrer Nachkommenschaft (…) niemals einen zu ansässigen Landanbauern oder Handarbeitern tauglichen Schlag abgeben wollen.“ (Reclam, S. 103f.) Schlimmer noch sind die Ausfälle gegen die Ureinwohner Amerikas mit ihrer roten Hautfarbe, die angeblich aus gemischten Klimaeinflüssen entsteht: "Dass aber ihr Naturell zu keiner völligen Angemessenheit mit irgend einem Klima gelangt ist, lässt sich auch daraus abnehmen, dass schwerlich ein anderer Grund angegeben werden kann, warum diese Rasse, zu schwach für schwere Arbeit, zu gleichgültig für emsige und unfähig zu aller Kultur, wozu sich doch in der Nahheit Beispiel und Aufmunterung genug findet, noch tief unter dem Neger selbst steht, welcher doch die niedrigste unter allen übrigen Stufen einnimmt, die wir als Rassenverschiedenheiten genannt haben.“ (Reclam, S. 106) Wie man leicht sieht, ist die berüchtigte, oben schon zitierte Rassenhierarchie aus Kants „Physischer Geographie“ keine mündliche Entgleisung, die in der Vorlesungsnachschrift zufällig verewigt wurde. So empörend hat Kant tatsächlich gedacht. Kein Wort über die mit Gewalt verschleppten, ihrer Menschenwürde beraubten „Neger“, die sich nicht einfach freiwillig nach Norden „verbreiten“. Kein Wort über den Massenmord an den Indianern, deren Kultur, zu der sie angeblich „unfähig“ sind, von weißen Barbaren restlos zerstört wurde. Dazu noch die zynische Aufforderung, sich an ihren Unterdrückern doch ein Beispiel zu nehmen.

Ich ging auf den Forster-Kant-Disput deshalb genauer ein, weil er sehr viel über das wissenschaftliche Klima von Kants Zeit verrät. Der Rassismus war enorm präsent. Sogar Georg Forster teilte die Auffassung, dass Südländer auffällig faul seien. Er ging aber nie so weit, dem Individuum aufgrund der Hautfarbe die sittliche Autonomie und Gleichberechtigung abzusprechen. Auch glaubte Forster, genau wie Kant, dass die europäische Kultur allen anderen Kulturen den Gang ihrer Entwicklung vorgibt. Forster sah das mit Bedauern und auch mit scharfer Kritik an Europa, für Kant war der Fortschritt eine Leistung der Vernunft. Aber beide waren überzeugt, dass der europäische Fortschritt das fertige Drehbuch ist, dem weltweit alle Kulturen Szene um Szene folgen müssen. 1789, ein Jahr nach der Kant-Forster-Kontroverse, schreibt Friedrich Schiller im Teutschen Merkur:

"Die Entdeckungen, welche unsere europäischen Seefahrer in fernen Meeren und auf entlegenen Küsten gemacht haben, geben uns ein ebenso lehrreiches als unterhaltendes Schauspiel. Sie zeigen uns Völkerschaften, die auf den mannigfaltigsten Stufen der Bildung um uns herum gelagert sind, wie Kinder verschiedenen Alters um einen Erwachsenen herum stehen und durch ihr Beispiel ihm in Erinnerung bringen, was er selbst vormals gewesen und wovon er ausgegangen ist."
Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789)

Diese weit verbreitete europäische Anmaßung belegt, dass es kaum in den Denkmöglichkeiten des 18. Jahrhunderts lag, den „Eurozentrismus“ ernsthaft in Frage zu stellen. (Herder ist die einsame Ausnahme.) Zu groß waren die Errungenschaften neuer naturwissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Fortschritte, zu mächtig und erfolgreich die europäische Expansion über den gesamten Globus. Trotzdem gab es eine kulturell und moralisch motivierte Kritik an Europa, die sich deutlich Gehör verschaffte. Dass Kant Raynals Kritik an der Sklaverei und Forsters Weltreise mit keiner Silbe erwähnt hat, liegt daran, dass sie Kants Rassenhierarchie zu widerlegen drohten. Dabei war Kant zeit seines Lebens an Reisebeschreibungen interessiert, sie zählten zu seiner abendlichen Lieblingslektüre. Dass er keine Kenntnis von der berühmten "Reise um die Welt" gehabt haben soll, halte ich für ausgeschlossen. Ein Buch, das Wieland gleich nach seinem Erscheinen als „eines der merkwürdigsten Bücher unserer Zeit“ ankündigte und im Teutschen Merkur einen „ausführlichen raisonnierten Auszug“ veröffentlichte. Überhaupt hatte die Reiseliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine positive, teilweise euphorische Einstellung gegenüber Fremdkulturen hergestellt. Louis Antoine de Bougainville (1729 – 1811) hatte schon vor Forster die Südsee-Insulaner beschrieben. Sein Bericht heißt ebenfalls "Reise um die Welt" (Voyage autour du monde (1771)). Seine Darstellung Tahitis löste in ganz Europa eine Modewelle des Exotismus aus. Für Bougainville war Tahiti das Paradies, ein „Garten Eden“, ja sogar „das neue Kythera“, eine regelrechte Liebesinsel, die unnennbare Wonnen verspricht. Die Südsee wurde zur Projektionsfläche für das unterdrückte Gefühlsleben der Europäer. Für das Unbehagen an der eigenen Kultur und deren Unfreiheit entschädigte ein begeisterter Naturkult. Noch 1795 kommentierte Schiller trocken: „Unser Gefühl der Natur gleicht der Empfindung des Kranken für die Gesundheit.“ – Aber auch die intellektuelle Elite (inklusive Schiller) ließ sich zu Projektionen hinreißen. Unterstützt von den wirkungsmächtigen Ideen Rousseaus, der den paradiesischen Naturzustand verkündet hatte. Der „Edle Wilde“ wurde auf einmal populär und Voltaire persönlich setzte diesem ein literarisches Denkmal (L’Ingénu („Der Freimütige“ (1767)). Die Idee des natürlichen Menschen wurde sogar in den Rang einer Geschichtsphilosophie erhoben: So erblickte man in Tahiti den verlorenen Naturzustand einer einstmals glücklichen Menschheit, ein untergegangenes Goldenes Zeitalter. Trotz der eurozentristischen Denkweise und auch im Bewusstsein der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit sahen viele Zeitgenossen Kants in den Südseekulturen immerhin ein Vorbild, gerade für Europa. Durch die hochverfeinerte Zivilisation hindurch müsse man die ursprüngliche Freiheit und Unschuld des Naturzustandes wieder herstellen. Zurück zur Natur könne man nicht, das glaubte nicht einmal Rousseau. Aber für die Zukunft, bei der Frage, wo Europa hinwolle, seien die natürlichen und sozialen Tugenden der Indianer in Nordamerika oder der Südsee-Insulaner auf Tahiti richtungsweisend. Neben dem Rassismus gab es also auch andere grundlegende Einstellungen zu Fremdkulturen, die sicher idealistisch überzogen waren, sicher von Projektionen der Eigenkultur beeinflusst; doch sah man in anderen Kulturen ein menschliches Potential, das dem entmenschlichten Europa gut tut. Mit welchem Gefühlsüberschwang der Naturkult bei Kants Zeitgenossen diskutiert wurde, beschreibt Christoph Martin Wieland in seinem Kommentar zu Forsters Reise um die Welt: Tahiti werde in Europa als „eine Art Schlaraffenland“ betrachtet, „wo wir mit Recht so erstaunt sind unsere Lieblingsträume von arkadischer Unschuld, Einfalt, Ruhe und kummerfreiem Wohlleben eines Volkes, das in ewiger, unbesorgter, lieblicher Kindheit an den Brüsten der Natur hängt – realisiert zu sehen.“ (Teutscher Merkur 4 (1788), S. 140). Kant hat diese Stimmungslage eisern ignoriert. Er hatte reichlich Gelegenheit, seine Vorurteile am Wissen seiner Zeit zu korrigieren und kritisch in Frage zu stellen. Die Vorstellung, dass sein Frauenbild und sein Rassismus eine zwangsläufige Folge seines Zeitalters wären, ist unhaltbar.

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3.2. Denkmöglichkeiten der eigenen Philosophie

Für die zweite Frage, ob Kant aufgrund seines eigenen Denkens genug Einsichten hatte, um seine rassistischen Vorurteile und sein diskriminierendes Frauenbild zu korrigieren, lautet die Antwort eindeutig ja. Der Philosoph der universellen Menschenrechte und Menschenwürde, der Vordenker des modernen Völkerrechts und der UNO, der Verteidiger individueller Freiheit in einer demokratisch („republikanisch“) und rechtsstaatlich verfassten Gesellschaft – das alles widerspricht jeder denkbaren Form von Rassismus und Diskriminierung. Sodass man gar nicht glauben mag, der Philosoph Kant und der Kant der Vorurteile sind ein und dieselbe Person. Es lag nicht nur in den Denkmöglichkeiten seines Denkens, anders über Rassen, Frauen und Kulturen zu denken, es sind sogar Denknotwendigkeiten seines Denkens, dass sein Denken niemals seine Vorurteile hätte denken dürfen. - Der Philosoph Chukwudi Eze hat Kants intellektuelle Bewusstseinsspaltung auf den Punkt gebracht: Mit Kant gegen Kant – das müsse der Umgang mit Kants Vorurteilen sein. - Als drastisches Anwendungsbeispiel für Ezes Formel wähle ich Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785). Dort gründet er die Moral und Sittlichkeit ganz allein auf Prinzipien der Vernunft. Weder äußere noch innere Erfahrung, weder die sinnliche Beschaffenheit des Menschen noch seine Umwelt – überhaupt nichts „Empirisches“ kann unseren Sinn für Verbindlichkeit und Pflicht begründen. Allein die Vernunft mit ihren erhabenen Ideen kann ein solides Fundament für Moral legen. Vor aller Erfahrung und unabhängig von aller Erfahrung („a priori“) spinnt die Vernunft ganz allein aus sich selbst das Sittengesetz. (Theorie und Kritik von Kants Moralphilosophie folgen im 2. Teil.) Die Vernunft braucht auch keine Glückseligkeitslehren, die ohnehin nur subjektiv und zufällig (und damit „empirisch“) sind. Die Vernunft gibt uns einfache, streng notwendige und allgemeine Gesetze, die für alles, was Vernunft hat, moralisch verbindlich sind. Und alles, was Vernunft hat, hat immer die ganze Vernunft. Sie ist unteilbar. Wer auch immer Vernunft besitzt, begegnet ihren notwendigen Denkprozessen und Ideen, die universell gültig sind, ja völlig losgelöst von jeder vorstellbaren Erfahrungswelt. Über das Sittengesetz schreibt Kant ausdrücklich:

"Man lasse es sich ja nicht in den Sinn kommen, die Realität dieses Prinzips aus der BESONDERN EIGENSCHAFT DER MENSCHLICHEN NATUR ableiten zu wollen. Denn Pflicht soll praktisch-unbedingte Notwendigkeit der Handlung sein; sie muss also für alle vernünftige Wesen (…) gelten und ALLEIN DARUM auch für allen menschlichen Willen ein Gesetz sein.“ (S.74)
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (S. 74, Hervorhebungen von Kant)

Das muss man erst sacken lassen: Es gibt also noch andere vernünftige Wesen außer den Menschen? Und die Vernunft operiert als ein für sich bestehendes Etwas im ganzen Weltall, unabhängig von der Menschennatur? Und „allein darum“, weil die Vernunftgesetze für alle vernunftbegabten Außerirdischen gelten, gelten sie auch für Menschen? Also hat jedes vernünftige Wesen im Kosmos, jeder dahergelaufene Alien die gleichen Regeln der Moral, die gleiche sittliche Autonomie und Willensfreiheit wie wir Irdischen auch. - Nur die „Neger“ nicht. Nur die Frauen nicht. Nur die Indianer nicht. Es ist unfassbar, dass Kant in der Anthropologie seine eigene Philosophie nicht versteht. Entweder hätte er den „Hottentotten“, Frauen und „faulen“ Caraiben alle Vernunft absprechen und sie als Tiere einordnen müssen; wenn er ihnen aber Vernunft zugesteht, was er tat, dann gibt es kein Mehr oder Weniger an Vernunft, kein Mehr oder Weniger an Freiheit, kein Mehr oder Weniger an Gleichberechtigung und Würde – es sei Alien-Würde oder Menschenwürde. Und wenn Kant die mangelnde Arbeitsmoral der Südsee-Insulaner beklagt, ist er blind dafür, dass er ihnen die Menschenwürde abspricht: Offenbar haben sie keine sittliche Freiheit, sich selbst vernünftige Gesetze zu geben. Keinen autonomen Willen, der ihre moralischen Entscheidungen beeinflussen könnte. Und damit keinerlei moralische Zurechenbarkeit. Sie werden ausschließlich durch Klima, Rasse und materielle Einflüsse bestimmt, genau wie das Tier, werden reduziert auf das Tier. Schon die Vorstellung, eine Hierarchie von Kulturen und Rassen aufzustellen, die moralische Qualitäten bestimmen und bewerten will, ist radikal unvereinbar mit Kants Vernunftideen:

"Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest."
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (S. 79)

Eine der berühmten Formeln für Kants „Kategorischen Imperativ“. Jedes vernünftige Wesen existiert als Selbstzweck, es darf „nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen“ dienen, sondern ist „jederzeit zugleich als Zweck“ zu betrachten. (S.78) – Es ist schwer zu begreifen, warum dieser Philosoph nicht als scharfer Kritiker an der Sklaverei, am Kolonialismus und Rassismus aufgetreten ist, warum er kein glühender Feminist war. Dass er sich so beschämend unvernünftig an seiner eigenen Vernunft vergangen hat. Mit Kant gegen Kant – Ezes kluge Parole beschreibt genau diese paradoxe Grundsituation. Die Einforderung der universellen Würde vernunftbegabter Wesen – inklusive Aliens - bei gleichzeitiger Aberkennung der Menschenwürde für große Gruppen terrestrischer Wesen ist nur ein krasses Beispiel dafür. Es kann auch nicht als Entschuldigung dienen, dass Kant immerhin an Außerirdische geglaubt hat. Im dritten Teil seiner Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels (1755) schreibt er tatsächlich „Von den Bewohnern der Gestirne“. Bewohnt seien Venus, Jupiter, Saturn, Merkur und Mars. Der Abstand zur Sonne bestimme die materielle Beschaffenheit der Planeten, die dann unterschiedliche Lebensformen hervorbringen. Seinen Glauben an außerirdische Existenzen begründet er mit dem „Reichtum der Natur, da Welten und Systeme in Ansehung des Ganzen der Schöpfung nur Sonnenstäubchen sind“ (AA I, S.352). Aber er räumt auch freimütig ein, seine Alien-Theorie sei nur ein Gedankenexperiment und keineswegs beweisbar. Klingt alles vernünftig und vertretbar. Ändert aber nichts an Kants Widersprüchen. Ebenso wenig, dass Kant mit seiner "Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels" die erste moderne Entstehungsgeschichte des Universums schuf, die „nach Newtonischen Grundsätzen“ verfährt, d.h. nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Gravitation und Mechanik. Kants Theorie, dass die Planetensysteme und Sternsysteme auf mechanische Weise aus einem „Urnebel“, einer Art feinst verstreuter Urmaterie, entstanden und erklärbar seien, war revolutionär. Als „Kant-Laplace-Theorie“ hat sie einen festen Platz in der Wissenschaftsgeschichte. Zudem behauptete Kant sehr kühn, es gebe eine Vielzahl von Galaxien, während der damalige wissenschaftliche Horizont kaum über die Milchstraße hinausreichte. Erst in den 1920er Jahren konnte Edwin Hubble durch direkte Messungen beweisen, dass Kants Theorie zutraf. Man fasst es einfach nicht: Wie konnte ein Mensch mit einem derartigen Horizont so kleinlich-irdischen Vorurteilen folgen?

"Mit Kant gegen Kant" gilt aber nicht nur für die Kritik an Kant. Es betrifft gleichermaßen die Kritikerinnen und Kritiker selber. Die aktuelle Kritik an Kants Vorurteilen vergisst allzu schnell, dass sie selbst auf Kants Schultern steht, während sie auf ihn herabsieht. Das ist unausweichlich. Weil genau Kants Philosophie die modernen Begriffe für Menschenrechte und Menschenwürde geprägt hat. Weil Kant, neben Locke und Rousseau, geistesgeschichtlich den größten Einfluss auf die Diskussion dieser Themen hatte und hat. Über Menschenrechte haben zwar viele Aufklärer schon vor Kant nachgedacht (wie Samuel von Pufendorf oder Hugo Grotius). Keiner aber hat durch klare Definition und zwingende philosophische Begründung diese modernen Begriffe stärker inspiriert als Kant. Bis in die Realpolitik hinein. Nicht nur auf UNO und Völkerrecht wirkte Kant, auch auf die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland. Artikel 1 des Grundgesetztes erhebt die Unantastbarkeit der Menschenwürde in den Rang eines Grundrechts, das als Leitbild für alle anderen Rechte dient. Und dies ganz im Sinne Kants. Das beweist alltäglich die deutsche Rechtsprechung. Wann zum Beispiel liegt ein Verstoß gegen die Menschenwürde und „guten Sitten“ vor? Als juristischer Gradmesser dient der oben zitierte Kategorische Imperativ, wonach der Mensch niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln ist. –

"Die neue Sensation aus den USA, Zwergenweitwurf, zuerst bei Gottschalk, jetzt live in Eurer Disko, Bonsai - Warrior"

So stand es geschrieben, auf dem Werbeplakat einer deutschen Diskothek im Jahr 1992. Gegen den heftigen Protest des Kleinwüchsigen, der wohl gut bezahlt wurde, beschloss das Verwaltungsgericht Neustadt (21. Mai 1992 (7 L 1271/92)), die Veranstaltung eines Zwergenweitwurfs zu verbieten. Die Begründung des Gerichts ist streng kantianisch:

Die Menschenwürde ist verletzt, wenn die einzelne Person zum Objekt herabgewürdigt wird. (…)
Dadurch, dass der Geworfene hierbei wie ein Sportgerät gehandhabt wird, wird ihm eine entwürdigende, objekthafte Rolle zugewiesen. Der geworfene Mensch (…) wird zum Zwecke der allgemeinen Belustigung zum bloßen Objekt der Werfer aus dem Publikum gemacht. Die Attraktivität der Darbietung liegt nicht in der vom Antragsteller in den Vordergrund gerückten artistischen Leistung, der professionellen Beherrschung des Flugverhaltens, sondern in der vom Veranstalter gebotenen Möglichkeit, unter dem Beifall des Publikums seine körperliche Überlegenheit an einem Menschen zu demonstrieren, der sich dies gegen Geld gefallen und wie ein Objekt behandeln lässt. (…)
Für die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit (…) mit den guten Sitten kommt es nicht darauf an, daß sich der Antragsteller freiwillig werfen läßt und die Veranstaltung selbst nicht als entwürdigend empfindet. Die Würde des Menschen ist ein unverfügbarer Wert, auf dessen Beachtung der einzelne nicht wirksam verzichten kann.

Kant ist überall, wo Demokratie und Menschenrechte etwas gelten. Dass seine Philosophie nicht immer folgerichtig umgesetzt wird, liegt am kapitalistischen Menschenverständnis, nicht an Kant. Wenn der Mensch nicht als Objekt benutzt werden darf, müsste z.B. die Prostitution kategorisch verboten sein. Ebenso viele Arbeitsverhältnisse, ja sogar der Kapitalismus selbst, wann immer er den Menschen als ökonomisches Objekt benutzt. Wie auch immer - der Einfluss und die Popularität von Kants Philosophie ist erstaunlich. Kritisiert man Kant, legt man sich zwangsläufig mit einem erheblichen Teil des eigenen demokratischen Selbstverständnisses an. Übrigens ist Kant trotz seiner schwierigen Terminologie und seiner berüchtigten Bandwurmsätze immer noch der Lieblingsphilosoph der Deutschen. Vielleicht aus dem Bewusstsein heraus, wie wichtig und gegenwärtig die Grundlagen sind, die er für freie und offene Gesellschaften und das friedliche Zusammenleben der Völker philosophisch entwickelt hat. Die direkte Lektüreerfahrung wird für das breite Publikum jedenfalls kaum ausschlaggebend sein. Von Kritikerinnen und Kritikern allerdings kann man mehr Sachkenntnis erwarten, wenn sie sich über Kant moralisch empören. Seine Vorurteile sind schockierend, sind weder aus seiner Zeit noch aus seiner Philosophie wirklich entschuldbar. Aber wenn wir das bewerten wollen, brauchen wir den ganzen Menschen, also auch seine ungeheuer zukunftsweisende Philosophie, seine erkenntniskritische und moralische Achtsamkeit und seine - unter Philosophen - einzig dastehende intellektuelle Redlichkeit.

(c) 2024 Günter Bachmann