Folgender Text ist ein Auszug aus:

Günter Bachmann
Literatur und Management
Kulturelle Dimensionen der Emotionalen Intelligenz
Artislife Press Hamburg 2005. ISBN 3-938378-05-0

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Emotionale Intelligenz nach Knigge

Adolph Freiherr von Knigge:
Über den Umgang mit Menschen
(1788)

Der "Knigge" teilt mit vielen anderen Klassikern das Schicksal, oft zitiert und wenig gelesen zu werden. Der Name des Autors wurde zum geflügelten Wort, zu einem Synonym für Anstandsregeln und die Etikette. Und tatsächlich lassen sich dem Buch viele isolierte Tipps entnehmen, die auch heute aktuell sind. Sie empfangen eine Geschäftspartnerin und sind männlichen Geschlechts? Dann achten Sie bitte darauf, dass Sie beim gemeinsamen Treppensteigen nicht hinter, sondern vor der Dame gehen. Besonders wenn Ihr Gast attraktiv und wohlgebaut ist, könnte das als Macho-Gehabe übel vermerkt werden. Steigen Sie die Treppe hinunter, dann wiederum können Sie der Dame den Vortritt lassen. Aber - darum geht es in dem Buch überhaupt nicht, oder doch nicht hauptsächlich. Wer die "Einleitung" liest, erkennt sehr schnell eine Problematik, die wie keine andere auch zur Entwicklung der Emotionalen Intelligenz geführt hat: Wie kommt es eigentlich dazu, das ist die Ausgangsfrage Knigges, dass gebildete geistreiche Menschen auf dem sozialen Parkett oft eine unglückliche Figur abgeben? Wieso gelingt es Leuten mit augenscheinlich hohem IQ nur selten, ein Geschick im Umgang mit Menschen zu erlangen, das für den Erfolg im Leben den Ausschlag gibt?

Woher kommt das? Was ist es, das diesen fehlt und andre haben, die, bei dem Mangel wahrer Vorzüge, alle Stufen menschlicher, irdischer Glückseligkeit ersteigen? - Was die Franzosen den esprit de conduite nennen, das fehlt jenen die Kunst des Umgangs mit Menschen - eine Kunst, die oft der schwache Kopf, ohne darauf zu studieren, viel besser erlauert, als der verständige, weise, witzreiche; die Kunst, sich bemerken, geltend, geachtet zu machen, ohne beneidet zu werden; sich nach den Temperamenten, Einsichten und Neigungen der Menschen zu richten, ohne falsch zu sein; sich ungezwungen in den Ton jeder Gesellschaft stimmen zu können, ohne weder Eigentümlichkeit des Charakters zu verlieren, noch sich zu niedriger Schmeichelei herabzulassen. Der, welchen nicht die Natur schon mit dieser glücklichen Anlage hat geboren werden lassen, erwerbe sich Studium der Menschen, eine gewisse Geschmeidigkeit, Geselligkeit, Nachgiebigkeit, Duldung, zu rechter Zeit Verleugnung, Gewalt über heftige Leidenschaften, Wachsamkeit auf sich selber und Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüts; und er wird sich jene Kunst zu eigen machen. (S.14)

Das Programm klingt vertraut: Wachsamkeit auf sich selber, Gewalt über Leidenschaften - besser könnte die Gemeinsamkeit mit den Tugenden der Selbstwahrnehmung und Selbstregulierung gar nicht unterstrichen werden. Auch die Karriere-Orientierung der Emotionalen Intelligenz fehlt nicht. Sich bemerkbar, geltend und geachtet zu machen, das rationale Erfolgskalkül also, ist stark vertreten. Der Mensch mit sozialem Geschick bewegt sich außerdem sehr virtuos zwischen Gegensätzen. Er hält die klassisch aristotelische Mitte zwischen notwendiger Anpassung an die Gesellschaft und der Aufrechterhaltung seiner Integrität: Sich geltend zu machen, ohne Neid zu erregen, in die herrschende Tonlage der Gesellschaft einzustimmen, ohne zum unterwürfigen Schmeichler zu degenerieren - das ist ein Tanz auf Messers Schneide. Das Geflecht sozialer Emotionen wird "im Knigge" sehr komplex analysiert und ist offensichtlich voller Fußangeln und Tretminen.
Die Ausgangslage ist demnach klar. "Über den Umgang mit Menschen" ist keine blind idealisierende Anerkennung gesellschaftlicher Konventionen, kein Komplimentierbuch des absterbenden Feudalzeitalters kurz vor der Französischen Revolution. Und erst recht kein nostalgisches Erbauungsbuch für höhere Töchterschulen oder Mädchenpensionate. Knigge weiß um die Unzulänglichkeiten aller Stände, um die Eitelkeit, den Egoismus, die Selbstgerechtigkeit und kalte Indifferenz überall dort, wo Menschen zusammentreffen. Sein Stil ist geprägt von moderner Aufklärung, von psychologischer Entlarvung der nicht immer erfreulichen Motive, die sich hinter der Maske sozialer Spielregeln verbergen. Und dieser analytische Zug verbindet sich deutlich mit einem überaus pessimistischen Menschenbild, das im klassischen Humanismus wurzelt: Der Mensch neigt zur Vanitas, zur Eitelkeit. Sein Egoismus ist so unaufhebbar wie die Erbsünde. Das achtzehnte Jahrhundert ist mehr, als im Schulbuch steht, mehr als bloß das Zeitalter eines optimistisch aufstrebenden Bürgertums. Die Entdeckung des Individualismus ist immer zugleich die Entdeckung des hemmungslosen Selbstinteresses. Adam Smith, der Begründer moderner Nationalökonomie, sieht im Eigennutz das einzig verlässliche Triebrad für einen funktionierenden Markt ("The Wealth of Nations" (1776)). Und philosophische Erzählungen wie etwa Voltaires "Candide" oder Samuel Johnsons "Rasselas" (beide 1759 erschienen) sehen im Menschen den alten unverbesserlichen Adam, der alle idealistischen Flausen ad absurdum führt. Selbst der große Aufklärer Immanuel Kant (1724-1804) erwartet allenfalls eine unendliche Annäherung an das Gute. Er hofft auf eine geheime Naturabsicht in der geschichtlichen Entwicklung, die die Menschen langfristig zu ihrem Glück zwingt. Das heißt: Er setzt alles auf die Gattung, nichts auf das Individuum. Denn "aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden." (Kant (1974), S. 29)
Knigges "Umgang mit Menschen" steht hinter diesen Einsichten keineswegs zurück. Die Belege für eine äußerst realistische und pessimistische Anthropologie sind zahlreich. So stimmt Knigges "goldene Regel" im Umgang mit Menschen nicht eben zuversichtlich: "Jeder Mensch gilt in dieser Welt nur so viel, als er sich selbst geltend macht." (S. 29) Das ist ein "Satz, dessen Wahrheit auf die Erfahrung aller Zeitalter gestützt ist." (Ebd.) Abenteurer und Großsprecher, Halbgelehrte und Schwätzer leben komfortabel von dieser Einsicht. Hier ein kleiner Auszug aus der Nutzanwendung:

Diese Erfahrung ist es, durch welche der empordringende Dummkopf sich zu den ersten Stellen im Staate hinaufarbeitet, die verdienstvollsten Männer zu Boden tritt und niemand findet, der ihn in seine Schranken zurückwiese.
Sie ist es, durch welche sich die unbrauchbarsten, schiefsten Genies, Menschen ohne Talent und Kenntnisse, Plusmacher und Windbeutel, bei den Großen der Erde unentbehrlich zu machen verstehen. (...)
Diese Erfahrung gibt dem vornehmen Bankrottierer, der Geld borgen will und nie wieder bezahlen kann, den Mut, das Anlehn in solchen Ausdrücken zu fordern, dass der reiche Wucherer es für Ehre hält, sich von ihm betrügen zu lassen.
Fast alle Arten von Bitten um Schutz und Beförderung, die in diesem Tone vorgetragen werden, finden Eingang und werden nicht abgeschlagen, dahingegen Verachtung, Zurücksetzung und nicht erfüllte billige Wünsche fast immer der Preis des bescheidnen, furchtsamen Klienten sind. (S. 30)

Frechheit siegt. Und die Welt will betrogen sein. Wer also auf diesem Erdball auch ohne eigenes Verdienst vorankommen will, der mache sich dreist und hemmungslos geltend. Doch auch der integre Mensch, wenn er nicht gerade wohlhabend ist und die Gunst der Gesellschaft also durchaus benötigt, tut gut daran, diese betrübliche Verfassung der Welt zu berücksichtigen. Er bedarf einer unvermeidlichen Anpassung und kann wenigstens folgende Lehre daraus ziehen:

Doch still! Sollte denn jener Satz uns gar nichts wert sein? Ja, meine Freunde! Er kann uns lehren, nie ohne Not und Beruf unsre ökonomischen, physikalischen, moralischen und intellektuellen Schwächen aufzudecken. Ohne also sich zur Prahlerei und zu niederträchtigen Lügen herabzulassen, soll man doch nicht die Gelegenheit verabsäumen, sich von seinen vorteilhaften Seiten zu zeigen. (S. 31)

Das bezeichnet ein typisches Moment in der Argumentation von Knigge: Die Menschen als das sehen, was sie sind. Eine unumgängliche Anpassung vollziehen. Und die genaue Mitte halten zwischen der allgemeinen Schlechtigkeit und der Wahrung innerer Werte. Wer klug ist, tritt nicht allzu glänzend auf, weil dies die Eitelkeit und den Neid der Gesellschaft provoziert, die mit Argusaugen Fehler an uns suchen wird: "... da die Schwachen sich ohnehin ein Fest daraus machen, an einem Menschen, der sie verdunkelt, Mängel zu entdecken, so wird dir ein einziger Fehltritt höher angerechnet, als andern ein ganzes Register von Bosheiten und Pinseleien." (S. 32) Man lasse die Menschen nur andeutungsweise vermuten, dass es etwas Besonderes mit uns ist und übe im Zweifelsfall Bescheidenheit: "Zeige Vernunft und Kenntnisse, wo du Veranlassung dazu hast! Nicht so viel, um Neid zu erregen und Forderungen anzukündigen, nicht so wenig, um übersehen und überschrien zu werden!" (S. 31)
Die Maxime, dass jeder nur so viel gilt, als er sich geltend macht, hat zahlreiche Konsequenzen für die Weltklugheit. Wo immer auch Menschen in sozialen Zirkeln zusammentreten, darf und soll man nicht auf allzu viel Sensibilität und Empathie hoffen. Wahres Verdienst wird nur anerkannt und unterstützt, wenn es sich positiv und zuversichtlich äußert. Die Menschen helfen in der Regel nur dem, der unabhängig von seiner wahren Gefühlslage mit Selbstbewusstsein auftritt und selbst seine berechtigtesten Klagen weise im Verborgenen hält:

Vor allen Dingen wache über dich, dass du nie die innere Zuversicht zu dir selber, das Vertrauen auf Gott, auf gute Menschen und auf das Schicksal verlierest! Sobald dein Nebenmann auf deiner Stirne Missmut und Verzweiflung liest - so ist alles aus. (S. 32)

Doch damit nicht genug. Die Gesellschaft ist nicht nur kalt und mitleidlos. Sie will geschmeichelt, gebeten und umworben sein. Wer etwas von ihr will, kommt nicht umhin, sich ihr aufzudrängen und nachdrücklich zu empfehlen. Dies ist vielleicht die unappetitlichste Kröte, die der Mann von Welt mit stoischer Miene schlucken muss. Anerkennung und Unterstützung werden nicht gegeben, sie wollen vielmehr verlangt und gefordert sein. Genau dies fällt redlichen Leuten schwer, die irrtümlicherweise glauben, dass Taten, Leistung und Kompetenz für sich selber sprechen. Sie tun es nicht, wenn Sie sich nicht selbst zum lauten Fürsprecher für Ihre Verdienste machen. Das ist würdelos. Gleichzeitig aber eine harte Notwendigkeit, da alle Mitglieder der Gesellschaft nur ihre eigenen Interessen im Kopf haben:

Wünschest du zeitliche Vorteile, Unterstützung, Versorgung im bürgerlichen Leben; möchtest du in einer Bedienung angestellt werden, in welcher du deinem Vaterland nützlich sein könntest, so musst du darum bitten, ja! nicht selten betteln. Rechne nicht darauf, dass die Menschen, sie müssten dann deiner ganz notwendig bedürfen, dir etwas anbieten, oder sich ungebeten für dich verwenden werden, wenn auch deine Taten noch so laut für dich reden, und jedermann weiß, dass du Unterstützung bedarfst und verdienst! Jeder sorgt für sich und die Seinigen, ohne sich um den bescheidenen Mann zu bekümmern, der indes nach Gemächlichkeit in seinem Winkelchen seine Talente vergraben, oder gar verhungern kann. Darum bleibt so mancher Verdienstvolle bis an seinen Tod unerkannt, außer Stand gesetzt, seinen Mitbürgern nützlich zu werden - weil er nicht betteln, nicht kriechen kann. (S. 36)

Wie kann man unter solchen Umständen sein Glück machen und gleichzeitig seine Integrität bewahren? Und wann wird überlebenswichtige Anpassung zur Selbstaufgabe und Mittäterschaft? Gibt es einen kunstgerechten Umgang mit Menschen, der hier klare Grenzlinien zieht?
Auch hier empfiehlt Knigge zuversichtlich den goldenen Mittelweg. Der Einzelne hat ja ebenfalls seinen Teil an der mehr schlechten als rechten Menschlichkeit. Die Humanität umfasst Gesellschaft und Individuum. Und dieses ist leider auch seinerseits ein wahrer Ausbund an bösen Leidenschaften und grenzenloser Eitelkeit. Knigges Analyse ist erbarmungslos. Es mag Menschen mit natürlichem Hang zur Schüchternheit und einer mangelhaften Kinderstube geben. Doch das Unbehagen, das die meisten Menschen in Gesellschaft erfasst, ist auf verletzte Selbstliebe zurückzuführen:

Man vermeide also auch, in alle Zirkel große Forderungen mitzunehmen, allen Menschen alles allein sein, mit aller Gewalt glänzen, hervorgezogen werden zu wollen; zu verlangen, dass aller Menschen Augen nur auf uns gerichtet, ihre Ohren nur für uns gespitzt seien; denn sonst werden wir uns allerorten zurückgesetzt glauben, eine traurige Rolle spielen, uns und andern Langeweile machen, menschenscheu und bitter die Gesellschaft fliehn und von ihr geflohn werden. (S. 67)

Das Gegenmittel gegen die Schlechtigkeit der Gesellschaft ist also der Kampf gegen die eigene Schlechtigkeit. Integrität im Sinne Knigges ist eine ausgeglichene, heitere und selbstbewusste Gemütsart, die durch bürgerliche Tugenden zu erwerben ist:

Es gibt eine Größe - und wer die erreichen kann, der steht hoch über allen. Diese Größe ist unabhängig von Menschen, Schicksalen und äußerer Schätzung. Sie beruht auf innerem Bewusstsein; und ihr Gefühl verstärkt sich, je weniger sie erkannt wird. (S. 84)

Das ist keine erhabene Innerlichkeitslyrik, die uns tröstet und narkotisiert, ohne jemals zum Handeln zu kommen. Denn gerade wegen der günstigen Wirkung auf die Gesellschaft empfiehlt Knigge die Achtsamkeit auf eine fest in uns selbst gegründete Haltung. Werte machen, das ist das Überraschende, - charmant. Sie verleihen Ausstrahlung und ungezwungenen Humor:

Zeige, so viel du kannst, eine immer gleiche, heitre Stirne! Nichts ist reizender und liebenswürdiger, als eine gewisse frohe, muntre Gemütsart, die aus der Quelle eines schuldlosen, nicht von heftigen Leidenschaften in Tumult gesetzten Herzens hervorströmt. (S. 45)
Zeige dich also mit einem gewissen bescheidnen Bewusstsein innerer Würde, und vor allen Dingen mit dem auf deiner Stirne strahlenden Bewusstsein der Wahrheit und Redlichkeit! (S. 31)

Ausgerüstet mit innerlicher Überzeugung, laviert man desto sicherer den Mittelweg zwischen Schmeichelei und übertriebener Bescheidenheit. Man gilt als zuverlässig und glaubwürdig, zeigt sich konstant und bodenständig. Allerdings: Wir müssen hart für diese innere Haltung arbeiten. Sein Wort halten, eiserner Fleiß und Ordnungssinn, ein gut ausgearbeiteter Lebensplan und mutiges Festhalten an Beschlüssen - diese viel belächelten bürgerlichen Tugenden verleihen uns erst den inneren Wert, den wir uns selbst so großzügig beizulegen geneigt sind:

Sei strenge, pünktlich, ordentlich, arbeitsam, fleißig in deinem Berufe! Bewahre deine Papiere, deine Schlüssel und alles so, dass du jedes einzelne Stück auch im Dunkeln finden könntest! (...) Jedermann geht gern mit einem Menschen um und treibt Geschäfte mit ihm, wenn man sich auf seine Pünktlichkeit in Wort und Tat verlassen kann. (S. 39)

Es sind also die unspektakulären, aber soliden Tugenden, die uns letztlich "Zutrauen, guten Ruf und Hochachtung" (ebd.) verleihen. Und damit verkehrt sich die kritische Perspektive des Textes in ihr Gegenteil: Gesellschaftskritik ist nicht nur die Kritik des Einzelnen an der Gesellschaft, sondern auch die Kritik der Gesellschaft am Einzelnen.
Auch für den guten Umgang und die gelungene Kommunikation mit Menschen ist laut Knigge eine ethische Kategorie zwingend erforderlich. Vor allem das ernsthafte Interesse am anderen, das dem zurückgewiesenen Einzelnen oft fehlt:

Interessiere dich für andere, wenn du willst, dass andere sich für dich interessieren sollen! Wer unteilnehmend, ohne Sinn für Freundschaft, Wohlwollen und Liebe, nur sich selber lebt, der bleibt verlassen, wenn er sich nach fremdem Beistande sehnt. (S. 40)

Das mitfühlende und einfühlende Verstehen der Fremdperspektive, die Empathie, ist in der bürgerlichen Sprache Knigges durch kulturelle Wertsetzungen begründet: Teilnahme, Freundschaft, Wohlwollen und Liebe. Nur der Gesellschafter ist angenehm und trägt zu einer gelungenen Kommunikation bei, dem diese Wörter nicht fremd sind. Die kritische Perspektive richtet sich erneut auf den Einzelnen, mag die Gesellschaft insgesamt auch noch so schlecht wegkommen.
Im Übrigen benutzt Knigge die Empathie in jenem doppelten und zweischneidigen Sinn, den sie bis heute behalten hat: Sie ist unumgänglich, um die Fallstricke der Gesellschaft zu vermeiden, ein schützendes Frühwarnsystem, das uns anleitet, unsere Gesprächspartner auch nach ihren verborgenen Seiten einzuschätzen und unser Verhalten danach einzurichten. Auf der anderen Seite kann sie emotionale Bindungen aufbauen, wo es unserer Integrität nicht widerspricht, kann echte Sympathie stiften und Menschen zu einem Team zusammenschweißen. Deswegen betont Knigge zu Recht:

Eine Menge dieser Vorschriften umfasst die alte Regel - setze dich in Gedanken oft in anderer Leute Stelle und frage dich selbst "Wie würde es dir unter denselben Umständen gefallen, wenn man dir dies zumutete, gegen dich also handelte, von dir das forderte? - diesen Dienst, diese Verwendung, diese langweilige Arbeit, diese Erklärung? (S. 40)

Knigges "Umgang mit Menschen", besonders die Einleitung und das erste Kapitel, präsentieren uns also die klassisch-bürgerliche Dimension der Selbstwahrnehmung und Empathie in einem eleganten, aufgeklärten, psychologisch scharfsinnigen Stil. Diese rund 80 Seiten, meist in kleinere Abschnitte unterteilt, bieten einen hochkonzentrierten Text, der dem Leser gelassene Selbstkontrolle über unsere persönlichen Eitelkeiten und Emotionen vermittelt. Die wichtigste praktische Lektion, die ein Manager hier erlernen kann, ist die effektive Beseitigung von Störfaktoren, die einer gelungenen Kommunikation nur allzu oft im Wege stehen.
Sehen wir genauer zu, wie das Konversationsgeschick eines Menschen aussieht, der durch diese Schule gegangen ist. Am Anfang dieser Kunst steht der zuverlässige Trick, die anderen zum Sprechen über ihre Lieblingsthemen zu bringen, den anderen also die Möglichkeit zu verschaffen, sich in glänzendem Licht zu zeigen. So entgeht man der Gefahr, den Neid auf sich selbst zu ziehen. Und man wird als höchst verständiger und angenehmer Gesprächspartner überall geschätzt:

Suche weniger selbst zu glänzen, als andern Gelegenheit zu geben, sich von vorteilhaften Seiten zu zeigen, wenn du gelobt werden und gefallen willst. Die wenigsten Menschen vertragen ein Übergewicht von andern. Lieber verzeihen sie uns eine zweideutige Handlung, ja! ein Verbrechen, als eine Tat, durch welche wir sie verdunkeln. (...) Auch im bloß geselligen Umgange soll man sich hüten, hervorstechen zu wollen. Ich habe den Ruf eines vernünftigen und witzigen Mannes aus mancher Gesellschaft mitgenommen, in welcher wahrlich kein kluges Wort aus meinem Munde gegangen war, und in welcher ich nichts getan hatte, als mit musterhafter Geduld vornehmen und halbgelehrten Unsinn anzuhören, oder hie und da einen Mann auf ein Fach zu bringen, wovon er gern redete. (...) Was kann unschuldiger sein, als solche Ausleerungen zu befördern, wenn man dadurch andern Erleichterung und sich einen guten Ruf verschafft? (S. 34f.)

Ein weiterer, eminent wichtiger Punkt ist, dass die Menschen nicht nur eitel sind, sondern eine starke Abneigung gegen zu viel Belehrung haben:

Vor allen Dingen aber vergesse man nie, dass die Leute unterhalten (amüsiert) sein wollen; dass selbst der unterrichtendste Umgang ihnen in der Länge ermüdend vorkommt, wenn er nicht zuweilen durch Witz und gute Laune gewürzt wird (...). (S. 45)

Schwierige Gesprächspartner, gegen die wir eine Antipathie hegen, lassen sich ebenfalls durch ihre Selbstliebe recht gut in den Griff bekommen:

... da jeder Mensch doch wenigstens eine gute Seite hat, die man loben darf, und dies Lob, wenn es nicht übertrieben wird, aus dem Munde eines verständigen Mannes, Sporn zu größerer Vervollkommnung werden kann, so ist das Wink genug für den, der mich verstehen will. (Ebd.)

Lob ist unwiderstehlich. Und besonders beim Feedback sollte man die bitteren Pillen in dieses süße Zuckerpapier einwickeln. Dies stimmt exakt mit neueren Management-Forschungen aus der Verhaltenstheorie zusammen. Ähnlichkeiten aufdecken und loben sind bei jedem Akt der Überredung ein mächtiges Hilfsmittel (vgl. Robert B. Cialdini, Harnessing the Science of Persuasion, in: HBR, October 2001, S. 72 -79). Lob baut Brücken. Wer sich nicht auf positive Seiten konzentriert, verharrt in Kommunikationslosigkeit und schadet sich selber, da wir uns unsere Partner nicht immer aussuchen können.
Interessant ist auch die stilistische Analyse, die Knigge anstellt, um uns eine wirkungsvolle Konversation zu sichern:

Habe Acht auf dich, dass du in deinen Unterredungen, durch einen wässrigen, weitschweifigen Vortrag nicht ermüdest! Ein gewisser Lakonismus - insofern er nicht in den Ton, nur in Sentenzen und Aphorismen zu sprechen, oder jedes Wort abzuwägen, ausartet - ein gewisser Lakonismus, sage ich, das heißt die Gabe, mit wenigen körnigten Worten viel zu sagen, durch Weglassung kleiner, unwichtiger Details die Aufmerksamkeit wach zu erhalten, und dann wieder, zu einer anderen Zeit, die Geschicklichkeit, einen nichtsbedeutenden Umstand durch die Lebhaftigkeit der Darstellung interessant zu machen - das ist die wahre Kunst der gesellschaftlichen Beredsamkeit. (S. 50)

Selbstwahrnehmung, der Ausgangspunkt emotional intelligenten Verhaltens, ermöglicht uns die Konzentration auf unseren Sprechrhythmus, der, typisch für Knigge, erneut eine schwierige Mitte einhält. Die Rede soll scharf umrissene Sentenzen und Aphorismen enthalten, die einen komplexen Sachverhalt immer wieder auf eindrucksvolle Punkte konzentrieren. Dennoch darf dies nicht zur Manier werden, sich selbst als allwissendes oder autoritär absprechendes Orakel zu präsentieren. Deshalb sollte der Sprachstil sich auch über Details in einem lockeren und gefälligen Plauder-Ton verbreiten, ohne in einen strukturlosen Brei zu verfließen. Voraussetzung ist eine konzentriert beobachtende Kontrolle unserer selbst, die vor allem durch die Fähigkeit zur verbalen Zurückhaltung gestärkt wird. Zuhören ist nicht nur ein passiver Teil der Kommunikation. Durch Zuhören schafft man sich Zeit und Freiraum, seine eigenen Akzente bewusst zu setzen. Und man gewöhnt sich daran, seine Leidenschaften klug im Zaum zu halten. Zuhören ist stets ein aktives Coaching für Selbstkontrolle, weil wir jenen Mechanismus regelmäßig lahm legen, den die Bibelübersetzung Martin Luthers so perfekt formuliert hat: Wes das Herz voll ist, des gehet der Mund über. Unsere Zunge ist ein äußerst dünnes Glatteis. Wenn Sie also nicht gerade Ihre Mitarbeiter mit einer Vision motivieren wollen - hier wäre Zurückhaltung sogar tödlich - dann sehen Sie zu, dass Sie bei Verhandlungen nicht ausrutschen und einbrechen:

Überhaupt aber rede nicht zu viel! Sei haushälterisch mit Spendung von Worten und Kenntnissen, damit es dir nicht oft an Stoff fehle, damit du nicht redest, was du verschweigen sollst, verschweigen willst, und damit man deiner nicht satt werde! Lass auch andre zu Worte kommen, ihren Teil mit hergeben, zur allgemeinen Unterhaltung! Es gibt Leute, die, ohne es selbst zu merken, aller Orten die Sprachführer sind; und wären sie in einem Zirkel von fünfzig Personen, so würden sie sich dennoch bald Meister von der ganzen Unterhaltung machen. (Ebd.)

Eine gute Lektion für weise Zurückhaltung lehrt die Einsicht, dass wir die stets reizbare Eitelkeit der Gesellschaft auch konsequent bei uns selbst wahrnehmen. Dass also die Gesellschaft nicht selten ein Spiegelbild unserer eigenen Verfehlungen darbietet, was besonders einem aufgeklärten und differenzierten Kopf zu denken geben sollte:

Sei vorsichtig im Tadel und Widerspruche! Es gibt wenig Dinge in der Welt, die nicht zwei Seiten haben. Vorurteile verdunkeln oft die Augen, selbst des klügern Mannes, und es ist sehr schwer, sich gänzlich an eines andern Stelle zu denken. (S. 49)
Übrigens aber rate ich auch an, um sein selbst und um andrer willen, ja nicht zu glauben, es sei irgend eine Gesellschaft so ganz schlecht, das Gespräch irgend eines Mannes so ganz unbedeutend, dass man nicht daraus etwas lernen, eine neue Erfahrung, einen Stoff zum Nachdenken sammeln könnte. (S. 68)

Dies folgt der schon erwähnten Kehrtwende der kritischen Perspektive, die von der Gesellschaft auf den Einzelnen ein nicht immer angenehmes Bild zurückwirft. Ein hilfreiches Feedback etwa sollte in der Regel nicht von der unreflektierten Opposition gut/schlecht geleitet sein. Differenzierte Analyse, Lob, Kritik und auch Selbstkritik sollten sich nicht gegenseitig ausschließen. Das Ziel ist ein Lernprozess, der nicht immer einseitig zu denken ist. Als Diskussionskiller erweist sich das binäre Denkmodell, das zwischen positiver und negativer Bewertung für all die schwierigen Grauzonen unseres Tuns keinen Raum lässt. Nicht nur beim Feedback. (Vgl.: Jean-Francois Manzoni, A Better Way to Deliver Bad News, in: HBR, September 2002, S. 114-119)
Wie um alles in der Welt aber sollte man dann andere und sich selbst bewerten? Knigge beruft sich auf die objektiven und praktischen Folgen unseres Tuns. Und er erweist sich damit als ein Vorgänger des Pragmatismus:

Übrigens soll man nur fragen - "Was tut der Mann Nützliches für andere?" und wenn er dergleichen tut, über dies Gute die kleinen leidenschaftlichen Fehler, die nur ihm selbst schaden, oder höchstens unwichtigen, vorübergehenden Nachteil wirken, vergessen.
Vor allen Dingen maße dir nicht an, die Beweggründe zu jeder guten Handlung abwägen zu wollen! Bei einer solchen Rechnung würden vielleicht manche deiner eignen großen Taten verzweifelt klein erscheinen. Jedes Gute muss nach seiner Wirkung für die Welt beurteilt werden. (S. 50)

Nach alledem ist "der Knigge" eine unverzichtbare Lektüre für das Management, sofern es sich an Emotionaler Intelligenz orientiert. Wir lernen, die Klippen im Umgang mit Menschen virtuos zu umfahren. Äußerst realistisch werden wir der Verdorbenheit in anderen und uns selbst ansichtig, lernen Vorsicht und Selbstkritik. Und mit seltener Deutlichkeit erfahren wir, dass eine gefällige und verbindliche Kommunikation auf einer Basis gutbürgerlicher Tugenden gedeihen, die unsere persönliche und geschäftliche Integrität bewahren. Wir erlangen Einsicht in eine abgeklärte und pragmatische Form positiven Selbstbewusstseins, die unsere Motivation und Zuversicht tiefer begründet, als die gängige Literatur über "positives Denken" in der Regel leisten kann. Diese ist zu sehr am US-amerikanischen Wettbewerbs- und Teamgeist ausgerichtet, läuft zu sehr auf eigennützigen Zweckoptimismus hinaus, um der überdifferenzierten traditionellen Kultur der Europäer zu genügen. - Meist ohne Fundierung in Gesellschafts- und Kulturkritik, kratzen sie nicht tief genug an der Oberfläche und verkommen zum rein technischen Karrierekonzept.
Aus diesem Grund würde ich Führungskräften auch noch das zweite Kapitel - "Über den Umgang mit sich selber" - nahe legen. Nichts schadet mehr der Effizienz und emotionalen Selbstwahrnehmung von Managern, als sich besinnungslos in gesellschaftlichen Kontakten zu verlieren. Wer sich keine Zeit für Reflexion nimmt, wird zwangsläufig unreflektiert. Das Ich reift nur dann zur starken Persönlichkeit, wenn man es "kultiviert":

Es ist daher nicht zu verzeihen, wenn man sich immer unter andern Menschen umhertreibt, über den Umgang mit Menschen seine eigne Gesellschaft vernachlässigt, gleichsam vor sich selber zu fliehen scheint, sein eignes Ich nicht kultiviert, und sich doch stets um fremde Händel bekümmert. Wer täglich herumrennt, wird fremd in seinem eignen Hause; wer immer in Zerstreuungen lebt, wird fremd in seinem eignen Herzen, muss im Gedränge müßiger Leute seine innere Langeweile zu töten trachten, büßt das Zutrauen zu sich selber ein, und ist verlegen, wenn er sich einmal mit sich selber allein befindet. (S. 81)

Auch hier, in der persönlichen Entwicklung, gibt es ohne gehörige Investition keinen greifbaren Gewinn. Das Ich ist nach Knigge unser treuster Freund und soll mit gleicher Umsicht und Fairness behandelt werden wie die Gesellschaft, in der wir uns bewegen. Es ist sogar der sicherste Besitz, denn:

Ach! Es kommen Augenblicke, in denen du dich selbst nicht verlassen darfst, wenn dich auch jedermann verlässt; Augenblicke, in welchen der Umgang mit deinem Ich der einzige tröstliche ist. (S. 82)

Diese Erkenntnis droht mit der bürgerlichen Kultur verloren zu gehen. Der "Spaß" der Spaßgesellschaft oder eine schlappe "Work-Life-Balance" lassen keine Substanz zurück, wenn ernsthafte Krisen kommen. Kultivieren im Sinne Knigges kann man sein Ich nur mit Kultur, nicht mit grenzenlosem Aktionismus:

Wer sein Gemüt ohne Unterlass dem Sturme der Leidenschaften preisgibt, oder die Segel seines Geistes unaufhörlich spannt, der rennt auf den Strand oder muss mit abgenutztem Fahrzeuge nach Hause lavieren, wenn grade die beste Jahrszeit zu neuen Entdeckungen eintritt. (Ebd.)

Besonnenheit und Reflexion, Selbsterkenntnis und Selbstkontrolle wollen geübt und gesucht sein, wenn sie uns im praktischen Leben nicht im Stich lassen sollen:

Sei dir selber ein angenehmer Gesellschafter! Mache dir keine Langeweile! Das heißt Sei nie ganz müßig! Lerne dich selbst nicht zu sehr auswendig, sondern sammle aus Büchern und Menschen neue Ideen! Man glaubt es gar nicht, welch ein eintöniges Wesen man wird, wenn man sich immer in dem Zirkel seiner eignen Lieblingsbegriffe herumdreht, und wie man dann alles wegwirft, was nicht unser Siegel an der Stirne trägt. (S. 84)

Hier wie überall gilt es laut Knigge, das rechte Maß zu finden. Ohne kontemplativen Rückzugsort wird man kein Persönlichkeitsprofil entwickeln, wird man auch in seiner emotionalen Kompetenz höchst mangelhaft sein. Gleichgewicht und Gelassenheit in einer zweideutigen, schwierigen, nicht immer erbaulichen Welt, das ist es, was man von Knigge lernen kann:

Überhaupt rate ich, um glücklich zu leben und andre glücklich zu machen, in dieser Welt so wenig wie möglich zu erwarten und zu fordern. (S. 67)

Unter dieser Voraussetzung fällt es wesentlich leichter, nicht über, aber fest und zuversichtlich inmitten der Dinge zu stehen.

Quellen:
Adolph Freiherr Knigge, Über den Umgang mit Menschen, hrsg. von Karl-Heinz Göttert, Stuttgart 1991. Philipp Reclam jun.
HBR = Harvard Business Review

© 2003 Günter Bachmann
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