Psychologische Führungsstärke

Literatur: Harvard Business Review, September/Oktober
2000:
„Why Should Anyone Be Led By You?“
Robert Goffee/Gareth Jones

Es gibt kaum ein Thema, worüber mehr geschrieben wird als
über psychologische Führungsstärke. Dies hat jedoch
nicht dazu beigetragen, verlässliche oder systematisch
zusammenhängende Kriterien zu definieren. Ganz im Gegenteil
herrscht Anarchie und Konfusion. Da gibt es gewagte
Einzelporträts, die herausragende Persönlichkeiten als
Leadership-Gurus stilisieren. Doch gerade die Einzigartigkeit
dieser Figuren macht es so schwierig, verbindliche Regeln
abzuleiten. Eine andere Methode besteht darin, einzelne Merkmale
wie Motivationskunst, Tatkraft oder visionäre Strategie zu
isolieren. So wichtig sie auch sein mögen, greifen sie in
aller Regel zu kurz und ergeben kein einleuchtendes Gesamtbild. Und
damit ist also immer noch nicht die Frage geklärt, ob sich
eine allgemeine Psychologie der Führungsstärke
überzeugend entwickeln lässt. – Diesem Problem
begegnen Robert Goffee und Gareth Jones mit einer bahnbrechenden
Studie, die vom Harvard Business Review als bester Artikel im Jahr
2000 ausgezeichnet wurde.
Tatsächlich bieten diese beiden Universitätsprofessoren,
die jetzt als Unternehmensberater auch in der Praxis erfolgreich
sind, ein in sich geschlossenes Modell der psychologischen
Führungsstärke. Sie haben vier entscheidende
Eigenschaften herausgearbeitet, die in einem systematischen
Zusammenhang stehen. Und diese Kriterien sind gut begründet,
weil sie im Laufe einer zehnjährigen Beratertätigkeit in
den USA und Europa entwickelt und praxisnah getestet wurden. Dabei
ist der Ausgangspunkt des Modells – wie bei allen wirklich
innovativen Ideen – zunächst verblüffend einfach,
ja im Grunde so alt wie die philosophische Reflexion der
Menschheit: Erkenne dich selbst! - So fragten die Autoren
zahlreiche Führungskräfte, warum irgendjemand Lust haben
sollte, sich von ihnen führen zu lassen: „Why should
anyone be led by you?“. In der Regel herrscht nach dieser
Frage auch bei gestandenen Managern Sprachlosigkeit. Denn im
Informationszeitalter ist teamorientiertes und kommunikatives
Business eine unverzichtbare Basis für den Erfolg. Immer mehr
Autonomie und Selbständigkeit wird von den Mitarbeitern
verlangt. Pure Hierarchie und traditionelle Autorität sind mit
dieser inneren Logik nicht zu vereinbaren. Führungsstärke
lässt sich heute also sehr deutlich daran messen, ob es dem
Chef gelingt, eine zuverlässige und kooperative Gefolgschaft
zu mobilisieren. Man möchte hinzufügen: Das war schon
immer entscheidend. Aber heutzutage eben ganz besonders. Neu und
überzeugend ist dieser Ansatzpunkt, weil er sich nicht auf den
Personenkult von Führungspersönlichkeiten einlässt.
Die Gefolgschaft ist das notwendige dialektische Gegenstück zu
jeder Art von Führung. Und wenn man über psychologische
Führungsstärke spricht, dann entfaltet sie sich vor allem
interaktiv im spezifischen Umgang mit den Mitarbeitern.
Das Schweigen der Manager erklärt sich sicher nicht nur aus
der organisatorischen Bedeutsamkeit der obigen Fangfrage. Gerade
gute Chefs neigen nicht zum übertriebenen Eigenlob. Sie werden
also kaum antworten: „Weil ich ein Genie mit visionärer
Tatkraft und Motivationskunst bin.“ Außerdem
berührt dieses Why should anyone be led by you?
psychologische Schichten im menschlichen Bewusstsein, die tiefer
liegen als bloße Geschäftsprobleme. Die Frage hat in der
Tat mit dem Selbstverständnis und der Selbsterkenntnis dessen
zu tun, wer ich eigentlich bin und wie ich auf Menschen wirke.
Niemand wird sie leichtsinnig, oberflächlich oder vorschnell
beantworten wollen. Sie gehört zu den schwierigsten
überhaupt. Denn selbst dann, wenn ich über mich selbst
Klarheit gewinnen sollte, kann ich niemals absolut sicher sein,
dass die anderen mich genauso sehen wie ich mich selbst. Und gerade
auf die Meinung der Gefolgschaft kommt es in diesem Fall an. Auch
die Autoren erliegen nicht der weitverbreiteten Versuchung, die
Frage rein kontemplativ oder spekulativ zu beantworten. Wie gesagt
entnehmen sie ihren zahlreichen praktischen Fallbeispielen vier
solide, empirisch gut gesicherte Kriterien. Diese Eigenschaften
bestimmen <i>faktisch nachweisbar</i> das psychologische Verhalten
von erfolgreichen Führungskräften. Und damit liegen
immerhin klar umrissene und erlernbare Techniken psychologischer
Führungsstärke vor. Betrachten wir die vier Eigenschaften
also etwas näher.

1. Schwächen zugeben

Niemand möchte einen perfekten Chef haben. Fehler und
Schwächen machen menschlich. Und sie signalisieren: „Ich
brauche Ihre Unterstützung!“ Wer das Image der
Unfehlbarkeit pflegt, wird allein gelassen. Vertrauen, enge
Zusammenarbeit, Loyalität oder konstruktives Feedback werden
im Keim erstickt. Perfektion braucht keine Hilfe, ja wirkt
abschreckend und distanzierend. Schlimmer noch: Sie ist nicht
glaubwürdig. Sie stimmt die Menschen misstrauisch. Automatisch
wird Arroganz, Eitelkeit, Selbstüberhebung, Machtstreben oder
irgendein ein anderes unsauberes Motiv unterstellt, wenn sich
jemand permanent ohne Fehl und Tadel präsentiert. Prominente
Politiker zum Beispiel geben der Boulevard-Presse bewusst ein wenig
Futter. So verhindern sie, dass viel schlimmere Geschichten
über sie erfunden werden. Und auch ein allzu makelloser Boss
muss damit rechnen, dass er Verdacht erregt. Nobody’s
perfect. Hundert Jahre Psychoanalyse haben dafür gesorgt, dass
das Unbewusste zum kulturellen Allgemeingut geworden ist.
Auch tatsächliche Vorzüge intellektueller oder
moralischer Art schützen nicht vor Distanz und
Verdächtigungen. Wer sie in den Vordergrund stellt,
zerstört die überlebenswichtige Teamarbeit und
Kommunikation. So erging es zum Beispiel Robert Horton Anfang der
90er Jahre als CEO von BP. Allzu unbefangen demonstrierte er seine
zweifellos überdurchschnittliche Intelligenz. Das Resultat war
der Generalverdacht der Arroganz und Selbstherrlichkeit. Nach drei
Jahren musste er seinen Schreibtisch räumen. – Es ist
demnach ein pragmatisches Gebot der Lebensklugheit, Schwächen
zuzugeben, den Menschen menschlich zu begegnen und sie damit an
sich zu binden.
Aber welche Schwächen soll man zugeben? Wer sucht, der findet.
Sie könnten am Montagmorgen reizbar sein und schon im Vorfeld
sich bei Ihren Mitarbeitern dafür entschuldigen. Und obwohl
Sie sehr gute Präsentationen machen, gestehen Sie, dass Sie
ein wenig schüchtern und nervös sind, wenn sie vor Leuten
sprechen. Loben Sie Ihre Mitarbeiter für Stärken, die Sie
selbst nicht in diesem Ausmaß besitzen. Und zeigen Sie Ihre
Trauer, weil Ihr Lieblingsclub das Fußballspiel verloren hat.
Das mag alles trivial sein. Aber Trivialitäten sind der
Universalkleber für zwischenmenschliche Beziehungen, ganz
besonders im Arbeitsalltag. Hier kann und sollte jeder Chef
wertvolle Punkte sammeln. Es wäre im Gegenteil sogar fatal,
wenn Sie ernsthafte Defizite eingestehen, die Ihre Position und
Autorität untergraben. Geben Sie also nur Schwächen zu,
die Ihrer Kompetenz nicht schaden! Die kleinen Fehler, die jeder
sehen darf, lenken übrigens sehr effektiv von Ihren
großen Fehlern ab.
Zu warnen ist außerdem vor der altbekannten Strategie,
Stärken als Fehler zu verkaufen: „Ich bin ein
Workaholic. Manchmal bin ich zu ungeduldig und mute meinen
Mitarbeitern zuviel zu.“ Das ist leicht durchschaubar und
steht in jedem Ratgeber für Vorstellungsgespräche.
Versuchen Sie auch nicht, Schwächen vorzutäuschen oder
gar zu instrumentalisieren, weil Sie nicht kritisiert oder an
Zusagen erinnert werden wollen: „Verzeihen Sie, aber ich habe
mich wohl nicht klar genug ausgedrückt.“ Die Menschen
verfügen auch ohne rhetorische Schulung über einen hohen
Grad emotionaler Intuition. Lügen verraten sich oft durch
nonverbale Signale. Und Mitarbeiter registrieren in der Regel sehr
genau, was der Chef bei dieser oder jener Gelegenheit gesagt hat.
Rational wie gefühlsmäßig begibt sich also jeder
unehrliche Rhetoriker auf äußerst glattes und
dünnes Eis, wenn er Menschen dauerhaft führen will. Der
geringste Fehler zerstört, oft unbewusst, das Vertrauen. Wenn
Ihre Schwächen keine Schwächen sind, verlieren Sie Ihre
Glaubwürdigkeit.

2. Intuition entwickeln

Gute Führungskräfte vertrauen auf ihre Intuition. Sie
wissen, wann und wo sie Schwächen zeigen können. Sie
interpretieren auch nonverbale Signale sehr gut und entwickeln ein
präzises Gefühl für Stimmungen. Indem sie sich
selbst Ihren Mitarbeitern anvertrauen und Schwächen
offenbaren, schaffen sie enorm viele Informationskanäle, die
sie geschickt auswerten. Gute Chefs sind demnach gute Sensoren, die
das Arbeitsklima zutreffend einschätzen und Probleme oft
erstaunlich frühzeitig antizipieren. Sie nehmen deutlich mehr
wahr, als ihnen freiwillig offenbart wird. Und sie wissen, dass
Glaubwürdigkeit und Vertrauen nicht nur das soziale Kapital
ihrer Firma, sondern einen offenen und ungezwungenen
Informationsfluss begünstigen.
Psychologisches Einfühlungsvermögen oder Empathie birgt
allerdings Gefahren. Auch die beste Führungskraft braucht
zuverlässige Kontaktleute und Berater. Denn Empathie kann
leicht in Projektion umschlagen. Es ist im Grunde ein
erkenntnistheoretisches Problem: Ich kann nicht absolut sicher
sein, ob mein Mitfühlen und meine Identifikation mit dem
anderen tatsächlich ein objektives Bild seines Zustandes
liefert. Womöglich übertrage ich meine vorgefasste oder
unbewusste Meinung auf ihn. Ich spiegle mich also in ihm, statt er
sich in mir. Und das kann auch in der Praxis zu erheblichen
Fehlinterpretationen führen. Ein verantwortungsbewusster Chef
wird bei wichtigen und komplexen Entscheidungen daran interessiert
sein, seine Eindrücke zu überprüfen. Er lässt
sich beraten und ist bereit, seine eigenen Erkenntnisse in Frage zu
stellen. Denn der Zeitdruck und die Vielzahl der Signale
führen schnell zu folgenschweren Irrtümern.

3. Strikte Empathie praktizieren

Empathie, Mitgefühl und Fürsorge sind wichtig, aber
sie gewährleisten an sich noch keine Führungsstärke.
Psychologisch betrachtet macht ein erfolgreicher Chef eine
äußerst sensible und schwierige Gratwanderung. Er
braucht starke Empathie in Kombination mit Autorität. Er
sollte virtuos zwischen Nähe und Distanz wechseln, Menschen
<i>und</i> Aufgaben sehen. Er gibt Fehler zu, steht Rede und
Antwort, kann aber auch unbarmherzig entscheiden. Goffee und Jones
nennen dieses Verfahren „strikte Empathie“. Unter dem
Druck geschäftlichen Überlebens ist es notwendig,
Härte zu zeigen und die verständnisvolle Einfühlung
nicht als einen Selbstzweck zu betreiben, den man in irgendeinem
Seminar gelernt hat. Oft ist eine schonungslose und geradlinige
Empathie gefragt, um unpopuläre Entscheidungen vorzubereiten.
Etwa im Falle einer geplanten Fusion oder einer grundlegenden
Umstrukturierung. Der Chef sollte klar offen legen, was auf die
Firma zukommt und die Mitarbeiter offensiv auf seine Seite ziehen.
Denn Menschen in einem abhängigen Arbeitsverhältnis
empfinden Veränderungen grundsätzlich als bedrohlich und
unangenehm. Es ist also wichtig, Klartext zu reden und ebenso
sachlich wie hart zu überzeugen. Erst dann macht es Sinn, die
notwendigen Schritte zu tun.
Das entscheidende Problem ist freilich, wie strenge Empathie
glaubwürdig praktiziert werden kann. Härte und
Einfühlung sind zweifellos Gegensätze. Psychologisch
grenzen sie an Schizophrenie und bilden ein emotionales Paradoxon.
Werden die Mitarbeiter, die damit konfrontiert sind, nicht erst
recht misstrauisch gestimmt? Strikte Empathie ist jedenfalls ein
Drahtseilakt, der sehr leicht die Glaubwürdigkeit des Chefs
zerstören kann. Seine teilnehmende Fürsorge könnte
als Instrumentalisierung und Manipulation verstanden und damit
zurückgewiesen werden. Dies wird unausweichlich eintreten,
wenn wir Strenge und Mitgefühl isoliert betrachten und als
bloße Managementtechnik betreiben. Die Autoren sind sich
dessen auch bewusst. Und sie weisen darauf hin, dass strikte
Empathie nur dann zum Erfolg führt, wenn Härte und
Anteilnahme durch die Motivation der Führungskraft vermittelt
sind. Leidenschaftliches Interesse an der Sache, hundertprozentige
Hingabe an die Ziele und Visionen der Firma sollten das Bindeglied
zwischen den emotionalen Widersprüchen sein. Bloße
Funktionalität oder egoistisches Eigeninteresse werden dem
Chef nicht zugestanden. Es ist äußerst hart, ein
wirklich guter Chef zu sein. Er kann am besten dann
überzeugen, wenn er in seiner Arbeit menschlich vollkommen
aufgeht und überindividuelle Werte repräsentiert. Dies
allein stellt sicher, dass die notwendigen Härten
äußeren Faktoren (z.B. dem Wettbewerb) zugeschrieben
werden. Dies allein sorgt auch für den Respekt und die
persönliche Integrität des Chefs. Dies allein, sein
leidenschaftliches Engagement, macht ihn menschlich
glaubwürdig und gewinnt die Gefühle der
Mitarbeiter.
Also wieder nur die übliche Motivationslyrik? Und das soll ein
neues Modell psychologischer Führungsstärke sein? Neu ist
zweifellos die Funktion der Motivation, die hier nicht isoliert
herausgeputzt wird. Sie ist das Bindeglied zwischen Distanz und
Nähe, zwischen gnadenloser Entscheidung und menschlicher
Teilnahme. Die Autoren zählen mehrere Beispiele auf, die das
belegen. Alain Levy, der frühere Chef von Polygram, tritt
meist zurückhaltend und rational in Erscheinung. Wenn er mit
jungen Leuten diskutiert, welcher Song für eine Single
ausgekoppelt werden soll, wird er plötzlich enthusiastisch
– bis hin zu emotionalen Ausbrüchen: „Idioten, zu
einer guten Single muss man tanzen können!“ Dies wird
durchaus nicht als Beleidigung, sondern als Signal für
Enthusiasmus und als Bemühen gewertet, wichtiges Wissen zu
vermitteln. Es macht ihn glaubwürdig und menschlich, ja
steigert seine Popularität. Und er beherrscht meisterhaft das
Wechselspiel zwischen Distanz und Nähe. Ein anderes Beispiel
ist Sir Richard Sykes, CEO von Glaxo Wellcome. Ein Forscher wirft
ihm vor, er habe die chemische Formel für ein Produkt nicht
richtig verstanden. Sykes führt ruhig seinen Vortrag zu Ende.
Als der Kollege auf seinem Vorwurf beharrt, springt er entfesselt
von seinem Platz auf und brüllt: „Also gut, Junge! Dann
zeigen Sie mal Ihre verdammten Unterlagen her!“ Damit hat er
sich nicht nur als Mensch geoutet. Sein Zorn signalisiert sein
großes Engagement – und behandelt den Untergebenen
gleichzeitig als vollwertigen Wissenschaftler, den er Ernst nimmt.
Gelegentliche emotionale Ausbrüche sind also durchaus ein
probates Mittel, sofern sie Motivation und übergeordnete
Interessen signalisieren. Sie sollten aber die Distanz nicht
aufheben, sondern sie sinnvoll ergänzen, d.h. Teil eines
Wechselspiels sein. Andere Chefs verfolgen wiederum andere
Methoden. Etwa einen Mix aus Toleranz und verständnisvollem
Zuhören – unterbrochen von unerwarteten, schneidend
kalten Bemerkungen, die sofort signalisieren, dass der Chef die
Verhältnisse wieder herstellt, wenn es um die Sache geht. -
Hier gibt es übrigens keine Patentregel, denn die Technik, die
Sie benutzen, muss Ausdruck Ihrer Persönlichkeit sein, um die
notwendige Wirkung entfalten zu können. Nur die Prämisse
ist klar: Leidenschaftliche Identifikation mit Ihrer Arbeit, ganz
gleich, ob Sie unterkühlt oder eruptiv veranlagt sind.
Goffee und Jones lassen es dabei allerdings nicht bewenden. Sie
geben nicht vor, das Geheimnis der Persönlichkeit
enträtseln zu können. Vielmehr fragen sie danach, wie
erfolgreiche Führungskräfte ihre Persönlichkeit
einsetzen und wie sie effektiv zum Tragen kommt. Sie berufen sich
nicht auf Gurus, zeigen aber, welche gemeinsame Technik Gurus in
Führungspositionen bewusst anwenden. Damit schließt sich
der Kreis ihrer Argumentation harmonisch zusammen. Der vierte Punkt
ist der wichtigste in ihrem Modell. Er kehrt zur Problematik der
Selbsterkenntnis zurück, die bereits in der Frage <i>Why
should anyone be led by you?</i> aufgeworfen wurde.

4. Der Mut zur Einzigartigkeit

Gute Chefs verfügen über eine besondere Art von
Selbsterkenntnis. Sie wissen, worin sie sich von anderen Menschen
<i>unterscheiden</i>. Und sie setzen ihre Einzigartigkeit bewusst
und geschickt ein, um Führungsaufgaben wahrnehmen zu
können. Sie haben also den Mut, sich zu ihrer Einzigartigkeit
zu bekennen und schaffen damit die so notwendige Distanz, die
letztlich ihre Autorität sichert. Ihre pointierte
Andersartigkeit wirkt außerdem sehr motivierend.
Die Problematik der Selbsterkenntnis ist damit nicht einfach
aufgehoben. Um zu wissen, worin ich mich von anderen unterscheide,
benötige ich sehr viel Reflexion, Erfahrung, aber auch
natürliche Begabung und Instinkt. Manche Menschen laborieren
lebenslänglich am Problem ihrer Einzigartigkeit herum, weil
sie sich selbst nicht erkennen wollen oder können – und
weil es sehr viel Courage abverlangt, diese Besonderheit auch
offensiv zu leben. Gerade das, was wir bei großen Vorbildern
lernen können, die Einzigartigkeit ihrer Persönlichkeit,
ist somit am wenigsten imitierbar. Es kommt entschieden auf das
eigene Ich an. Und nur die eigene Persönlichkeit gibt uns die
notwendige Glaubwürdigkeit und Sicherheit im Auftreten.
Äußere und innere Merkmale gibt es wahrlich genug: Z.B
exzentrische oder auffällige Kleidung,
außergewöhnliche Verhaltensweisen, Fantasie,
Vorstellungskraft, Intelligenz und vieles mehr. Es ist aber kein
Katalog von Qualitäten, aus dem ich einfach etwas
auswählen kann. Meine Person bleibt das rätselhafte
Etwas, das solche Eigenschaften authentisch mit Leben füllt.
Und es muss dem Chef gelingen (mit welchen Attributen auch immer)
seine Einzigartigkeit zu signalisieren und zu kommunizieren.
Goffee und Jones geben einige imposante Beispiele: Der ehemalige
CEO von ICI, John Harvey-Jones, hat seine Karriere gewiss nicht mit
seinen popigen Krawatten, seinem Bart und seinen langen Haaren
gemacht. Aber er konnte kraft seiner Einzigartigkeit die Etikette
verletzen, weil er diese Signale zu Kommunikatoren machte. Sie
unterstreichen seine Risikobereitschaft und sein Unternehmertum.
Richard Surface, ehemaliger Chef der Pearl Insurance, verfährt
ganz anders: Mit riesigen und schnellen Schritten pflegt er alle
Leute zu überholen, die vor ihm auf dem Gang laufen. Das mag
wie eine Marotte scheinen, ist aber keine: Ihm gelingt es, rein
physisch Dringlichkeit, Intensität und Dynamik zu
signalisieren. Andere CEOs geben sich wiederum gern als Raubeine,
sprechen starken Dialekt und grenzen sich vom aalglatten
Börsenparkett ab. Wenn es ihrer Persönlichkeit
entspricht, kann das als Urwüchsigkeit und Offenheit, aber
auch als furchteinflößende Unberechenbarkeit
interpretiert werden. Es gibt aber absolut keine Patentantwort
darauf, welche Attribute die richtigen sind. Stil und
Persönlichkeit sollten schöpferisch sein und zueinander
passen. Wichtig ist nur, <i>dass</i> Attribute entwickelt werden,
die erfolgreich eingesetzt werden. Und das ist schwierig:
„Why should anyone be led by you?“, diese entscheidende
Frage nach dem eigenen Selbstverständnis kann nur beantwortet
werden, wenn Sie wissen, worin Sie sich von anderen unterscheiden
– und wenn es Ihnen gelingt, dies bewusst und gekonnt zu
kommunizieren.
Abschließend betonen die Autoren noch einmal, dass alle vier
Kriterien für psychologische Führungsstärke
erforderlich sind. Der Mut zur Einzigartigkeit darf z.B. nicht die
notwendige Nähe und Empathie des Chefs zerstören –
etwa in Form von Arroganz oder Tyrannei. Alle Kriterien sollten
sich in einem flexiblen Wechselspiel bewegen, weil sie sich nur in-
und auseinander entwickeln können. Einzigartigkeit bleibt aber
dennoch das distinguierte Merkmal des Chefs. Selbsterkenntnis ist
also auch hier der erste Schritt zur Besserung. Alle Techniken, die
Sie erlernen können, sollten an die Frage anknüpfen, die
Sie nur selbst beantworten können: Wer bin ich? Was ist das
Besondere an meiner Person? Haben Sie eine Antwort gefunden, dann
benutzen Sie sie zu Ihrem Vorteil. Das Motto von Goffee und Jones
lautet: Seien Sie Sie selbst – aber mit Bewusstsein und
Geschick.