Zitate: Erkenntnistheorie

Jedes Vermögen, das ein Mensch in sich findet, ist der Maßstab, nach welchem er das gleiche Vermögen bei einem anderen beurteilt. Ich beurteile deinen Gesichtssinn nach meinem Gesichtssinn, dein Gehör nach meinem Gehör, deine Vernunft nach meiner Vernunft, dein Vergeltungsgefühl nach meinem Vergeltungsgefühl, deine Liebe nach meiner Liebe. Ich habe kein anderes Mittel und kann kein anderes Mittel haben, sie zu beurteilen.
Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle

Zum Teufel mit Ideen! Sie sind Landstreicher, Vagabunden, die an die Hintertür deines Geistes klopfen, jede nimmt dir ein bisschen von deiner Substanz, jede trägt einige Krümel jenes Glaubens an ein paar einfache Begriffe hinweg, an die du dich klammern musst, wenn du anständig leben willst und leicht sterben möchtest!
Joseph Conrad, Lord Jim

Friedrich Nietzsche
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (1873)

Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten.
Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wird nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedes Mal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue. Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den „Ton“ nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. Wie der Ton als Sandfigur, so nimmt sich das rätselhafte X des Dings an sich einmal als Nervenreiz, dann als Bild, endlich als Laut aus. Logisch geht es also jedenfalls nicht bei der Entstehung der Sprache zu, und das ganze Material, worin und womit später der Mensch der Wahrheit, der Forscher, der Philosoph arbeitet und baut, stammt, wenn nicht aus Wolkenkuckucksheim, so doch jedenfalls nicht aus dem Wesen der Dinge.

Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.

Friedrich Nietzsche
Über das Pathos der Wahrheit

Dem Menschen geziemt aber allein der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht eigentlich durch ein fortwährendes Getäuschtwerden? Verschweigt ihm die Natur nicht das allermeiste, ja gerade das Allernächste, z.B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches „Bewusstsein“ hat. In dieses Bewusstsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg. O der verhängnisvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstheits-Zimmer hinaus- und hinabzusehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend.
„Lasst ihn hängen!“, ruft die Kunst. „Weckt ihn auf!“, ruft der Philosoph im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer – vielleicht träumt er dann von den "Ideen" oder von der Unsterblichkeit. Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntnis, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung.

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Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches "Erkennen"; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, umso vollständiger wird unser "Begriff" dieser Sache, unsere "Objektivität" sein.
Nietzsche, Zur Genealogie der Moral

Manche Dinge sind Tatsachen im Sinn der Statistik oder weil sie auf einem Stück Papier stehen oder auf einem Tonband aufgezeichnet sind oder weil sie als Beweisstücke vorliegen. Und andere Dinge sind Tatsachen, weil sie Tatsachen sein müssen, weil alles andere keinen Sinn ergäbe.
Raymond Chandler, Playback

Welches besondere Vorrecht besitzt diese kleine Bewegung im Gehirn, die wir Denken nennen, dass wir sie in dieser Weise zum Modell des gesamten Universums machen müssten?
David Hume, Dialoge über die natürliche Religion

Warum ein geordnetes System nicht so gut aus dem Bauch wie aus dem Gehirn hervorgesponnen werden kann, wird sich in befriedigender Form schwer begründen lassen.
David Hume, Dialoge über natürliche Religion

Sie haben, so wie Kant, etwas in die Menschheit gebracht, das ewig in ihr bleiben wird. Er, dass man von der Untersuchung des Subjekts ausgehen, Sie, dass die Untersuchung aus Einem Grundsatze geführt werden müsse.
(Johann Gottlieb Fichte an den Kollegen K.L. Reinhold)

Diesem meinem Strumpfe gebe ich Streifen, Blumen, Sonne, Mond und Sterne, alle möglichen Figuren, und erkenne: wie alles dies nichts ist, als ein Produkt der, zwischen dem Ich des Fadens und dem Nicht-Ich der Drähte schwebenden produktiven Einbildungskraft der Finger.
Jacobi (an Fichte)

Die toten und bewusstlosen Produkte der Natur sind nur misslungene Versuche der Natur sich selbst zu reflektieren, die sogenannte tote Natur aber überhaupt eine unreife Intelligenz, daher in ihren Phänomenen noch bewusstlos schon der intelligente Charakter durchblickt. – Das höchste Ziel, sich selbst ganz Objekt zu werden, erreicht die Natur erst durch die höchste und letzte Reflexion, welche nichts anderes als der Mensch, oder, allgemeiner das ist, was wir Vernunft nennen, durch welche zuerst die Natur vollständig in sich selbst zurückkehrt, und wodurch offenbar wird, dass die Natur ursprünglich identisch ist mit dem, was in uns als Intelligentes und Bewusstes erkannt wird.
F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800)

Die vollendete Theorie der Natur würde diejenige sein, kraft welcher die ganze Natur sich in eine Intelligenz auflöste.
F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800)

... wenn alle Philosophie darauf ausgehen muss, entweder aus der Natur eine Intelligenz, oder aus der Intelligenz eine Natur zu machen, so ist die Transzendental-Philosophie, welche diese letztere Aufgabe hat, die andere notwendige Grundwissenschaft der Philosophie.
F.W.J. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800)

Die Natur verstummt auf der Folter; ihre treue Antwort auf redliche Frage ist: Ja! Ja! Nein! Nein! Alles übrige ist von Übel.
Goethe, Maximen und Reflexionen
(nach Matthäus, 5, 37)

Goethes Polemik gegen Newton:
Der Newtonsche Versuch, auf dem die herkömmliche Farbenlehre beruht, ist von der vielfachsten Complikation, er verknüpft folgende Bedingungen.
Damit das Gespenst erscheine ist nötig: Erstens – ein gläsern Prisma; zweitens – dreiseitig; drittens – klein; viertens – ein Fensterladen; fünftens – eine Öffnung darin; sechstens – diese sehr klein; siebentens – Sonnenbild, das hereinfällt; achtens – aus einer gewissen Entfernung; neuntens – in einer gewissen Richtung aufs Prisma fällt; zehntens – sich auf einer Tafel abbildet; eilftens – die in einer gewissen Entfernung hinter das Prisma gestellt ist.
Goethe, Farbenlehre, Polemischer Teil

Wer weiß etwas von Elektrizität, sagte ein heiterer Naturforscher, als wenn er im Finstern eine Katze streichelt oder Blitz und Donner neben ihm niederleuchten und rasseln? Wie viel und wenig weiß er alsdann davon?
Goethe, Farbenlehre

Die Mathematiker sind eine Art Franzosen: redet man zu ihnen, so übersetzen sie es in ihre Sprache, und dann ist es alsobald ganz etwas anderes.
Goethe, Farbenlehre

Vivisektion:
Die wirkliche Zerstückelung lebender Tierkörper zum Zwecke der Erforschung oder Demonstration einzelner Reaktionen ist gleichsam nur die sinnfällige Außenseite, das experimentelle Korrelat zu der Theorie von Organismus, Leben und Krankheit überhaupt. Die Theorie, nicht erst das Experiment, trieb immer schon Vivisektion, indem sie sich aus lebenden Wesen reine Objekte der Naturerkenntnis schuf oder im Lebendigen das reine Objekt ergriff.
Dolf Sternberger, Panorama oder Ansichten über das 19. Jahrhundert

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Parmenides von Elea
(um 500 v. Chr.)

Früher als Sokrates und Platon hat er nämlich begriffen, dass die Wirklichkeit sowohl einen erkennbaren als einen meinbaren Teil enthält und dass das Meinbare etwas Unzuverlässiges ist, in vielerart Zuständen und Wandlungen Befindliches, in dem es untergeht und wächst und sich jedem andern gegenüber anders und für die sinnliche Wahrnehmung nicht immer in derselben Weise demselben gegenüber verhält, während das Erkennbare anderer Art ist; es ist nämlich aus einem Glied und unbeweglich und nicht entstanden, wie er selbst sagt, und mit sich selbst identisch und bleibend im Sein.
(Plutarch)

Ein Gemeinsames ist es für mich, von woher ich anfange; denn ich werde dorthin wieder zurückkommen.

... es ist ausgeschlossen, dass du etwas erkennst, was nicht ist, oder etwas darüber aussagst: denn solches lässt sich nicht durchführen.

.... denn dass man es erkennt, ist dasselbe, wie dass es ist.

Denn niemals kann erzwungen werden, dass ist, was nicht ist.

Einzig also noch übrig bleibt die Beschreibung des Weges, dass es ist. Auf diesem Weg gibt es sehr viele Zeichen: dass Seiendes nicht hervorgebracht und unzerstörbar ist, einzig, aus einem Glied, unerschütterlich, und nicht zu vervollkommnen; weder war es, noch wird es einmal sein, da es jetzt in seiner Ganzheit beisammen ist, eins, zusammengeschlossen.
Denn welche Herkunft für es wirst du untersuchen wollen? Wie, woher wäre es gewachsen? Ich werde nicht gutheißen, dass du sagst oder gar verstehst: aus Nichtseiendem. Denn welche Verbindlichkeit könnte es dazu veranlasst haben, vom Nichts anfangend, sich an einem späteren oder früheren Zeitpunkt zu entwickeln? Also ist unumgänglich, dass es entweder ganz und gar ist oder überhaupt nicht. - Aber auch nicht aus Seiendem: denn die Kraft der Überzeugung wird es nie zulassen, dass etwas darüber hinaus entsteht. (...) Die Entscheidung hierüber liegt doch hierin: Entweder ist es, oder es ist nicht; und entschieden worden ist ja, den einen Weg als unerkennbar und unbenennbar aufzugeben, da er kein wahrer Weg ist, während es den anderen Weg gibt und dieser auch wirklich stimmt. Wie könnte deshalb Seiendes erst nachher sein, wie könnte es entstehen? Den weder ist es, wenn es entstanden wäre, noch wenn es künftig einmal sein sollte. Also ist Entstehung ausgelöscht und unerfahrbar Zerstörung.
Auch teilbar ist es nicht, da es als Ganzheit ein Gleiches ist. Es ist ja nicht irgendwie an dieser Stelle ein Mehr oder an jener ein Weniger, das es daran hindern könnte, ein Geschlossen-Zusammenhängendes zu sein. Sondern es ist als Ganzheit ein Geschlossen-Zusammenhängendes; denn Seiendes schließt sich Seiendem an.

Edgar Allan Poe
Die Morde in der Rue Morgue (1841)

Die Geisteszüge, welche landläufig für analytische gelten, sind, an und für sich, der Analyse selbst nur wenig zugänglich.

Wie sich der starke Mensch begeistert seiner körperlichen Fähigkeiten freut, indem er an allen solchen Übungen Gefallen hat, die seine Muskeln zum Einsatz bringen, so entzückt den Analytiker jene geistige Wirkungskraft, welche entwirrt. Er zieht Genuss aus noch den banalsten Verrichtungen, bringen sie nur seine Gaben recht ins Spiel. Er findet Gefallen an Denkaufgaben, an Rätseln, an Hieroglyphen, und bei ihrer aller Lösung legt er einen Grad von Scharfsinn an den Tag, welcher dem gemeinen Begreifen außernatürlich erscheint.

Doch rechnerisch bestimmen heißt nicht eigentlich analysieren. Ein Schachspieler zum Beispiel tut das eine ohne jedes Bemühen um das andere.

(Beim Schach) ...wird fälschlich (ein nicht ungewöhnlicher Irrtum) für tiefgründig gehalten, was nur verwickelt ist. Mächtig wird hier die Aufmerksamkeit ins Spiel gerufen. Wenn sie nur einen Augenblick erschlafft, ist schon ein Versehen begangen, das Nachteil oder Niederlage bringt.

Beim Damenspiel hingegen, wo die Züge gleichförmig sind und nur geringe Abweichungen haben, sind auch die möglichen Folgen von Unachtsamkeit geringer, und da die bloße Aufmerksamkeit vergleichsweise unbeschäftigt bleibt, gehen alle Vorteile, die von den Parteien errungen werden, einzig auf höheren Scharfsinn zurück. (...) Gewöhnlicher Hilfsquellen beraubt, versetzt sich der Analytiker in den Geist seines Gegners, identifiziert sich mit ihm und wird so nicht selten, gar auf einen Blick, der einzigen Methode gewahr (zuweilen einer wahrhaft absurd einfachen), mit welcher er irreführen oder zu Fehleinschätzungen verleiten kann.

Der beste Schachspieler der Christenheit mag grad ein wenig mehr noch sein als eben der beste Meister des Bretts; doch Fertigkeit im Whist schließt Befähigung zum Erfolg in all den wichtigen Unternehmungen ein, worin Geist gegen Geist im Kampf liegt.

... Bereiche jenseits der Grenzen bloßer Regel sind es, in welchen das Geschick des Analytikers sich erweist.

Not tut zu wissen, was zu beobachten ist.

Die konstruktive oder kombinative Kraft, in der Verstandesschärfe sich gemeinhin offenbart und der die Phrenologen (irrtümlich, wie mich dünkt) gar ein gesondertes Organ zugeschrieben haben, in der Meinung, es handle sich dabei um eine Art Urfähigkeit, ist so häufig bei solchen Individuen festgestellt worden, deren Intellekt andererseits an Idiotie grenzte, dass dies in der Fachliteratur allgemeine Aufmerksamkeit gefunden hat.

... jene Unendlichkeit geistiger Erregung, die von gelassener Beobachtung gewährt werden kann.

Die Wahrheit liegt nicht immer tief auf dem Grunde des Brunnens. In Betracht der weit wichtigeren Kenntnis glaube ich vielmehr, dass sie sich tatsächlich schlechthin an der Oberfläche befindet. (...) Bei ungebührlicher Gründlichkeit verwirren und schwächen wir das Denken; und es mag wohl durchaus geschehen, dass selbst die Venus vom Firmament verschwindet, richtet ein forschender Blick sich allzu gezielt, allzu konzentriert oder allzu direkt darauf.

Bei Nachforschungen, wie wir sie jetzt vornehmen, sollte gar nicht einmal so sehr gefragt werden "Was hat sich ereignet?", als vielmehr "Was ist dabei geschehen, das sich noch nie zuvor ereignete?"

Das Geheimnis um Marie Rogêt (1842)

Nichts ist unbestimmter als die Eindrücke, mit denen sich individuelle Identität verbindet. Jedermann erkennt seinen Nachbarn wieder, doch trifft es sich selten, dass einer dann auch imstande ist, einen Grund für dieses Wiedererkennen anzugeben.

Es ist die üble Praxis der Gerichte, Beweisführung und Verhör streng im Rahmen dessen zu halten, was dem Anschein nach unmittelbare Relevanz besitzt. Doch die Erfahrung hat gezeigt, und wahre Philosophie wird es stets beweisen, dass ein großer, vielleicht der überwiegende Teil der Wahrheit aus dem scheinbar Irrelevanten gewonnen wird. Im Geiste, wenn nicht gar nach dem Buchstaben dieses Prinzips, hat sich die moderne Wissenschaft entschlossen, mit dem Unvorhersehbaren zu rechnen. (...) Es ist nicht länger mehr philosophisch, das zugrunde zu legen, was vom Sichtvermögen einer früheren Zeit begrenzt wurde. Der Zufall ist als ein Teil des Unterbaus anerkannt worden.

Der gestohlene Brief (1845)

Die Mathematik ist die Wissenschaft von Form und Größe; mathematisches Denken ist lediglich eine auf die Beobachtung von Form und Größe angewandte Logik. Der große Irrtum liegt in der Annahme, dass die Wahrheiten dessen, was reine Algebra heißt, gar abstrakte oder allgemeine Wahrheiten seien. Und dieser Irrtum ist so faustgrob, dass ich bestürzt bin ob der Universalität, mit der er hingenommen wurde. Mathematische Axiome sind nicht Axiome allgemeiner Wahrheit. Was auf Verhältnisse - Form und Größe - zutrifft, ist oft ganz gröblich falsch im Hinblick zum Beispiel auf die Ethik. In dieser letzteren Wissenschaft ist es sehr häufig einfach unwahr, dass die addierten Teile gleich dem Ganzen seien. Auch in der Chemie stimmt das Axiom nicht. Und nehmen wir die Frage von Motivierungen: zwei Motive von je einem gegebenen Wert haben nicht notwendigerweise auch vereint einen Wert, welche der Summe ihrer Einzelwerte gleich wäre. Es gibt zahlreiche andere mathematische Wahrheiten, die einzig innerhalb der Grenzen der Verhältnisse Wahrheiten sind. Doch der Mathematiker schließt und folgert rein gewohnheitsmäßig aus seinen begrenzten Wahrheiten, als wären sie von absolut allgemeiner Anwendbarkeit - was sich die Welt ja tatsächlich auch von ihnen einbildet.

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Fragen
Am Meer, am wüsten, nächtlichen Meer
Steht ein Jüngling-Mann,
Die Brust voll Wehmut, das Haupt voll Zweifel,
Und mit düstern Lippen fragt er die Wogen:

"O löst mir das Rätsel des Lebens,
Das qualvoll uralte Rätsel,
Worüber schon manche Häupter gegrübelt,
Häupter in Hieroglyphenmützen,
Häupter in Turban und schwarzem Barett,
Perückenhäupter und tausend andre
Arme, schwitzende Menschenhäupter -
Sagt mir, was bedeutet der Mensch?
Woher ist er kommen? Wo geht er hin?
Wer wohnt dort oben auf goldenen Sternen?"

Es murmeln die Wogen ihr ewges Gemurmel,
Es wehet der Wind, es fliehen die Wolken,
Es blinken die Sterne, gleichgültig und kalt,
Und ein Narr wartet auf Antwort.
Heinrich Heine