Zitate: Inuit-Dichtungen

Quelle:
Knud Rasmussen, Schneehüttenlieder. Eskimoische Gesänge.
Hrsg. u. übersetzt von A. Schmücker, Essen/Freiberg i.Br. 1947

Ich begab mich auf Reisen über das Meer.
Staunend hörte ich die Stimme der Tiefe,
des Meeres Gesang
Langsam und still betrachtend ging ich hinaus,
und das gewaltige Neueis seufzte.
(S. 14)

Mein Atemzug

(So nenne ich diesen Gesang,
weil ich ihn ebenso notwendig singen,
wie ich atmen muss.)

Singen will ich ein Lied,
ein Lied, das stark ist.

Krank lag ich seit Herbst,
hilflos lag ich, als sei ich
mein eigenes Kind.

Voller Trübsal wünsche ich
meine Frau in eines anderen Haus,
zu einem Manne,
der ihr eine Zuflucht sein kann,
fest und sicher wie das Wintereis.

(…)

Erinnern möchte ich mich
des großen, weißen Eisbären,
der mit hocherhobenem Hinterteile kam,
seine Schnauze tief im Schnee.
Er bildete sich ein,
dass er allein ein männliches Wesen sei
und kam auf mich zugelaufen.

Er riss mich nieder,
Gang für Gang.
Dann zog er pustend seines Weges
und legte sich zur Ruhe nieder
hinter eines Eisbergs Rundung.
Sorglos war er und ahnte nicht,
dass den Tod ich bringen würde.
Er bildete sich ein,
dass er allein ein männliches Wesen sei
und glaubte nicht,
dass auch ich eine Mannsperson war!

(…)

Wie lange muss ich hier noch liegen?
Wie lange noch?
Und wie lange muss sie betteln gehen
um Speck für ihre Lampe,
um Rentierfelle für die Kleider
und um Fleisch für eine Mahlzeit?
Eine hilflose Arme, eine schutzlose Frau ist sie!

Kennst du dich selbst?
So wenig weißt du doch von dir,
indes der Abend mit dem Tagesgrauen wechselt
und der Frühling sich dem Wohnplatz nähert.
(S. 15-18)

Angst ist es,
sich abzuwenden
und nach Einsamkeit zu sehnen
inmitten froher Menschenschar.

Freude ist es doch
zu spüren, wie die Wärme
in die große Welt kommt,
und zu sehen,
wie die Sonne in der Sommernacht
ihrer alten Fußspur folgt.
(S. 20)

Lied an einen Geizhals

Einmal hatte man entdeckt, dass ein Mann stets bei Nacht, wenn die anderen schliefen, Fleisch aus seinem Vorratslager holte und sich heimlich satt aß (…). Sobald er gegessen hatte, wickelte er die Überreste in ein Fell und verbarg sie unter der Schlafbank. Einer der Hausgenossen rächte sich an ihm, indem er folgendes Lied dichtete, das er eines Abends unter schadenfrohem Gelächter der Zuhörer vortrug. Man sagt, dass der Geizhals sich so schämte, dass er seitdem nie mehr eine Mahlzeit heimlich einnahm.

Worte setzte ich
zu einem Lied zusammen,
zu einem kleinen Liede,
das ich eines Abends mit nach Hause brachte.
Unerkennbar und gut eingehüllt
Warf ich’s unter meine Schlafbank.
Keiner sollte Anteil daran haben,
keiner sollte es erleben;
denn nur mir allein sollt’ es gehören,
mir nur, mir, mir,
heimlich und ganz ungeteilt.
(S. 24)

Worte

Ich bin ein Friedfertiger –
ja, ich hier, ich treibe niemals Spott,
ich häufe niemals böse Worte auf andere,
das ist nun meine Gewohnheit,
so bin ich.
Worte bringen Bewegung,
und sie verschaffen Ruhe,
Worte geben wahren Bescheid,
und Worte bringen die Lüge
(S. 31)

Müde sind meine Augen,
meine verbrauchten Augen!
Und nie mehr werden sie folgen können
dem Zuge des Narwals,
wenn dieser aus der Tiefe schießt
und durch die Wogen des Meeres bricht,
und nie mehr werden die Muskeln beben,
wenn ich zur Harpune greife –
ach, niemals mehr!

Nun wünsche ich nur,
dass die Seelen aller großen Tiere,
die ich auf dem Meer getötet,
helfen möchten, zu verscheuchen
meine quälenden Gedanken.
Nun wünsche ich nur,
dass Erinnerung an meine großen Jagden
mich erheben könnte
aus des Alters Ohnmacht.
(S. 33)

Mücke und Kälte,
diese Plagen,
kommen nie zugleich.
(S. 39)

Bewegung

Das große Meer
bringt mich in Bewegung!
Das große Meer
versetzt mich in Fahrt!
Es bewegt mich wie Algen auf Stein
im rinnenden Fluss.

Das Himmelsgewölbe
bringt mich in Bewegung!
Der gewaltige Wind
bewegt meinen Sinn!
Sie haben mich mitgerissen,
dass ich zittre vor Freude.
(S. 58)

Hymne an den Geist der Luft

Hier stehe ich,
demütig, mit weit ausgebreiteten Armen,
denn der Lüfte Geist
lässt köstliche Nahrung zu mir niedersinken.

(…)

Hier stehe ich,
inmitten großer Freude.
Und diesmal war es ein alter Seehund,
der anfing zu blasen durchs Atemloch.
Ich kleiner Mensch
stand aufrecht darüber,
und voller Spannung
streckte ich den Körper,
bis ich die Harpune ins Tier trieb
und es an Land zog.
(87/88)

Der Eisbär

Ich sah einen Bären
auf treibendem Eis.
Er war wie ein ungefährlicher Hund,
der wedelnd mir entgegenlief.
So gern hätte er mich gleich gefressen,
und ärgerlich schnurrte er umher,
als ich hurtig aus dem Wege sprang.
Nun spielen wir Haschen
vom Morgen bis spät in den Tag hinein.
Aber endlich wurde er so müde,
dass er nicht mehr imstande war.
Da stieß ich den Speer ihm in die Flanke.
(S. 92)

Verachtung

Hart war ich
im Wort und beim klatschenden Schlag;
denn er kam mir zuvor
und riss gewaltig den Mund auf
und brauchte böse, giftige, scheltende Worte.
Ei – ei! Hart war mein klatschender Schlag,
und mein Kopfstoß schloss ihm die Augen!
(S. 121)