Zitate: Moderne, Postmoderne, Mobilität

Günther Anders
Die Antiquiertheit des Menschen
Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution
(1956)

(Zum Argument: Technik ist nur ein Mittel zum Zweck. Ob der Zweck gut oder schlecht ist, bestimmen wir selbst:)

Seine Gültigkeit ist mehr als zweifelhaft. Die Freiheit der Verfügung über Technik, die es unterstellt; sein Glaube, dass es Stücke unserer Welt gebe, die nichts als „Mittel“ seien, denen ad libitum „gute Zwecke“ angehängt werden könnten, ist reine Illusion. Die Einrichtungen selbst sind Fakten; und zwar solche, die uns prägen. Und diese Tatsache, dass sie uns, gleich welchem Zwecke wir sie dienstbar machen, prägen, wird nicht dadurch, dass wir sie verbal zu „Mitteln“ degradieren, aus der Welt geschafft.

Was uns prägt und entprägt, was uns formt und entformt, sind eben nicht nur die durch die „Mittel“ vermittelten Gegenstände, sondern die Mittel selbst, die Geräte selbst: die nicht nur Objekte möglicher Verwendung sind, sondern durch ihre festliegende Struktur und Funktion ihre Verwendung bereits festlegen und damit auch den Stil unserer Beschäftigung und unseres Lebens, kurz: uns.

Massenmenschen produziert man dadurch, dass man sie Massenware konsumieren lässt; was zugleich bedeutet, dass sich der Konsument der Massenware durch seinen Konsum zum Mitarbeiter bei der Produktion des Massenmenschen (bzw. zum Mitarbeiter bei der Umformung seiner selbst in einen Massenmenschen) macht.

Keine Entprägung, keine Entmachtung des Menschen als Menschen ist erfolgreicher als diejenige, die die Freiheit der Persönlichkeit und das Recht der Individualität scheinbar wahrt. Findet die Prozedur des „conditioning“ bei jedermann gesondert statt: im Gehäuse des Einzelnen, in der Einsamkeit, in den Millionen Einsamkeiten, dann gelingt sie noch einmal so gut. Da die Behandlung sich als „fun“ gibt; da sie dem Opfer nicht verrät, dass sie ihm Opfer abfordert; da sie ihm den Wahn seiner Privatheit, mindestens seine Privatraums, belässt, bleibt sie vollkommen diskret.

Die letzten Reste dessen, was auch in standardisierten Ländern an häuslichem Milieu, an gemeinsamem Leben, an Atmosphäre noch bestanden hatte, sind damit liquidiert. Ohne dass auch nur ein Wettstreit zwischen dem Reich des Heims und dem der Phantome ausbräche, ohne dass er auch nur auszubrechen brauchte, hat dieses bereits in dem Augenblick gewonnen, in dem der Apparat seinen Einzug in die Wohnung hält: er kommt, macht sehen, und hat schon gewonnen.

Da uns die Geräte das Sprechen abnehmen, nehmen sie uns auch die Sprache fort; berauben sie uns unserer Ausdrucksfähigkeit, unserer Sprachgelegenheit, ja unserer Sprachlust – genau so wie uns Grammophon- und Radiomusik unserer Hausmusik beraubt.

Wenn das Ereignis in seiner Reproduktionsform sozial wichtiger wird als in seiner Originalform, dann muss das Original sich nach seiner Reproduktion richten, das Ereignis also zur bloßen Matrize ihrer Reproduktion werden.

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Es ist unsinnig, wenn wir unsere Gesellschaft in Frage stellen wollen, ohne zugleich die Grenzen der Sprache zu bedenken, mittels deren (...) wir sie in Frage zu stellen vorgeben: Das ist so, als wollte man den Wolf vernichten und machte es sich in seinem Rachen bequem.
Roland Barthes, Das Reich der Zeichen

Wir wissen, dass die Hauptbegriffe der aristotelischen Philosophie in gewisser Weise durch die Fügungen der griechischen Sprache erzwungen worden sind.
Roland Barthes, Das Reich der Zeichen

Heute kann man im Labyrinth der Zeichen umkommen, wie man früher umkam, weil keine Zeichen vorhanden waren.
(Paul Virilio)

Welche Veränderungen müssen jetzt eintreten in unserer Anschauungsweise und in unsren Vorstellungen! Sogar die Elementarbegriffe von Zeit und Raum sind schwankend geworden. Durch die Eisenbahnen wird der Raum getötet, und es bleibt nur noch die Zeit übrig.
Heinrich Heine

Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urteilen gewöhnt, und jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Leute von der Eisenbahn aus kennenlernen.
Friedrich Nietzsche

Jede neue Maschine, deren Eisenarme der Dampf in Bewegung setzt, zerreibt ein religiöses, politisches oder soziales Dogma des Mittelalters zu Atomen. Törichte Romantik, welche den Leichnam der sogenannten guten alten Zeit, nachdem sie denselben mit allerhand Flitter aufgeputzt, galvanisiert und der Welt einreden will, der Moder sei Leben. Ein ungeheuerer Umschwung der Ansichten und Verhältnisse bereitet sich vor, alles ist auf reale Ziele und Zwecke gerichtet.
Johannes Scherr, Michel. Geschichte eines Deutschen (1858)

Theodor W. Adorno
Prolog zum Fernsehen (1953)

Dem Ziel, die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe erreichenden Abbild noch einmal zu haben, dem traumlosen Traum, nähert man sich durchs Fernsehen und vermag sogleich ins Duplikat der Welt unauffällig einzuschmuggeln, was immer man der realen für zuträglich hält.

Der Druck, unter dem die Menschen leben, ist derart angewachsen, dass sie ihn nicht ertrügen, wenn ihnen nicht die prekären Leistungen der Anpassung, die sie einmal vollbracht haben, immer aufs Neue vorgemacht und in ihnen selber wiederholt würden. Freud hat gelehrt, dass die Verdrängung der Triebregungen nie ganz und nie für die Dauer gelingt, und dass daher die unbewusste psychische Energie des Individuums unermüdlich dafür vergeudet wird, das, was nicht ins Bewusstsein gelangen darf, weiter im Unbewussten zu halten. Diese Sisyphusarbeit der individuellen Triebökonomie scheint heute „sozialisiert“, von den Institutionen der Kulturindustrie in eigene Regie genommen, zum Vorteil der Institutionen und der mächtigen Interessen, die hinter ihnen stehen. Dazu trägt das Fernsehen, so wie es ist, das Seine bei. Je vollständiger die Welt als Erscheinung, desto undurchdringlicher die Erscheinung als Ideologie.

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Bill Joy
Warum die Zukunft uns nicht braucht
FAZ, 6. Juni 2000, S. 49f.

Da wir ständig neue wissenschaftliche Durchbrüche erleben, müssen wir uns erst noch klar machen, dass die stärksten Technologien des einundzwanzigsten Jahrhunderts - Robotik, Gentechnik und Nanotechnologie - ganz andere Gefahren heraufbeschwören als die bisherigen Technologien. Vor allem Roboter, technisch erzeugte Lebewesen, und Nanoboter besitzen eine gefährliche Eigenschaft: Sie können sich selbständig vermehren. Eine Bombe explodiert nur einmal, aus einem einzigen Roboter können viele werden, die rasch außer Kontrolle geraten.
... am gefährlichsten ist wohl die Tatsache, dass selbst Einzelne und kleine Gruppen diese Technologien missbrauchen können. Dazu benötigen sie keine Großanlagen und keine seltenen Rohstoffe, sondern lediglich Wissen. (...)
Ich denke, es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, wir stehen an der Schwelle zu einer weiteren Perfektion des Bösen in seinen extremsten Ausprägungen; und diesmal werden die so geschaffenen schrecklichen Möglichkeiten nicht nur Nationalstaaten zur Verfügung stehen, sondern auch einzelnen Extremisten. (...)

Wir werden die Welt vollkommen neu gestalten können, im Guten wie im Schlechten. Replikations- und Schöpfungsprozesse, die bisher der Natur vorbehalten waren, geraten in den Einflussbereich des Menschen.

Die Technologien, die in den atomaren, biologischen und chemischen Massenvernichtungswaffen des zwanzigsten Jahrhunderts Anwendung finden, waren und sind weitgehend militärischen Charakters und wurden in staatlichen Forschungseinrichtungen entwickelt. In deutlichem Gegensatz dazu handelt es sich bei Gentechnik, Nanotechnologie und Robotik um kommerziell genutzte Technologien, die fast ausschließlich von privaten Unternehmen entwickelt werden. In unserer Zeit eines triumphierenden Kommerzialismus liefert die Technologie - unter Zuarbeit der Wissenschaft - eine Reihe nahezu magischer Erfindungen, die Gewinne unerhörten Ausmaßes versprechen. Aggressiv folgen wir den Versprechen dieser neuen Technologien innerhalb eines entfesselten, globalisierten Kapitalismus mit seinen vielfältigen finanziellen Anreizen und seinem Wettbewerbsdruck.

Angesichts solcher Aussichten raten manche uns ernsthaft, die Erde möglichst bald zu verlassen.

Die einzig realistische Alternative, die ich sehe, lautet Verzicht: Wir müssen auf die Entwicklung allzu gefährlicher Technologien verzichten und unserer Suche nach bestimmten Formen des Wissens Grenzen setzen.
Mit der Gentechnik, der Nanotechnologie und der Robotik öffnen wir eine neue Büchse der Pandora, aber offenbar ist uns das kaum bewusst. Ideen lassen sich nicht wieder zurück in eine Büchse stopfen; anders als Uran oder Plutonium müssen sie nicht abgebaut und aufgearbeitet werden, und sie lassen sich problemlos kopieren. Wenn sie heraus sind, sind sie heraus.

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Ray Kurzweil
"Die Maschinen werden uns davon überzeugen, dass sie Menschen sind."
(Interview, FAZ, 5. Juli 2000, S. 51f.)

Technologie wächst von Natur aus exponentiell.

Computerkraft nahm exponentiell zu, schon bevor es integrierte Schaltkreise und Transistoren gab, und wird weiter zunehmen, auch nach Ablauf von Moores Gesetz. Dann kommt das nächste Paradigma, mit Computern, die auch die dritte Dimension nutzen. Chips sind flach, unser Hirn ist in drei Dimensionen organisiert. Es stellt eine höchst ineffiziente Form der Datenverarbeitung dar, ist extrem langsam, denn seine elektrochemischen Prozesse bringen gerade mal zweihundert Kalkulationen pro Sekunde zustande. Seine neuronalen Strukturen sind massiv, weit entfernt von nanotechnologischen Miniaturen, aber es ist dreidimensional verpackt und hat darum ungeheure Kapazitäten.

Alles wird Teil der Computerindustrie. Telekommunikation, Biotechnologie, Miniaturisierung, Lebenserwartung - all dies wächst exponentiell und setzt deflationäre Kräfte frei.

Als nächstes werden die Lebewesen, die sich die Technik ausdachten, mit dieser Technik verschmelzen. Diesen Verschmelzungsprozess nennen wir heute noch Kommunikation. Dadurch kann sich die Beschleunigung fortsetzen.

Am Ende des Jahrzehnts wird es Computer geben, die wir zwar noch nicht in uns, aber dicht an uns tragen. Schauen Sie doch auf diese Entwicklung: der CRA, der ein ganzes Hochhaus füllte, der Computer der siebziger Jahre, der eine Zimmerflucht füllte, der Desktop, das Notebook, die Palmtops und Handys - sie alle verschwinden, Computer werden unsichtbar. Aus Brillen und Kontaktlinsen werden Bilder direkt auf unsere Retina projiziert, kein Stück Butter ohne Mikrochip. Klänge aus Minigeräten direkt in unsere Ohren gefüttert. Die Elektronik für Internetverbindungen wird so winzig sein, dass sie bequem in Brillen oder unserer Kleidung zu verstauen sind.

Der Bildschirm kann das gesamte Blickfeld einnehmen, während das Computersystem registriert, was Augen und Kopf tun. Damit treten wir in eine visuelle Virtual Reality. In zehn Jahren wird das World Wide Web so aussehen. Eine Website zu besuchen wird dann bedeuten, in ein virtuelles Umfeld einzutauchen.

Frage: Was ist in dreißig Jahren zu erwarten?

Geräte, die in unserem Hirn tätig werden. Wenn Nanoboter zum Beispiel neben ausgewählten Nervenfasern Position beziehen, können sie eine Virtual Reality von innen heraus erzeugen, indem sie die Signale ersetzen, auf die das Gehirn reagiert. Signale, die anscheinend von unseren Augen ausgehen, sendet in Wahrheit der Computer. Jetzt wird es möglich, einander zu berühren. Alle fünf Sinne werden angesprochen. Vom Geschäftstermin bis zum Sex kann das Leben sich in der Virtual Reality abspielen. Nanoboter können die Sinne stimulieren und unsere Empfindungen intensivieren, wenn nicht gar modifizieren.

Ich sage doch nicht, dass wir uns entscheiden können, ob diese Technologien entstehen. Ich sage: Diese Technologien werden mit Sicherheit noch zu unseren Lebzeiten entstanden sein.

Nanoboter können unser Hirn verbessern. Wir haben nun hundert Trillionen Verbindungen, in Zukunft werden wir eine Million oder Trillion Mal so viel unser Eigen nennen. Dadurch können wir unser Gedächtnis und unsere Denkleistung vergrößern. Menschliche Intelligenz wird steigen. Der Sinn des Lebens besteht für mich darin, an der Evolution teilzunehmen und Wissen zu schaffen. Unter Wissen verstehe ich nicht nur Information, sondern Musik und Kunst und Literatur und Ausdrucksformen, die wir noch nicht kennen. Ich fühle mich frustriert, dass ich so viele Bücher nicht lesen, so viele Menschen nicht treffen, so viele Websites mir nicht anschauen kann.

Wenn eine Maschine die Komplexität des Menschen erreicht oder sogar übertrifft und auch noch seine Werte teilt, werden wir anders denken. Ich betrachte das als eine Expansion unserer Zivilisation. Zwischen Maschine und Mensch wird es keine klaren Unterschiede mehr geben. Die Maschinen werden uns davon überzeugen, dass sie ein Bewusstsein haben. Alle subtilen Regungen, die wir mit Bewusstsein assoziieren, werden in ihnen vorkommen. Das ist kein wissenschaftlicher Beweis ihres Bewusstseins, aber die Menschen werden es ihnen glauben. Und wenn wir ihnen nicht glauben, könnten sie ganz schön böse werden.

Wer gegenwärtig einen neuen Computer kauft, wirft die alten Dateien nicht weg, sondern überträgt sie. Software mit ihren Dateien hat also eine Lebenserwartung, die nicht von der Hardware abhängt. Unser Verständnis von Leben und Tod darf nicht zulassen, dass die Datei des menschlichen Geistes, die über das genetische Erbe hinaus auch unsere Erinnerung, unsere Fähigkeiten, unsere Persönlichkeit umfasst, mit der Hardware stirbt. Wir werden darum Software und Hardware trennen müssen. Das bedeutet nicht, dass das Leben unserer Dateien fortan ewig währte. Sie leben so lange, wie sie für jemanden von Bedeutung sind.

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Das Gehirn beim Betrachten einer Kröte:

Nun, zunächst entsteht ein zweidimensionales Bild auf der Netzhaut. Die Ganglienzellen der Netzhaut verwandeln dieses Bild in Erregungsmuster, die dann von Nervenzellen in der Großhirnrinde analysiert werden: Sie reagieren auf einfache Merkmale wie Orientierungen, Kontraste oder Texturen. Jetzt beginnt das Gehirn ein kombinatorisches Spiel, vergleicht diese Informationen mit bereits gespeicherten Gedächtnisinhalten. Wenn dort etwas Ähnliches vorhanden ist, stellt sich plötzlich ein stabiler Zustand ein, der dann zu der bewussten Wahrnehmung führt: "Hier ist eine Kröte". All das ist in ein paar Hundertstelsekunden erledigt gewesen - war ja auch ein einfaches Objekt.

... ja, Wahrnehmung ist immer die Folge eines erwartungsgesteuerten Suchprozesses. Bestes Beispiel ist unser Sehsystem. Das Auge bewegt sich ständig auf der Suche nach etwas Interessantem. Die erste aktive Leistung, die ich hier vollbracht habe, war, unter all den Dingen in diesem Zimmer meine Aufmerksamkeit auf die Kröte zu lenken, mich darauf zu konzentrieren, das Objekt vom Hintergrund abzugrenzen und nach irgendwelchen sinnvollen Beziehungen zu suchen. Dabei habe ich sicher viele Hypothesen aufgestellt, bestimmte Beziehungen gegenüber anderen bevorzugt und dafür gesorgt, dass jene Neuronengruppen abgefragt werden, die Signale entsprechend meinen Erwartungen ausgesendet haben. Wolf Singer, Neurowissenschaftler (Spiegel Special, Nr 4/2003, S. 20 u. 21)